Frau Greven, was zeichnet hochsensible Menschen aus?
Corina Greven: Meine Forschung bezieht sich auf das, was die Wissenschaftsliteratur als sensory processing sensitivity bezeichnet. Der deutsche Begriff der Hochsensibilität ist oft weniger klar definiert. Laut der Definition des sensory processing sensitivity umfasst Hochsensibilität verschiedene Aspekte. Betroffene haben eine feinere Wahrnehmung für Details und Nuancen aus der Umgebung, auch wenn diese sehr subtil sind. Sie weisen zudem eine höhere emotionale Reaktivität auf, das heißt, sie nehmen sowohl positive als auch negative Emotionen stärker wahr. Und sie sind besonders empathisch. Dazu gehört eine emotionale Empathie, also dass sie die Emotionen anderer Menschen mitfühlen, aber auch eine kognitive Empathie, also dass sie die Gedanken und Absichten anderer schnell erkennen. Außerdem verarbeiten hochsensible Menschen alle Eindrücke tiefer. Sie verbringen häufig viel Zeit damit, eingehend über Dinge nachzudenken, und wägen alle Vor- und Nachteile ab. Das kann dazu führen, dass sie sich schnell überstimuliert fühlen.
Zum Thema Hochsensibilität geistern viele unwissenschaftliche Tests durch das Internet. Oft wird es auch in einem esoterischen Kontext besprochen. Wie gehen Sie das Thema in Ihrer Forschung an?
Hochsensibilität ist tatsächlich noch ein sehr junges Forschungsgebiet, aber auf jeden Fall ein wissenschaftliches Konstrukt, das wir uns mit etablierten wissenschaftlichen Methoden anschauen. Wir formulieren unsere Hypothesen, bevor wir Analysen durchführen, und gehen auch bei der Interpretation der Ergebnisse kritisch vor. Zudem achten wir darauf, dass die Forschung nicht nur von Hochsensiblen betrieben wird, sondern auch Menschen an den Studien mitarbeiten, die nicht hochsensibel sind. Denn die haben nochmal einen anderen Blick darauf.
Wie können Sie zuverlässig feststellen, ob eine Person hochsensibel ist?
Hochsensibilität gilt in der Wissenschaft als Persönlichkeitseigenschaft und diese werden mittels Fragebogen gemessen. Dabei geht es nicht nur darum, ob jemand hochsensibel oder nicht ist, sondern der Fragebogen zeigt auch, wo die Person auf einem definierten Sensibilitätsspektrum liegt. Die meisten Menschen weisen mittlere Werte auf, manche haben besonders niedrige Werte und es gibt die Gruppe, die als hochsensibel gilt. Das sind laut Statistik rund 20 Prozent der Menschen. Es gibt derzeit mehrere Fragebögen und ich empfehle immer noch den von Elaine Aron, weil darauf die meiste Forschung basiert. Der ist allerdings auch noch nicht perfekt und wir arbeiten daran, ihn zu verbessern. Für Forschungszwecke ist auch der in den Niederlanden entwickelte sensory-processing-sensitivity-Fragebogen zu empfehlen. Aber eine ganz optimale Methode, Hochsensibilität zu messen, haben wir derzeit noch nicht.
Wie sind Sie denn dazu gekommen, sich in Ihrer Forschung diesem Thema zu widmen?
Ich forsche seit vielen Jahren zum Thema ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Als ich meine Professur bekam, sah ich, dass es in der Forschung zu Hochsensibilität noch große Lücken gibt und das Bedürfnis von Betroffenen danach groß ist. Das heißt, man kann hier wirklich etwas bewegen.
Inwiefern können Sie etwas bewegen?
Ich denke, dass es beispielsweise wichtig ist, mehr Bewusstsein für das Thema Hochsensibilität zu schaffen. Allein dadurch wird schon viel gewonnen. Meine Interviewstudie hat gezeigt, dass hochsensible Menschen oft erst in persönlichen Krisen herausfinden, dass sie dieses Persönlichkeitsmerkmal besitzen; zum Beispiel, wenn ihre Beziehung auseinandergegangen ist oder wenn sie einen Burnout haben. Wenn Menschen wissen, dass sie hochsensibel sind, können sie präventiv handeln und ihr Leben entsprechend anpassen. Das wirkt sich sehr positiv auf ihr Wohlbefinden und die psychische Gesundheit aus.
Kommt es in der therapeutischen Arbeit oft zu Fehldiagnosen, weil das Konzept der Hochsensibilität noch wenig bekannt und erforscht ist?
Das kann ich nicht sicher sagen, weil es dazu kaum Forschung gibt. Es kann natürlich sein, dass eine Person hochsensibel ist und gleichzeitig beispielsweise eine Depression hat, dann ist die Diagnose auch gerechtfertigt. Hochsensibilität kann vermutlich das Risiko erhöhen, an Depressionen zu erkranken, auch wenn hierzu Langzeitstudien fehlen. Eine Frage, die in der therapeutischen Praxis auch aufkommt, ist: Wann ist es Hochsensibilität, wann ist es ADHS, wann ist es eine milde Form von Autismus?
