Es war einmal vor langer, langer Zeit, da gab es jemanden mit einer Idee, einer besonderen Fähigkeit, etwas Kapital und viel Durchsetzungsvermögen. So oder so ähnlich könnte sie anfangen: die Entstehungsgeschichte eines Unternehmens. Doch der Werdegang eines Betriebes wird spätestens nach diesem Zündungsfunken oftmals um einiges komplizierter. Denn er reiht sich ein in politische und soziale Veränderungen, gesellschaftliche Herausforderungen und sich wandelnde Rahmenbedingungen. Unternehmen sind Zeugen ihrer Zeit, genauso wie es die Menschen sind, die für und mit ihnen arbeiten. Doch die Zeit ist vergänglich. Gerade deshalb ist es so wichtig, das Erinnern als Möglichkeit zu nutzen, diese Vergänglichkeit kurz anzuhalten und abzuschwächen. Denn mit dem Wissen über die eigene Vergangenheit gehen Erfahrungswerte und Lehren einher. Diese von einer Staubschicht zu befreien, ist deutlich leichter, als die Erkenntnisse unserer Vorgängerinnen und Vorgänger einfach im Regal stehen zu lassen und gestrige Fehler zu wiederholen.
Alles hat einen Anfang
„Wie ist das Unternehmen zu dem geworden, was es heute ist?“ Mit dieser Fragestellung fängt die Arbeit von Ingo Stader an, wenn er und sein Team von H&C Stader mit der Aufarbeitung einer Unternehmensgeschichte beauftragt werden. Als Anbieter von historischen und archivischen Dienstleistungen hat der promovierte Historiker bereits vielen Unternehmen wie der Sparkasse Rhein Neckar Nord, dem Studierendenwerk Hamburg und Industrieunternehmen wie Dürr, Andritz und KUKA bei der Beantwortung dieser Frage unterstützt. Auf der Suche nach Antworten durchforsten die Historikerinnen und Historiker des Mannheimer Unternehmens Archive, rekonstruieren Korrespondenzen und verblichene Bilder, studieren Protokolle,
Personalakten, Handelsregister und Grundbücher. Die Spuren, die ein Unternehmen während seines Bestehens hinterlässt, sind so vielfältig wie die Menschen, die ein Unternehmen ausmachen und seine Geschichte formen. Gerade deshalb setzen viele Anbieter wie H&C Stader neben der Auswertung und Aufbereitung historischer Materialien auch auf den Faktor Mensch. In Zeitzeugeninterviews kommen Personen aus allen Bereichen des Betriebs zu Wort, die sich zu ihren Erfahrungen mit dem jeweiligen Unternehmen äußern möchten: Geschäftsführung und Eigentümer, Marketing und Vertrieb, Buchhaltung, Personalabteilung, Forschung und Entwicklung oder Zulieferer. Die Recherchen und Erkenntnisse aus den Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen fließen dann in eine Publikation oder werden filmisch aufbereitet, als digitaler Content ausgespielt oder zum Mittelpunkt einer Ausstellung.
In vielen Fällen würden sich Unternehmen anlässlich eines anstehenden Jubiläums an ihn wenden, so Ingo Stader: „Das ist oft der beste Anlass, um zurückzublicken und das Erreichte gebührend zu feiern.“ Doch er rät dazu, diese Chance auch darüber hinaus zu nutzen: Tiefschläge und Fehlentscheidungen zu thematisieren, sie mit heutigem Wissen zu evaluieren und für die Zukunft aus ihnen zu lernen. Damit taugt die Dokumentation einer
Unternehmenschronik zu weit mehr als einem schicken Flyer, der zum Sektempfang ausgehändigt wird: „Denn Geschichte ist historische Verantwortung und muss mehr sein als ein Punkt im Unterhaltungsprogramm zum Gartenfest anlässlich des Firmenjubiläums. Sie stiftet außerdem Identität und Bezugspunkte zu einem Unternehmen“, meint Stader. Und auch für die Kundschaft oder potenzielle neue Arbeitskräfte ist es interessant, darüber Bescheid zu wissen, wie ein Unternehmen zu dem geworden ist, was es heute ist. Eine gut aufbereitete Unternehmenshistorie, die über diverse Kanäle ausspielbar ist, bietet zudem die Chance, auch über das Jubiläumsjahr hinaus Interesse zu wecken.
Dass die eigene Historie durchaus etwas ist, mit dem man werben kann, wird insbesondere dann deutlich, wenn das Gründungsjahr fester Bestandteil eines Unternehmenslogos ist: „Die Vergangenheit steht dann für Wertigkeit, Kontinuität und Beständigkeit, was unter anderem auch Vertrauen bildet.“ Umso überraschender ist es dann für den Historiker, wenn Unternehmen ihre Historie wenig aufmerksamkeitswirksam und intransparent behandeln, ihr manchmal nur eine kleine Übersicht auf der eigenen Website widmen. Denn für Stader steht fest: „Geschichte bedeutet auch Identität.“
Im Keller liegt die Vergangenheit
Dass diese Identität zu Teilen in Vergessenheit geraten und unter Staubschichten begraben liegen kann, hat Nils Fehlhaber am eigenen Leib erfahren. Seit 2016 leitet er das Unternehmensarchiv des Automobilzulieferers Continental und verantwortet zudem die Historische Kommunikation. Bei Antritt seiner Stelle traf er auf ein zwar existentes, doch kaum nutzbares Archiv, das er heute rückblickend als einen „vergessenen Kellerraum“ bezeichnet. Es von Grund auf aufzuräumen und zu strukturieren war damals vor allem wegen des anstehenden 150. Jubiläums des 1871 gegründeten Unternehmens wichtig.
