Die rationale Kraft des emotionalen Erlebens

Personalentwicklung

Wenn es in der Arbeitswelt von früher darum ging, handwerkliche Fertigkeiten zu entwickeln, und später darum, kognitive und intellektuelle Kompetenzen, dann liegt der Schlüssel für individuelle und organisationale Performance heutzutage in der kompetenten Integration und im Management von Emotionen. Tatsächlich haben Emotionen überall da ihren Platz, wo Menschen miteinander in Interaktion treten – besonders wenn mit Engagement und Einsatz gearbeitet wird. Menschen verfolgen Ziele, tragen Konflikte aus, erleben bisweilen Enttäuschungen, aber auch Freude über das Erreichen von wichtigen Meilensteinen. Die Bedeutung von Emotionen nimmt in dem Maße zu, wie Entwicklungen in der Umwelt uns als Menschen zunehmend berühren und betroffen machen. Denken wir an die Coronapandemie oder an die jüngeren Ereignisse wie den Krieg in der Ukraine und die galoppierende Inflation in Deutschland. Der Hirnforscher António Damásio sagte einst: „Emotionen sind kein Luxus“, sondern vielmehr: ein komplexes Hilfsmittel und der Motor unseres Denkens. Anders formuliert: Emotionale Kompetenz ist kein Luxus, sondern eine notwendige Fähigkeit für erfolgreiche Zusammenarbeit und gute Führung.

Eine gelingende Zusammenarbeit beruht auf Empathie, dem Erleben von Zusammengehörigkeit, einer gemeinsamen Unternehmenskultur und gegenseitigem Verständnis. Wenn Organisationen Vielfalt und Inklusion ernst nehmen, müssen sie die Kompetenz zum Umgang mit (und Integration von) Vielfalt fördern. Führungskräften kommt eine besondere Verantwortung und Vorbildfunktion zu. Mit bewusst entwickelter emotionaler Kompetenz sind sie in der Lage, den Austausch mit Kontroversen im Team zu moderieren und den Mehrwert von wirklicher Inklusion zu erzielen. Emotional kompetente Führungskräfte können für psychologische Sicherheit in ihren Teams sorgen und helfen dadurch bei der Entfaltung des vollen Leistungspotenzials. Emotionen helfen Mitarbeitenden dabei, den Raum sozialer Interaktion und geteilter Werte kompetent zu navigieren. Dadurch tragen sie zu besserer Zusammenarbeit und klügeren Entscheidungen bei. Für HR bedeutet dies, dass für die Förderung von Karrieren und Talenten eine zielgerichtete Entwicklung eines geschulten emotionalen Bewusstseins ebenso wichtig ist wie der Ausbau von kognitiven Kompetenzen.

Emotionen machen schlau

Emotionen hängen eng mit unseren Überzeugungen zusammen. Sie bedingen, was wir wahrnehmen und welche Urteile wir fällen, indem sie unsere Aufmerksamkeit steuern. Der Zusammenhang zwischen Körper und Geist, der unseren menschlichen Emotionen zu eigen ist, legt nahe, dass es ein spontan und vor-bewusst ablaufendes Bewertungssystem geben muss, das Reize vor-bewertet und körperliche Empfindungen auslösen kann. Die moderne Hirnforschung erlaubt uns einen neuen Blick darauf, ob uns vor-bewusst ablaufende Programme im Alltag helfen können. Schließlich gehören sie zu unserer menschlichen „Hardware“.

Die Psychologen John Marshall und Peter Halligan zeigten in einem Experiment aus dem Jahr 1988, dass der Mensch kompetente und wirkungsvolle Bewertungen anstellt, ohne dass höhere (bewusste) kognitive Prozesse daran beteiligt sein müssen. In dem Versuch konnten Menschen mit einer neuronalen Form von partieller Blindheit emotional getönte Symbole, wie beispielsweise Flammen, erfassen – sozusagen aus dem „Rauschen“ ihrer Wahrnehmungen herausfiltern.

Dieses Experiment macht deutlich, dass wir uns bei Bewertungen auf unser emotionales System stützen. Wir alle haben Ähnliches im beruflichen Alltag erlebt, zum Beispiel, wenn uns in einem Meeting das Gefühl beschleicht: Hier stimmt etwas nicht!

Damasio entdeckte ein weiteres Bewertungsprogramm, die sogenannten Second-Level-Emotionen, die auf neuro­naler Ebene unser Denken und Urteilsvermögen mit affektiven Mustern vebinden – kurz: unser logisch, analytisches Emotionssystem. Die berühmte These des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman über die Existenz von zwei Denksystemen – das langsame und das schnelle Denken – spiegelt eine ähnliche Systematik zwischen den automatischen, intuitiven und den bewussten, logischen Prozessen im menschlichen Denken wider.

