„Hier kann ich sein, wie ich bin“

Psychologische Sicherheit

Wer sich im Job psychologisch sicher fühlt, erfährt Wertschätzung und Vertrauen von anderen und muss keine Angst haben, sich lächerlich zu machen oder Fehler zuzugeben. Sondern hat eher das Gefühl, mit den Kolleginnen und Kollegen „Pferde stehlen zu können“. Professorin Ina Goller erklärt, woran man ein solches Umfeld erkennt und warum psychologische Sicherheit gerade in Zeiten des Wandels so bedeutsam ist.

Frau Professorin Goller, seit vielen Jahren bildet das Thema psychologische Sicherheit einen Schwerpunkt Ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Wie kam es dazu?

Ina Goller: Ich habe schon in ganz vielen Teams gearbeitet, auch als Jugendliche. Da fiel mir auf, dass Teams sehr unterschiedlich sind und manche gut, andere schlecht funktionierten. In meinem Psychologiestudium habe ich mich dann mit zwei Themen auseinandergesetzt, die mich schon immer fasziniert haben: Sozialpsychologie und Kognitionspsychologie.

Das hat mich dann zu meiner Forschungsfrage gebracht, die ich im Rahmen eines Maschinenbau-Doktorats an der ETH Zürich beantwortet habe: Gibt es soziale Faktoren, die harte Auswirkungen haben? Das hat mich über verschiedene andere Formen der Zusammenarbeitsmodelle zur psychologischen Sicherheit geführt.

Was verstehen Sie genau unter dem Begriff „psychologische Sicherheit“?

Ich beziehe mich auf die Wissenschaftlerin Amy Edmondson, die 1999 ihren ersten Artikel dazu geschrieben hat. Psychologische Sicherheit ist die gemeinsame Überzeugung in einem Team, dass man nicht bestraft oder beschämt wird dafür, eigene Ideen zu haben, Vorschläge zu bringen, Fragen zu stellen, Zweifel anzumelden, Fehler zuzugeben. Es geht darum, dass ich mich sicher fühle, dass die anderen mich nicht fertig oder lächerlich machen oder mich beschämen für Dinge, die ich sage oder tue. Sondern hier kann ich sein, wie ich bin.

Woran erkenne ich ein solches Team?

Aufgrund verschiedener Forschungsarbeiten können wir von drei Basiskennzeichen ausgehen, die trainierbar sind. Erstens: Spricht jeder in Team-Meetings ungefähr gleich häufig? Wie sind die Redeanteile verteilt? Gibt es Teammitglieder, die permanent reden und andere überhaupt nicht? Reden alle ungefähr gleich viel? Oft erkennt man den Chef oder die ­Chefin an den längsten Redezeiten.

Wenn man dies misst, dann bekommt man ein Gefühl dafür, wo das Team steht. Zweitens: Werden Meinungen und Standpunkte wirklich geäußert im gemeinsamen Team-Meeting? Also nicht die Meinung übers Wetter, sondern auch die kontroversen Standpunkte zu Arbeitsthemen. Wie viel persönlichen Mut kostet es, mit einer anderen Meinung zu widersprechen? Diskutieren die Teams die unterschiedlichen Perspektiven?

Das dritte Merkmal ist: Wie wird über eigene Fehler oder die Fehler anderer und über Verletzlichkeit gesprochen? Bei Edmondson gibt es noch eine weitere Kategorie: Um Hilfe bitten. Wir wissen aus sozialpsychologischer Forschung, dass bei Menschen, die sich gegenseitig helfen, auch die gegenseitige Wertschätzung zunimmt. Der andere Mensch wird für mich wertvoller, wenn er mir Hilfestellung gibt. Andere Effekte können eintreten, wenn jemand mir unaufgefordert Hilfe gibt. Dann kann der Eindruck entstehen, die Person überhöht sich.
Der Wandel der Arbeitswelt wird in vielerlei Hinsicht schneller, komplexer und unübersichtlicher. Die Unternehmen müssen sich unter enormem Druck darauf einstellen.

Bleibt die psychologische Sicherheit da nicht auf der Strecke?

Psychologische Sicherheit ist genau die Antwort auf die VUCA- und BANI-Welt. Komplexität heißt ja, ich kann nicht genau vorhersagen, was rauskommt. Ich muss in solchen Situationen viel lernen, ausprobieren, und auch viele Fehler machen. Die einzige Sicherheit, die ich in einer solch unsicheren Umgebung habe, ist, dass die anderen im Team mich nicht fertig machen, sondern mit mir in einem Boot sitzen. Diese Form des Arbeitens ermöglicht es uns, unbeschadet durch diese Zeiten zu kommen.

Wie wirkt sich psychologische ­Sicherheit konkret aus, gerade jetzt in Zeiten der großen Umbrüche?