Zu diesem Anlass erschien 2021 eine Jubiläumspublikation, die auf knapp 300 Seiten die Geschehnisse seit Unternehmensgründung zusammenfasst. Beim Schreiben hatten Fehlhaber und Paul Erker, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der LMU München stets die Angestellten von Continental als Zielgruppe im Blick: „Unternehmensgeschichte hat ein immenses Identifikationspotenzial.“ Grund genug, die Vergangenheit festzuhalten. Doch neben den Erfolgen und Innovationen, die Continental angetrieben hat, widmen sich die beiden Historiker im Buch aber auch den schwierigen Phasen der Unternehmensgeschichte. Auch wegen dieser Selbstkritik und Transparenz seien so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch heute an der Lektüre interessiert, resümiert Fehlhaber. Das Wissen über die Vergangenheit ermöglicht auch einen neuen Diskurs in und über die Gegenwart. Negative Entwicklungen im Rückblick zu erkennen, sensibilisiert für die Bewertung der Gegenwart. Man muss Fehler kennen, um sie nicht noch einmal zu machen. Und man sollte Erfahrungswerte teilen, bevor sie verloren gehen.
Wer in den eigenen historischen Zeugnissen kramt, kann auch auf richtige Schätze stoßen. So fiel Fehlhaber beim Aufräumen des Unternehmensarchivs auch das Original der Gründungsurkunde in die Hände. Erst 1956, also 85 Jahre nach der Unternehmensgründung, wurde die strukturierte Sammlung der historischen Zeugnisse in einem Unternehmensarchiv etabliert. Fehlhaber erklärt sich dies mit „einem wachsenden Bewusssein für die Geschichte und ihren Erhalt für die Nachwelt.“ Heute umfasst das Archiv einen knappen Aktenkilometer aus historischen Geschäftsunterlagen, dazu Preislisten und Werbebroschüren und nach Fehlhabers Schätzung auch knapp 500.000 Fotos und eine umfangreiche Filmsammlung. Diese Bestände weiter zu strukturieren, das übernehme er gerne, denn: „Erforschung der eigenen Geschichte kann nur gelingen, wenn es ein funktionierendes Archiv gibt.“
Gegen das Vergessen
Wer seine Firmengeschichte nicht allein zusammentragen und aufschreiben will, kann sich an Katrin Rohnstock wenden. Sie und ihr Team von Rohnstock Biografien haben seit der Gründung im Jahr 1998 mittlerweile mehr als 50 Unternehmenshistorien verfasst, für die neben der reinen Recherchearbeit und der Durchführung von Einzelinterviews mit den wichtigsten Personen im Unternehmen auch sogenannte Erzählsalons genutzt werden. in einem geschützten Raum fünf bis zwölf Menschen aufeinander, die moderiert von einer Salonniere ihre Erlebnisse, die sie in und mit dem Unternehmen hatten, austauschen – so kann jeder seine persönlichen Geschichten mitteilen. „Es macht unglaublich viel Spaß, die Erinnerungen zusammenzutragen, in ihnen zu schwelgen und gemeinsam zu lachen. Dieser Austausch stiftet nebenbei auch Identifikation mit dem Unternehmen, für das man arbeitet“, so Rohnstock zu den Erzählsalons, die seit 2002 fester Bestandteil ihrer Arbeit sind. Denn gefragt zu werden, die persönliche Geschichte mit der Firma zu erzählen und damit an der historischen Dokumentation mitzuwirken, gebe der Mehrheit der Teilnehmenden ein Gefühl von Wertschätzung und Sichtbarkeit. Und je mehr Perspektiven in die Firmengeschichte einfließen, desto größer werde am Ende auch der Mehrwert der entstehenden Publikation. „Denn ein Unternehmen ist ein Universum. Niemand kennt alle Geschichten. Durch eine Vielzahl von Perspektiven wird die Historie für alle Beteiligten gleichermaßen aufschluss- und erkenntnisreich.“
Aufschluss und Erkenntnis birgt die historische Aufarbeitung auch, wenn sie Geschehnisse zutage bringt, die lange unter Verschluss gehalten, verschwiegen oder kleingehalten wurden. Doch mit dem geschichtlichen Erbe sollte verantwortungsvoll umgegangen werden. Dieser Verantwortung werden längst noch nicht alle Unternehmen gerecht, meint Katrin Rohnstock. „Doch mittlerweile ist das Tabuisieren der eigenen Unternehmensgeschichte und NS-Vergangenheit nicht mehr zeitgemäß. Aufklärung über die eigene Entwicklung und die Aufbereitung von dunklen Kapiteln gehört einfach zum guten Ton.“ Und den schlagen auch immer mehr Unternehmen an, die sich gerade aufgrund der blinden Flecken in der eigenen Unternehmensgeschichte an Geschichtsbüros wie das von Katrin Rohnstock wenden, die dazu beitragen, Wissenslücken zu schließen und das Schweigen zu brechen. Unwissen über die eigene Unternehmensgeschichte kann hingegen schaden, nicht zuletzt verdeutlicht durch die unglücklichen Äußerungen der Bahlsen-Erbin Verena Bahlsen im Jahr 2019. Ihre Unwissenheit um die Zustände und die Verharmlosung der Beschäftigung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern durch den Gebäckhersteller stieß eine Welle der Empörung an. Als Reaktion darauf beauftragte der Bahlsen-Konzern Manfred Grieger, den ehemaligen Chefhistoriker des Volkswagenkonzerns, mit der wissenschaftlichen Aufbereitung der eigenen Geschichte – auch über die NS-Zeit hinaus.
