Hört auf zu schweigen!

Psychische Gesundheit

Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten, politische sowie finanzielle Unsicherheit – diese aktuellen Ereignisse haben immensen Einfluss auf unsere mentale Gesundheit. Dennoch scheint in den meisten Unternehmen kaum über diese Themen und deren Auswirkungen gesprochen zu werden. Dieses Schweigen ist fatal, denn das psychische Wohlbefinden am Arbeitsplatz spielt eine entscheidende Rolle für den Erfolg eines jeden Unternehmens.

In meiner beruflichen Laufbahn und der Zusammenarbeit mit Unternehmen habe ich immer wieder festgestellt, dass das Thema psychische Gesundheit in vielen Organisationen ein Tabu bleibt. Diese Stille hat tiefgreifende Auswirkungen: nicht nur auf das Wohlbefinden der Beschäftigten, sondern auch auf die Produktivität und Innovationskraft der Unternehmen. Es scheint ein unausgesprochener Konsens zu bestehen, dass psychische Probleme privat zu halten sind, was die Belastung für Betroffene nur vergrößert und eine gesunde Unternehmenskultur verhindert.

Diese Schweigsamkeit hat nicht nur individuelle, sondern auch organisatorische Konsequenzen. In den letzten Jahren haben sich die Ausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen dramatisch erhöht: Zwischen den Jahren 2012 und 2022 konnte ein Anstieg von 48 Prozent verzeichnet werden, wie der DAK Psychreport aus dem Jahr 2023 zeigt. In Zeiten von Pandemie, Remote-Arbeit und Fachkräftemangel ist es also umso wichtiger, das vorhandene Personal gesund und motiviert zu halten. Das Ignorieren der mentalen Gesundheit ist somit nicht nur menschlich, sondern auch wirtschaftlich die falsche Entscheidung.

Auf Basis meiner Erfahrung, die sowohl die Perspektive von Unternehmen als auch die der Mitarbeitenden umfasst, möchte ich meine Erkenntnisse mit Ihnen teilen und Organisationen dazu aufrufen, neue Ansätze in der Kommunikation und im Umgang mit psychischer Gesundheit zu verfolgen. Es ist höchste Zeit, das vorherrschende Schweigen zu überwinden und eine Kultur zu etablieren, die von Verständnis und Offenheit geprägt ist.

Sprachlosigkeit und Stigmatisierung

Aus meiner Sicht ist transparente und wertschätzende Kommunikation eine grundlegende Säule für das Wohlbefinden am Arbeitsplatz. In unserer schnelllebigen und herausfordernden Arbeitswelt wird die Bedeutung einer solchen Kommunikation jedoch häufig übersehen. Während wir uns über körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen oder einen verstauchten Fuß ohne Zögern austauschen, herrscht bei Themen wie Stress, Ängsten oder ­Überlastung oft Sprachlosigkeit und Stigmatisierung. Eine offene ­Kommunikation wird durch diese Tabuisierung erheblich erschwert. In ­meinen Gesprächen mit Unternehmen wurde mir in den vergangenen Jahren klar, dass diese Haltung nicht nur das Wohlbefinden der Einzelnen beeinträchtigt, sondern auch die Unternehmenskultur insgesamt negativ prägt.

Die Folgen dieser Kultur des Schweigens sind auch finanziell spürbar. In den letzten Jahren sind die Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen rapide angestiegen. Laut DAK Psychreport liegt die Ausfalldauer hier bei durchschnittlich 37 Tagen, was zur Folge hat, dass die Kosten pro Krankheitsfall zwischen 10.000 und 15.000 Euro liegen. Diese Entwicklung, beeinflusst von Faktoren wie der Pandemie, politischen Krisen und Fachkräftemangel, unterstreicht die Notwendigkeit, das mentale Wohlbefinden des Personals ernst zu nehmen. Es ist sowohl aus menschlicher als auch aus wirtschaftlicher Sicht unklug, eine Kultur des Schweigens und der Stigmatisierung zu tolerieren.