Das Interessante ist, dass man wirklich bisher nur positive Effekte der psychologischen Sicherheit ­gefunden hat. Zum Beispiel steigen ­Mitarbeiterengagement und ­effektives Problemlösen, es entstehen mehr divergente Ideen. In der Konsequenz steigen Leistungs- und Innovationsfähigkeit, Schnelligkeit und Qualität von Entscheidungen nehmen zu. Es gibt weniger Friktion bei Change und bei Transformationen, weil viel ­transparenter gearbeitet wird. Es geht nicht darum, dass alles immer schön und toll ist. Es geht darum, dass ich mir sicher sein kann, mit den anderen im Team „Pferde stehlen“ zu können. Gerade in unsicheren Zeiten.

Schützen uns gute Beziehungen am Arbeitsplatz vor psychologischen Gefährdungen?

Grundsätzlich ja. Wenn zwischenmenschliche Beziehungen okay sind und psychologische Sicherheit im Team besteht, dann führt dies auch dazu, dass Machtspiele ausgehebelt werden und Beziehungen auf Augenhöhe entstehen. Dies bedeutet auch, dass wir wohlwollendes, kritisches Feedback zu uns selbst bekommen. Wir bekommen damit Hilfe, etwas über uns selbst zu lernen und uns weiterzuentwickeln. All das, was wir uns von New Work erhoffen und verwirklichen wollen, wird damit wahrscheinlicher.

Ist ein gemeinsames Verständnis, wie wir zusammenarbeiten wollen, wichtiger als die Qualifikation der einzelnen Teammitglieder?

Qualifikation ist immer wichtig. Natürlich gibt es eine gewisse Schwelle an Qualifikation, die man für den Job mitbringen muss. Wer würde schon wollen, dass beispielsweise Kernkraftwerke nur aus der Perspektive „Da ist noch so viel Lernpotenzial“ betrieben werden. In der psychologischen Forschung, zum Beispiel zu destruktiven Rollen im Team, hat man aber festgestellt: Man kann die bestqualifizierten Leute im Team haben. Dies nützt nur etwas, wenn Wissen geteilt wird. Dies wiederum passiert nur, wenn im Team zusammengearbeitet wird.

Ansonsten reden wir über ungenutztes und ungeteiltes Wissen. Die Expertise und das Können sind zwar im Einzelnen vorhanden, aber für das Team und die Organisation nicht. Aus der Beinahe-Unfallforschung, zum Beispiel in der Flugzeugindustrie, Kernkraftindustrie oder Krankenhäusern, weiß man: Wenn Wissen nicht geteilt wird, passieren Fehler. Einzelwissen nutzt nichts, wenn es nicht geteilt wird. Daher ist die Kombination von Fach- und Sozialkompetenz so wichtig.

Was sollte HR daraus schlussfolgern, zum Beispiel in Bezug auf die Nachfolgeplanung von Schlüsselpositionen?

Wenn man die Forschungsergebnisse ernst nimmt, dann müssten HR-Fachleute die Sozialkompetenzen als wichtige Einstellungskomponente berücksichtigen. Für eine Einstellung oder auch eine Beförderung kämen also alle Bewerber und Bewerberinnen infrage, die das passende Niveau an Fachkompetenz mitbringen. Über die ­Besetzung aus diesem Pool entscheidet dann aber die Befähigung, mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten. Damit wird sichergestellt, dass das vorhandene Wissen und die Kompetenz auch praktisch nutzbar werden.

Welche Erfahrungen haben Sie selbst mit psychologischer Sicherheit gemacht?

Ganz unterschiedliche. Ich habe ganz viele positive Beispiele erlebt, genau deshalb bin ich ja so begeistert. Ich erlebe auch, wie schwierig es manchmal ist, gerade in guten Teams, den nächsten Schritt zu tun. Im letzten Forschungsprojekt waren wir eine Gruppe von fünf Menschen, aus unterschiedlichen Disziplinen kommend. Insgesamt haben wir uns gut verstanden, allerdings hat sich mit der Zeit eine Art „Wir mögen uns und nehmen viel Rücksicht aufeinander“-Kultur eingestellt.

Dies hatte den Nebeneffekt, dass auf nicht erledigte Aufgaben sehr verständnisvoll reagiert wurde – und gleichzeitig sind sie natürlich nicht erledigt worden. Was wiederum zu Verzögerungen geführt hat und so weiter. Ich denke, man kann es sich vorstellen. Letztendlich war keiner so recht glücklich damit, aber wir haben alle Mut gebraucht, die negativen Effekte einer an sich guten Umgangsweise anzusprechen. Nach einer feedbackintensiven Sitzung haben wir gemeinsam Verbesserungsideen abgeleitet und konnten so unsere Zusammenarbeit wesentlich verbessern.

Manche Teams müssen auf Knopfdruck zur Höchstleistung fähig sein, zum Beispiel in Rettungs- oder Kriseninterventionsteams. Da ist keine Zeit für Diskussion oder zum Ausloten der gegenseitigen Befindlichkeiten.