Schönreden ist nicht
Wie wichtig es ist, Transparenz walten zu lassen und die teils schmerzhafte Vergangenheit durch unabhängige Experten aufarbeiten zu lassen, hat auch das Öl- und Gasunternehmen Wintershall Dea erkannt. Bei der Kasseler Vorgängerfirma Wintershall fand die eigene Unternehmensgeschichte bis 2019 wenig Beachtung. Nur zu gegebenen Anlässen wie Jubiläen oder besonderen Produktions-Meilensteinen wurde der Vergangenheit gedacht. Dies änderte sich durch die Bemühungen des Kommunikationschefs Michael Sasse, der anlässlich des 125-jährigen Bestehens von Wintershall den Unternehmensvorstand überzeugte, sich der eigenen historischen Verantwortung zu stellen. Zwar war es bekannt, dass Wintershall sich unter den Nazis einiges hatte zuschulden kommen lassen, doch die Ausmaße waren auch aufgrund eines nicht mehr vorhandenen, da durch Bombardierungen vernichteten Unternehmensarchivs nicht belegt.
Aus diesem Bestreben heraus entstand die im Herbst 2020 veröffentliche Publikation Expansion um jeden Preis. Studien zur Wintershall AG zwischen Krise und Krieg, 1929 bis 1945, die sich auf knapp 190 Seiten den Verwicklungen des Konzerns mit dem NS-Regime widmet. Die Aufarbeitung durch die Wirtschaftshistoriker Manfred Grieger, Rainer Karlsch und Ingo Köhler ist dabei nur ein Anfang, der unter Zeitdruck und mittels aufwendiger Quellenbeschaffung entstand. Dass Wintershall unter dem nationalsozialistischen Regime von Arisierung, Fremd- und Zwangsarbeit profitierte und der damalige Generaldirektor August Rosterg sich proaktiv an die Machthaber wandte, gar enge Beziehungen pflegte und großzügige Spenden an den SS-Reichsführer Heinrich Himmler tätigte, sorgte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung für große Betroffenheit im Unternehmen. Deshalb wird die so offen gelegte Historie weiterhin aufgearbeitet. Auf dieser Grundlage beschäftigt sich das Projektteam für Corporate History nun mit der weiteren und detaillierten Forschung zu den Ausmaßen des wintershallschen Opportunismus und der ebenfalls stark belasteten NS-Geschichte des anderen Vorgängerunternehmens DEA, mit dem Wintershall 2019 fustionierte. Teil dessen sollen die Beleuchtung von Einzelschicksalen früherer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch die Weiterbeschäftigung von Führungspersonal nach der NS-Zeit werden. Der Konzern ist laut seiner Presseabteilung intern darum bemüht, die Unternehmensgeschichte auch über die NS-Zeit hinaus nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So würden seit 2021 monatliche Beiträge zu verschiedenen historischen Themen im Mitarbeiterportal veröffentlicht.
Wissen bedeutet Deutungshoheit
Auch das Team von H&C Stader dringt in seiner Arbeit des Öfteren in die Zeit von 1933 bis 1945 vor. So zuletzt bei der Aufbereitung der Jubiläumspublikation des Augsburger Roboter- und Anlagenbauers KUKA, die auch Recherchen zur NS-Zeit umfasst. Für Ingo Stader steht fest: „Ein Unternehmen, das seine eigene Geschichte nicht kennt, hat Schwachpunkte.“ Denn neben der Berufung auf Tradition und Erfahrung bietet die Vergangenheitsaufarbeitung auch Aufklärung über betriebliche Fehler und Taten, für die unter Umständen auch eine Entschuldigung oder zumindest eine angemessene Erinnerungskultur angebracht wären. Werden aber derartige Geschehnisse durch externe Parteien aufgedeckt, ist die Erklärungsnot groß. „Wenn ich als Unternehmen selbst über die eigene Geschichte nicht Bescheid weiß, dann kann mir das irgendwann auf die Füße fallen. Nicht nur, aber auch durch geschichtliches Wissen wird man erst Herr oder Frau seines eigenen Unternehmens.“
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