Die Frage ist nun: Wie können wir diese Probleme angehen? Wie schaffen es Unternehmen, mentale Gesundheit zu einem Thema zu machen, mit dem offen umgegangen wird? Die Antwort liegt in der Transformation der Kommunikationskultur und in der Implementierung effektiver Strategien zur Förderung der mentalen Gesundheit am Arbeitsplatz.

In meiner beruflichen Laufbahn sowie Arbeit mit verschiedenen Unternehmen habe ich im Umgang mit dem Thema mentale Gesundheit einige Herangehensweisen beobachtet, die sich als ineffektiv und schädlich erwiesen haben. Diese Ansätze, die ich gerne als „Worst Practices“ bezeichne, sollten bei der Kommunikation und Förderung der mentalen Gesundheit unbedingt vermieden werden:

Fehlende oder unpassende Angebote: Eine gängige Problematik, auf die ich gestoßen bin, ist das Fehlen von adäquaten Angeboten zur Förderung der mentalen Gesundheit. Manche Unternehmen setzen gut gemeinte, aber letztlich unpassende Lösungen um, wie zum Beispiel die Einführung einer Meditations-App, statt in effektive Programme zur Stärkung der Führungskompetenzen zu investieren. Ein weiteres Beispiel sind klassische Employee-Assistance-Hotlines, die oft nur gering genutzt werden und dadurch ein schlechtes Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen.

Ineffektive Kommunikations- und Angebotsstrategien:  Eine mangelnde Kommunikation über vorhandene Angebote führt zu geringer Nutzung und fehlendem Bewusstsein unter den Mitarbeitenden. Angebote, die ausschließlich vor Ort sowie zu bestimmten Zeiten verfügbar sind, schließen Remote-Arbeitskräfte und Schichtarbeitende aus und erreichen damit nicht die gesamte Belegschaft. Hochschwellige Angebote, die kompliziert oder zeitaufwendig sind, tendieren dazu, Mitarbeitende eher abzuschrecken – genau wie ein Mangel an Transparenz in Bezug auf Datenschutz und Vertraulichkeit. Eine weitere Lücke sehe ich in der Abwesenheit von verpflichtenden Schulungen für Führungskräfte, die jedoch essenziell sind, um deren Rolle in der Förderung und offenen Kommunikation der mentalen Gesundheit zu stärken.

Die meisten Ansätze scheitern oft, weil sie nicht auf die tatsächlichen Bedürfnisse und Herausforderungen der Beschäftigten eingehen. Das Fehlen von gezielter Kommunikation und einer Atmosphäre des Vertrauens tragen wesentlich zu ihrem Misserfolg bei. Um diese Hindernisse zu überwinden, ist es für Unternehmen unerlässlich, ihre Strategien zur Förderung der mentalen Gesundheit sorgfältig zu planen und umzusetzen. Bei Evermood haben wir die Erfahrung gemacht, dass eine offene und wertschätzende Kommunikation das A und O für ein mentales Wohlbefinden am Arbeitsplatz ist. Gerade im Bereich der psychischen Gesundheit ist es essenziell, die oft herrschende Sprachlosigkeit zu durchbrechen und den offenen Dialog zu einem festen Bestandteil der Unternehmenskultur zu machen. Hier möchte ich einige Ansätze teilen, die wiederholt einen positiven Unterschied gemacht haben:

1. Kontinuierliche Sensibilisierung

Eine regelmäßige und kreative Kommunikation über Angebote zur psychischen Gesundheitsförderung ist unerlässlich. Durch eine intensive und offene Kommunikation von Prozessen und mit beratenden Personen wird das Thema mentaler Gesundheit sichtbarer und greifbarer gemacht — und der Stigmatisierung nach und nach entgegengewirkt.

