Ursula Mertens: Die Unverstellte

Porträt

Ursula Mertens blickt in Richtung des Angeklagten: „Ich habe als Richterin schon vieles Unerträgliches erlebt.“ Seit mehr als 25 Jahren führt die 60-Jährige Prozesse. „Aber dieses Verfahren stellt alles in den Schatten“, sagt die Juristin, während sie in schwarzer Robe neben den vier Richterinnen und Richtern des Staatschutzsenats steht. Sie verurteilt den rechtsextremen Attentäter zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Es ist der 21. Dezember 2020 und 36 Journalistinnen und Journalisten sitzen mit im Gerichtssaal und zitieren ihre prägnanten Sätze. An diesem Tag endet ein monatelanger, kräftezehrender Gerichtsprozess. An insgesamt 27 Prozesstagen wurden 82 Zeuginnen und Zeugen und elf Sachverständige befragt, darunter 46 Nebenkläger. Es wurde geweint, gelitten, stundenlang ohne Pause verhandelt.

Die Tat

Ein Jahr zuvor hatte der Attentäter seine selbst gebauten Waffen, Sprengsätze und Brandflaschen aus dem Bettkasten seines Jugendzimmers genommen und war in schwarzer Kampfmontur zur vollbesetzten Synagoge im Paulusviertel in Halle gefahren, der größten Stadt Sachsen-Anhalts. Zu dem Zeitpunkt beteten 51 Jüdinnen und Juden in dem Gotteshaus; sie begingen Jom Kippur (hebräisch: „Tag der Versöhnung“), den heiligsten Feiertag im jüdischen Kalender. Der Rechtsterrorist versuchte, in das Gotteshaus einzudringen, scheiterte jedoch an der Eichenholztür, die den Sprengsätzen und Schüssen standhielt – und so einen Massenmord verhinderte. Der aufgebrachte Täter erschoss daraufhin die Passantin Jana Lange und wenig später den 20-jährigen Kevin Schwarze, einen Malergesellen, der im Imbiss „Kiez Döner“ gerade auf sein Mittagessen gewartet hatte. Der Täter, dessen perfider Hass allen Nicht-Weißen gilt, hielt ihn für einen Muslim. Immer wieder schoss der Attentäter auf Menschen, die nur überlebten, weil seine Waffen Ladehemmungen hatten. Seine grausamen Aktionen übertrug er über eine Helmkamera live im Internet. Als das Video im Gerichtssaal gezeigt wurde, habe er gegrinst, schreiben Prozessbeobachter.

Die Geschichte der Opfer

Die emotionale Kälte des Angeklagten treffe sie zutiefst, sagt die Vorsitzende Richterin schließlich in der Urteilsbegründung und richtet das Wort an den schmalen, kahlgeschorenen damals 27-Jährigen: „Sie sind antisemitisch, Sie sind ausländerfeindlich, Sie sind menschenfeindlich.“ Das Urteil hat sich Mertens stichpunktartig aufgeschrieben, auf rund 25 Seiten. Sonst macht sie das nicht, aber diesmal war ihr das wichtig, um die Fassung zu behalten. Dennoch hat sie in den zwei Stunden freigesprochen. In kurzen Momenten wird sie mit den Tränen ringen. Als sie den Vater des getöteten Kevin Schwarze anspricht, versagt ihr laut Medienberichten die Stimme. Ursula Mertens bewertet nicht in juristisch-trockener Manier Motiv und Tat, sie erzählt die Geschichte der Opfer. „Kevin Schwarze hat erreicht, was Sie in 27 Jahren nicht geschafft haben“, sagt sie zum Beispiel zum Angeklagten. Anders als der Getötete hatte dieser nämlich keine Arbeit, keine Freunde, keine Partnerschaft – nichts außer die gruseligen Schluchten des Internets, in denen er sich in rechtsterroristischen Netzwerken in Verschwörungsideologien verhedderte. Die Richterin führt sein Versagen vor und zeigt gleichzeitig größte Empathie mit den traumatisierten Opfern seines Verbrechens.