Keine Emotionen – keine Entscheidungen

Emotionen helfen uns, in komplexen Situationen schlaue Entscheidungen zu treffen. In seiner Theorie zur Bedeutung der Verbindung von Emotionen und Urteilsvermögen untersuchte Damasio die Zusammenhänge anhand seines Modell-Patienten Elliot: Elliot lieferte völlig unauffällige Ergebnisse im Bereich kognitiver Intelligenztests, war jedoch kaum in der Lage, Alltagsentscheidungen zu treffen, konnte keinen Job ausüben oder menschliche Beziehungen pflegen. Elliot war beispielsweise nicht in der Lage, unter zwei faktisch gleichwertigen Terminvorschlägen zu entscheiden. Grund war eine krankhafte neurologische Veränderung. Elliot fehlte die rationale Kraft des emotionalen Erlebens, um verschiedenen Handlungsoptionen oder zwischenmenschlichen Verpflichtungen einen differenzierenden Wert zuschreiben zu können.

Eine solche Unfähigkeit zum emotionalen Erleben ist in komplexeren Lebensbereichen dysfunktional. Einerseits wären wir ohne Emotionen schlicht nicht mehr in der Lage, persönliche und berufliche Entscheidungen zu treffen, andererseits sind unsere Emotionen nicht immer der beste Ratgeber. Eine weitere Anekdote Damasios verdeutlicht dies: Elliot sollte zu Untersuchungen auf den Campus der Uni­klinik kommen, und zwar an einem kalten Tag mit Glatteis auf den Straßen. Während Elliot beobachtete, wie andere Autos reihenweise im Straßengraben landeten, fuhr er selbst in Ruhe weiter und befolgte strikt das Programm „nicht bremsen, nur gegenlenken“. Die Emotionen der anderen Autofahrer führten diese sprichwörtlich aufs Glatteis, weil sie aus Angst oder Schreck unvermittelt bremsten.

Vergleichbare Effekte in emotional geladenen Kontexten, wie Krisensituationen, in denen Menschen exakte ­Programme befolgen müssen, die unter Umständen sogar kontraintuitiv erscheinen, sind anzunehmen. Wird das berücksichtigt und gesteuert, können die überwiegenden Vorteile, die Emotionen in der komplexen Arbeitswelt von heute für uns haben, genutzt werden. Denn sie helfen uns dabei, Wahrnehmungen, Bewertungen und Urteile zu ordnen, um aus der Fülle unseres Bewusstseinsstroms die relevanten Informationen und Fakten herausfiltern zu können. Der kanadische Philosoph Ronald de Sousa hat in seinem Buch The Rationality of Emotion den Zusammenhang zwischen Rationalität und Gefühlen untersucht und formuliert dazu sehr treffend: Emotionen stellen uns die Fragen, die unser Urteilsvermögen beantwortet. Und wer Meetings geleitet hat, weiß, dass Fragen zum großen Teil schon den Raum für mögliche Antworten modellieren. Die Fähigkeit, diesen Raum auszugestalten, nennen wir emotionale Kompetenz. Wer Emotionen bewusst erleben kann, ist in der Lage, über Lernprozesse immer wieder Kongruenz zwischen Fühlen und Fakten herzustellen und die Kraft des emotionalen Erlebens für sich zu nutzen. Im beruflichen Kontext kann dies beispielsweise durch emotional kompetente Führungskräfte erfolgen, die ihren Teams dabei helfen, wirksamer und besser zusammenzuarbeiten.

Sechs Dimensionen zur ­Nutzbarmachung von Emotionen:

  1. Emotionen als Chance: eine offene Grundhaltung gegenüber Emotionen und die aktive Thematisierung emotional konnotierter Situationen im Führungsalltag, um die Beziehung zu den Mitarbeitenden zu stärken.
  2. Emotionales Bewusstsein: das Wissen über die Vor- und Nachteile von Emotionen, um in die Haltung einer aktiven Steuerung zu gelangen anstelle von Vermeidungsstrategien.
  3. Coachingkompetenzen: die proaktive Unterstützung der Mitarbeitenden durch coachende Gespräche, die lösungsorientierte Fragen und Ressourcenorientierung einschließen, mit dem Ziel, die psychologische Sicherheit und Leistung im Team zu fördern.
  4. Sensibilität für Vielfalt: die bewusste Steuerung individueller Aspekte und Beziehungen in der Führungsarbeit unter Berücksichtigung von Vielfalt, emotionaler Kompetenz und externer Einflussfaktoren.
  5. Breaking the BTA-Bias: Durch den „Better than Average Bias“ überschätzen Führungskräfte die Kompetenzen in ihrer eigenen Rolle systematisch. Umso wichtiger ist die realistische Selbsteinschätzung und die aktive Weiterentwicklung der eigenen Fähigkeiten durch Trainings und Feedback.
  6. Professionelle Begleitung: das Wissen und die Akzeptanz um die Grenzen der eigenen Kompetenz sowie die aktive Hinzunahme externer Unterstützung, um die eigenen emotionalen Kompetenzen zu stärken.