Das stimmt. In der Krisensituation ist es wenig sinnvoll, zuerst eine ­Besprechung einzuberufen, in der alle Teammitglieder grundsätzlich ­die Zusammenarbeit klären wollen. Ich nehme als Beispiel gerne die Feuerwehr. Feuerwehrteams üben bestimmte Abläufe immer wieder und lernen aus Fehlern.

In dieser Welt ist die Retrospektive, das Review wichtig. Wie haben wir zusammengearbeitet und wo haben wir Lücken gelassen? Haben wir Fehler gemacht oder vermieden? Wo war unsere Kommunikation hilfreich, was können wir nächstes Mal besser machen? Das wird minutiös auseinandergenommen. Da wünsche ich mir, dass Teams in der Wirtschaftswelt sich etwas abschauen und nicht nur den Fokus auf den Output legen, sondern auf die Prozesse und damit auf langfristige Ergebnissicherung.

Ist es gut oder schlecht gelaufen und warum? Was war der Beitrag der einzelnen Personen? Haben wir es so gut gemacht, dass wir es noch mal so machen? Das stabilisiert die psychologische Sicherheit, das Selbstbewusstsein und die Leistungsbereitschaft.
Zusätzlich gibt es in diesen Teams neben der formalen Hierarchie auch eine Kompetenzhierarchie. Die einzelnen Fachleute entscheiden in ihrem Verantwortungsbereich frei, genau weil sie in dieser Beziehung das Wissen und die Kompetenz besitzen, die bestmögliche Entscheidung bei teils unklarer Faktenlage zu treffen.

Sie beschäftigen sich schon lange mit dem Thema, es ist also gar nichts Neues. Warum wird ­psychologische Sicherheit gerade jetzt im Zusammenhang mit New Work verstärkt diskutiert?

New Work ist ja auch ein schon länger bestehendes Konzept aus den 1980er Jahren. Hieran kann man erkennen, wie lange etwas manchmal braucht, bis es wirklich gut funktioniert beziehungsweise sich durchsetzt. Dies spielt bei psychologischer Sicherheit natürlich auch eine Rolle. Wissenschaftliche Erkenntnisse brauchen meist einige Zeit, bis sie im Mainstream unserer Gesellschaft angekommen sind. Zudem geht es in diesem Konzept ja nicht nur um Wissen, sondern um das praktische Können und Umsetzen. Wir haben also eine Verlangsamung der Verbreitung, weil Menschen psychologische Sicherheit erlernen müssen. Heute hat das starke Interesse an psychologischer Sicherheit mit Unsicherheit und den Folgen zu tun.

Wir wissen, es gibt in der Wirtschaftswelt zurzeit keine Linearität im Gegensatz zu früheren stabilen Zeiten. Hinzu kommen Globalität, permanenter Informationszugang und die Pandemie-Erlebnisse sowie für uns negative Veränderungen wie Klimawandel. Wir merken, unsere Welt ist nicht mehr ganz so sicher vorhersagbar, sondern wir müssen eigene, individuelle Entscheidungen treffen und uns selbst orientieren. Man sagt ja, wenn die Welt unsicher ist, dann leben Gurus auf. Psychologische Sicherheit ist eine Möglichkeit, die eigene Umgebung gemeinsam gestalten zu lernen. Anstatt anderen blind zu folgen, nutzen wir mit psychologischer Sicherheit unsere eigenen Gehirne und auch unsere emotionalen Fähigkeiten.

Über die Gesprächspartnerin:

Ina Goller ist diplomierte Psychologin mit den Schwerpunkten Arbeits- und Organisations- sowie Kognitionspsychologie. Sie promovierte an der ETH Zürich in Maschinenbau und Verfahrenstechnik und ist Professorin für Innovationsmanagement an der Berner Fachhochschule. Mit Begeisterung vereint sie ihre Interessen für Psychologie und Innovation. Mit dieser Verbindung ist Goller eine gefragte Expertin zu Themen wie psychologische Sicherheit, Change und Teamarbeit. Neben ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit berät sie Unternehmen und leitet Praxisprojekte zur psychologischen Sicherheit.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Emotionen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Sabine Schritt ist leitende Redakteurin beim Human Resources Manager.

Sabine Schritt

Sabine Schritt ist leitende Redakteurin des Magazins Human Resources Manager. Sie war zuvor 25 Jahre als freie Journalistin tätig. Nach verschiedenen Stationen im Tagesjournalismus und bei Ratgeber- und Lifestyle-Publikationen, beschäftigt sie sich seit über 15 Jahren intensiv mit Themen rund um die Arbeitswelt, HR und Führung. Die gebürtige Kölnerin war zudem bis 2012 stellvertretende Chefredakteurin des Schweizer Fachmagazins HR Today in Zürich. Anschließend war sie zehn Jahre als freie Redakteurin für das Fachmagazin Personalführung tätig. Sabines besonderes Interesse gilt den Aspekten:  Zusammenarbeit, Kommunikation, digitale Transformation, Kulturwandel in Unternehmen, Rollenverständnis von HR, Persönlichkeitsentwicklung.

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