Die Resonanz der Medien

„Halle-Urteilsbegründung unter Tränen: Die menschliche Richterin“, schreibt später das RedaktionsNetzwerk Deutschland über diesen Tag im Winter. „Einfühlsam und schlagfertig im Halle-Prozess“, beschreibt sie RTL.de. „Die Richterin schreibt gerade Rechtsgeschichte“, verkündet die Süddeutsche. Doch eigentlich richtet Justitia, die römische Göttin der Gerechtigkeit, blind – also ohne die Person zu betrachten. Sie trägt ihre Augenbinde als Symbol für ihre Unparteilichkeit. Sei neutral, sei unabhängig, sei unbefangen und gerecht, das sind die Imperative des Berufsstands. Wo finden in diesem Korsett Emotionen wie Mitgefühl, Erschütterung, Entsetzen, Trauer oder Empörung in der Seele einer Richterin oder eines Richters Platz? Und wann dürfen sie ans Licht? „Für mich gehören Emotionen zur Wahrheitsfindung dazu“, sagt Mertens heute, drei Jahre nach dem Prozess. Sie sitzt in ihrem Büro am Oberlandesgericht Naumburg, 60 Kilometer entfernt von Halle – dem Ort des Geschehens und auch ihrem Zuhause – und ist per Video zugeschaltet. Helle Bluse, schwarz-weißes Seidentuch, dezente Brille. Die gebürtige Rheinland-Pfälzerin, die ab 1982 im nordrheinwestfälischen Bonn studiert hat, lebt und arbeitet seit rund 30 Jahren in Sachsen-Anhalt.

„Ich komme aus einer großen Familie, dort wurde viel geredet, viel verhandelt, viel gestritten und sich wieder vertragen. Das hat mich geprägt.“ Die Jura-Studentin hatte damals schon einen großen Freundeskreis. Sie mag das Aushandeln, das In-Kontakt-Kommen mit den Menschen. Hierarchien sind nicht ihr Ding. Nach dem zweiten Staatsexamen und Referendariat in Koblenz bewarb sie sich schließlich als Assessorin, also als Richterin auf Probe, im Osten der Republik. Über ein paar Umwege landete sie beim Strafrecht. 13 Jahre lang ist sie schließlich Vorsitzende der großen Strafkammer am Landgericht Halle. Nach ihrer Bewerbung als Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Naumburg 2017 zieht sich das Auswahlverfahren über zwei Jahre hin. „Einige Medien schrieben, ich wurde 2019 extra für den Prozess geholt. Aber so war das nicht, es war Zufall“, erklärt sie. Nach kurzer Zeit im Amt beginnt also ihr erster großer Staatsschutzprozess.

Ein emotionaler Marathon

Zu Prozesszeiten musste sie die 100 Kilometer von Halle nach Magdeburg fahren, denn nur dort bot der Gerichtssaal ausreichend Raum für die rund 150 beteiligten Menschen. Ursula Mertens möchte den Opfern eine Bühne geben: Alle Nebenklägerinnen und Nebenkläger, die dazu bereit sind, werden angehört. Sie hätte die Beweisführung auch schlanker gestalten können, doch das wollten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen nicht. Da war eine leise Hoffnung: Vielleicht ändern die Schilderungen dieser Einzelschicksale etwas beim Täter?

Prozessbeobachter bewundern ihre eleganten rhetorischen Stilwechsel zwischen Empathie und Autorität. Sie befragt den Angeklagten geschickt, begrenzt ihn scharf, wenn er zu weit geht, sich etwa rassistisch äußert. Sie hat den Saal im Griff, ohne dabei unnahbar zu wirken. „Zupacken den Pragmatismus“, nennt das die SZ-Journalistin Annette Ramelsberger. Im Gegenteil zu einigen Kollegen ließe die Richterin nicht jedes Mal alle im Saal aufstehen, wenn das Gericht eine Pause anberaumt – und es gibt viele Pausen. „Ich finde wichtig, dass zu Beginn der Verhandlung alle einander Respekt zollen, indem sie aufstehen. So kommen die Leute zur Ruhe“, sagt Mertens. Doch diese Gymnastik müsse nun nicht bei jeder Kleinigkeit – Unterlagen werden gesucht, Technik funktioniert nicht – vollzogen werden. „Meine Würde hängt nicht davon ab, dass sich die Leute
vor mir erheben.“ Auch als Prozessteilnehmer ein jüdisches Lied im Saal anstimmen, lässt sie dies zu.

Zeithistorische Forschung

Ursula Mertens weiß, wie wichtig diese Verhandlung ist, und trifft eine unkonventionelle Entscheidung: Anders als in Terrorismusprozessen wie um den NSU oder den Fall Walter Lübcke wird dieses Verfahren dokumentiert. Die Nachwelt soll aus ihm lernen. Ein Prozess-Mitschnitt liegt im Archiv, in 30 Jahren sind die Dateien dann zu Forschungszwecken öffentlich zugänglich. Zwei Aktivisten und ein Politikwissenschaftler haben sich die Arbeit gemacht und jeden einzelnen Verhandlungstag schriftlich auf mehr als 1.000 Seiten protokolliert: Der Halle-Prozess: Mitschriften erschien schließlich in einem Leipziger Verlag. Der MDR Sachsen-Anhalt lässt sein Medienpublikum außerdem durch die siebenteilige Podcast-Doku Das Leben danach – Das Attentat von Halle hautnah am Prozess teilhaben und beleuchtet das Geschehen aus allen Perspektiven.