Superkraft emotionale Kompetenz

In einer Welt, die von zunehmenden Krisen und Konflikten geprägt ist und in der andererseits zunehmend Menschen mit ihrer persönlichen Geschichte gesehen werden sollen, im Sinne von Vielfalt und Inklusion, stehen Organisationen vor einer großen Herausforderung: Führungskräfte müssen sowohl in der Lage sein, Angst und Traurigkeit in Momente der Kraft und Veränderung zu verwandeln sowie über positive Einflussnahme eine offene und sichere Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Wenn es gelingt, eine coachende und unterstützende Beziehung aufzubauen, hat dies positive Auswirkungen auf die psychologische Sicherheit und auf die Leistungsfähigkeit des Teams.
Diese Effekte sehen wir in einer aktuellen Studie über die Steuerungsmöglichkeiten von negativen Emotionen in der Führungsarbeit mit über 200 Teilnehmenden bestätigt, in der die Zusammenhänge zwischen emotionalem Erleben, emotionaler Kompetenz, psychologischer Sicherheit und High Performance im Team untersucht wurden. Die Erkenntnisse unterstützen die Annahmen, dass die Offenheit gegenüber positiven wie negativen Emotionen im Team und die Unterstützung im Umgang mit erlebten Emotionen durch die Führungskraft in einem positiven Zusammenhang mit der psychologischen Sicherheit und der wahrgenommenen Teamleistung stehen. Dazu kommt: Das Maß der emotionalen Kompetenz geht mit einer geringeren Häufigkeit negativer Emotionen einher.

Bewusst gesteuert, können Emotionen eine immense Dynamik und Kraft für Veränderungen und Problemlösungen entfalten. Insbesondere, wenn emotionale Kompetenzen wie Konfrontationsbereitschaft und Resilienz für die Konfliktlösung in Teams eingesetzt werden.

Die Stärkung von emotionaler Kompetenz und die Vermittlung von grundlegenden Coaching-Skills bei Führungskräften fördern zudem die Angleichung individueller, leistungsrelevanter Faktoren. Die Berücksichtigung der Individualität des emotionalen Erlebens in der Führungsarbeit kommt auch der Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen zugute – für die sich unterschiedliche Herausforderungen im Umgang mit Emotionen ergeben. Diesen Schluss legt die Auswertung der Studie nahe. Eine proaktive Steuerung der emotionalen Kompetenzen von Führungskräften trägt demnach dazu bei, das Mitarbeiterengagement und die Chancengleichheit zu stärken sowie Fluktuation zu verhindern. HR-Abteilungen sind daher aufgerufen, praktische Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, um Führungskräfte dabei zu unterstützen, sich entlang von sechs Dimensionen (siehe Kasten) zu entwickeln und laufend zu verbessern.

Lesen Sie online mehr über die ­Studie Effekte und Steuerungsmöglich­keiten von negativen Emotionen in der ­Führungsarbeit.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Emotionen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Kristina Schinz

Kristina Schinz ist systemische Business Coachin, Gründerin von Occupath und Absolventin der Quadriga Hochschule Berlin des MBA Leadership & Coaching. Schinz ist Autorin der Studie Effekte und Steuerungsmöglichkeiten von negativen Emotionen in der Führungsarbeit (unveröffentlichte Master-Thesis bei der Quadriga Hochschule Berlin).

Sebastian Harrer

Sebastian Harrer hat Abschlüsse in Philosophie und International Business. In seiner Doktorarbeit befasste er sich vertieft mit dem Zusammenhang von Emotion und Motivation. Er ist Honorarprofessor für Personalmanagement an der Cologne Business School und als systemischer Business Coach und Gründer der Unternehmensberatung Epic People tätig. Zuvor war er Personalleiter u. a. bei der ING Deutschland. Harrer ist Beiratsmitglied der Quadriga Hochschule im MBA Leadership, People & Culture.

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