Statt sich auf punktuelle Aktionen wie einen jährlichen Gesundheitstag zu beschränken, haben sich kontinuierliche, zielgruppenspezifische Maßnahmen als effektiver erwiesen. Durch die Implementierung von Themenwochen und Kampagnen für bestimmte Gruppen wie Eltern, ältere Mitarbeitende oder Auszubildende kann das Bewusstsein für psychische Gesundheit kontinuierlich gefördert werden. Kurze, in den Alltag integrierbare Formate wie drei- bis vierminütige Videos oder interaktive Workshops von zehn bis zwanzig Minuten sind außerdem besonders zugänglich und senken auf Dauer die Hemmschwelle, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

2. Anonyme Austauschformate

Die Bereitstellung anonymer Austauschformate für Führungskräfte und Mitarbeitende ist ebenfalls entscheidend. Diese Formate ermöglichen es, auch über sensible Themen wie Ängste, psychische Erkrankungen oder Sucht zu sprechen. Erfahrungsberichte, etwa von Führungskräften über ihren Umgang mit Burnout, sind dabei besonders wirkungsvoll. Sie schaffen ein Gefühl der Gemeinschaft und ermutigen andere, offen über ihre Erfahrungen zu sprechen.

3. Pflichtveranstaltungen für Führungskräfte

Führungskräfte spielen eine zentrale Rolle in jeder Unternehmenskultur. Durch Pflichtveranstaltungen, die ihnen das nötige Wissen und die Werkzeuge an die Hand geben, um die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz zu unterstützen, können sie als Vorbilder fungieren und zur Förderung einer offenen Kommunikationskultur beitragen.

4. Niederschwellige Angebote

Die Bereitstellung von niederschwelligen Angeboten, die jederzeit und überall zugänglich sind, ermöglicht es den Mitarbeitenden, unkompliziert Unterstützung zu finden. Kurze Formate und einfache Impulse sind effektiver als umfangreiche Seminare und dienen als erste Anlaufstelle zur Selbsthilfe. Aus diesem Grund haben wir in den letzten Jahren über 350 Kurzvideos entwickelt, die in unter fünf Minuten praxisnahes Wissen zu alltäglichen Herausforderungen wie dem Umgang mit Stress, psychischen Belastungen, Konflikten, Sucht oder Trauer geben. So können sich die Beschäftigten zunächst ein erstes Bild von ihrer Situation machen, bevor sie sich direkt an eine interne Beratung wenden.

Die Wahrung der Anonymität ist bei all diesen Angeboten von entscheidender Bedeutung. Sie gibt Mitarbeitenden die Gewissheit, dass ihre Anliegen vertraulich behandelt werden und fördert somit die Bereitschaft zur Teilnahme.

5. Wertschätzung in der Praxis

Die Integration wertschätzender Kommunikation in den Arbeitsalltag geht über das Aussprechen freundlicher Worte hinaus. Es geht darum, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich die Beschäftigten sicher fühlen, über ihre persönlichen Herausforderungen zu sprechen. Dies kann durch regelmäßige Check-ins, die Etablierung einer offenen Feedback-Kultur und die Ermutigung zum Austausch erreicht werden.

Wertschätzende Kommunikation darf nicht länger nur eine leere Floskel sein. Sie muss zu einer gelebten Praxis werden, in der jeder Mitarbeitende als Mensch wahrgenommen und geschätzt wird. Dies erfordert Mut und Engagement von allen Beteiligten – insbesondere von den Führungskräften, die als Vorbilder agieren müssen.

Die Kommunikation über mentale Gesundheit stellt also nicht nur eine Herausforderung dar, sondern bietet auch eine enorme Chance für Unternehmen. Indem wir die Sprachlosigkeit überwinden, können wir ein unterstützendes und empathisches Arbeitsumfeld schaffen, das sowohl das individuelle Wohlbefinden, als auch das Miteinander in der gesamten Organisation stärkt. Die Förderung einer offenen Kommunikation wirkt sich positiv auf die gesamte Unternehmenskultur aus und kann letztendlich zu einer gesteigerten Mitarbeiterzufriedenheit und Produktivität führen.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Tech. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Lara von Petersdorff

Lara von Petersdorff ist Gründerin der Work-Life-Plattform Evermood. Vor fünf Jahren gründete sie das Start-up aus dem Psychologischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität heraus. Sie unterstützt Konzerne, mittelständische Unternehmen, Verwaltungen und Startups bei der Umsetzung von modernen und nachhaltigen Personalentwicklungs- und Gesundheitsmaßnahmen. Evermood beschäftigt inzwischen mehr als 30 Mitarbeitende und gewann den HR Start-up Award 2022.

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