Darin kommt auch die Nebenklägerin Christina Feist zu Wort. Sie saß damals in der verriegelten Synagoge und bangte um ihr Leben. Am Tag der Urteilsverkündung steht sie auf der Grünfläche vor dem Gerichtsgebäude und hält auf einer Mahnwache eine bewegende Rede. Zwei Betroffene seien nicht zu ihrem Recht gekommen. Ihre Anwältin ergänzt, dass das Gericht versäumt habe, die Kontinuitäten von Antisemitismus und Rassismus in unserer Gesellschaft zu benennen. Es wurden keine Verbindungen zu ähnlichen Straftaten hergestellt, kein gesellschaftlicher Kontext geschaffen und nicht auf die Terrornetzwerke im Internet eingegangen.

Mertens fiel die Verfahrensleitung nicht leicht. „Diese ganzen tragischen Lebensgeschichten, die Traumata, das Leid strömten auf mich ein“, erinnert sie sich. Im Saal haben sich viele noch zusammengehalten, auf dem Flur seien sie dann in Tränen ausgebrochen. „Diese Monate waren sehr fordernd, auch körperlich anstrengend.“ Das Team habe sie getragen. „Wir haben alle zusammengehalten, angefangen bei den Wachtmeistern, den Protokollführerinnen, den Richtern und Verwaltungsangehörigen.“ Das alles war eine immense Teamleistung, wie sie immer wieder betont. Auch privat war der Austausch intensiv. Freundinnen und Wegbegleiter, allem voran der Ehemann, haben sie unterstützt. „Ich brauche diesen Rückhalt, mir ist das wichtig“, sagt die Juristin. Freizeitaktivitäten wie Sport, Kochen und Waldspaziergänge verhelfen ihr in ihrem Beruf zu einer gesunden Sozialhygiene, wie sie es nennt.

Heutzutage sei es noch verbreitet, sich als singulären Macher darzustellen, als Person, die niemanden braucht, erzählt sie. „Man ist als Richterin oder Richter einsam, man bekommt kein Feedback. Ich habe mir jedoch immer gesagt: Wenn ich mich verstelle, kann ich nur verlieren. Ich bin dazu auch gar nicht imstande. Meine Arbeit ist viel zu hart, um Energie in eine neutrale Sphinx-ähnliche Haltung aufzuwenden, das will ich nicht.“ Sie hat die Erfahrung gemacht, dass sie mit den Erfordernissen des Berufs am besten klarkommt, wenn sie sich so verhält, wie sie wirklich ist. Mit freundlicher Zugewandtheit. Sobald sie merkt, dass ihre für die Wahrheitsfindung nötige Distanz in Gefahr gerät, macht sie eine Pause, einen Cut. Das war auch im Halle-Prozess so. Hat sie die ganzen Medienberichte zum Prozess, und damit über ihre Arbeit, gelesen? Eher nicht. Sie habe eher versucht, den Rummel auszublenden.

Sie wolle nicht unbedingt im Rampenlicht stehen. Aber ein paar Artikel haben ihr die beiden Pressesprecher dann doch vorgelegt und sie hat sich über das Wohlwollen gefreut: „Endlich stand die Justiz mal nicht in so einem schlechten Licht da“, sagt sie. „Ich möchte, dass die Leute denken: Mensch, die geben sich wirklich Mühe. Sie haben ein Ziel. Das Ziel, die Gesellschaft zu stärken.“ Und damit dies gelingt, sei ihr ein menschlicher Ansatz wichtig. Sie schaut ruhig in die Kamera: „Eine Richterin ist eben keine Maschine.“

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Emotionen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Jeanne Wellnitz (c) Mirella Frangella Photography

Jeanne Wellnitz

Redakteurin
Quadriga
Jeanne Wellnitz ist Senior-Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert. Zuvor war sie von Februar 2015 an für den Human Resources Manager tätig, zuletzt als interimistische leitende Redakteurin. Die gebürtige Berlinerin arbeitet zusätzlich als freie Rezensentin für das Büchermagazin und die Psychologie Heute und ist Autorin des Kompendiums „Gendersensible Sprache. Strategien zum fairen Formulieren“ (2020) und der Journalistenwerkstatt „Gendersensible Sprache. Faires Formulieren im Journalismus“ (2022). Sie hat Literatur- und Sprachwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und beim Magazin KOM volontiert.

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