Wie hängt Hochsensibilität denn mit ADHS und Autismus zusammen?
In allen drei Fällen sagen Betroffene, dass sie vermehrt das Gefühl haben, für sensorische Reize, wie etwa Geräusche, besonders empfindlich zu sein und sich schnell überstimuliert zu fühlen. Allerdings ist ADHS im DSM-5, oder in Deutschland im ICD-11, verankert, wird also von Psychologinnen und Psychiatern als psychische Störung diagnostiziert. Hochsensibilität wird dagegen als Persönlichkeitseigenschaft eingeordnet. Hier sei angemerkt, dass es im Bereich der Neurodiversität auch Menschen gibt, die sagen, wir sollten ADHS ebenso wenig als Diagnose oder Störung ansehen, sondern als Teil eines Verhaltensspektrums. Laut einer Befragung, die ich unter Menschen mit ADHS durchgeführt habe, denken viele von Ihnen, dass Hochsensibilität zu ihrem Empfinden dazugehört. Die Wissenschaft selbst ist hier noch widersprüchlich, zeigt aber kleine bis gar keine Korrelationen zwischen ADHS und Hochsensibilität.
Was unterscheidet Hochsensibilität von ADHS?
Ein Unterschied ist, dass ADHS eine gewisse Impulsivität mit sich bringt, auch motorisch. Bei Hochsensiblen ist eher das Gegenteil der Fall: Sie gehen lieber nochmal einen Schritt zurück und warten ab, bevor sie aktiv werden.
Wie grenzt man Hochsensibilität von Autismus ab?
Hier ist ein Unterschied, dass Autismus in der Forschung durchschnittlich mit niedrigeren kognitiven Empathie-Werten zusammenhängt, während Hochsensible ein besonders hohes kognitives Empathie-Empfinden beschreiben.
Und wie hängt Hochsensibilität mit Hochbegabung zusammen?
Das wird tatsächlich oft zusammen genannt, aber es gibt bisher nur ganz wenig Forschung zum Zusammenhang der beiden Konstrukte. In den Niederlanden haben wir ein Modell der Hochbegabung, das auf den Erfahrungen von hochbegabten Menschen aufbaut. In diesem Modell sagen die hochbegabten Menschen von sich selbst, dass eine Hypersensibilität Teil ihrer Alltagserfahrung ist. Dabei handelt es sich aber nicht unbedingt um Hochsensibilität speziell im Sinne der sensory processing sensitivity, sondern eher die subjektive Erfahrung, eine hypersensible Wahrnehmung zu haben. Dieses Jahr hat meine Kollegin Veronique de Gucht die erste große wissenschaftliche Studie zum Thema Hochbegabung und Hochsensibilität veröffentlicht. Die hat wiederum herausgefunden, dass Hochsensibilität – jetzt wieder in diesem engen Kontext von sensory processing sensitivity – kein Merkmal der Hochbegabung war. Wenn überhaupt hatten hochbegabte Menschen hier etwas niedrigere Werte.
Was ist für Hochsensible im Arbeitsumfeld wichtig?
In wissenschaftlichen Interviews mit Hochsensiblen kam heraus, dass die Reduktion von sensorischen Reizen sehr wichtig ist. Entsprechend brauchen sie ein Arbeitsumfeld, in dem das möglich ist. Hochsensible haben das Bedürfnis, auch mal allein zu sein, sie brauchen eine ruhige Umgebung. Da kann verschiedenes helfen – etwa ein stilles Büro, Homeoffice oder Kopfhörer mit Noise-Cancelling-Funktion. Natürlich gibt es auch Momente, in denen Reizen und Stress nicht ausgewichen werden kann. Da hilft es, wenn man selbst Strategien hat, damit umzugehen. In den Interviews, die ich mit hochsensiblen Erwachsenen geführt habe, empfanden viele die Unterstützung von anderen als hilfreich, auch Achtsamkeit und Meditation wurden erwähnt und auch Yoga schien einigen zu helfen. Und eine positive Einstellung sowie gezieltes Reflektieren und Akzeptieren der Situation. Von diesen Strategien profitieren alle Menschen, aber sie sind für Hochsensible besonders wichtig. Und Hochsensible wünschen sich, wie die meisten Menschen, einen Beruf, der zu ihnen passt, und ein angenehmes Arbeitsumfeld – aufgrund ihrer Feinfühligkeit legen sie da besonderen Wert drauf.
Gibt es Jobs, die für Hochsensible besonders geeignet sind?
Ich würde nicht sagen, dass es einen bestimmten Beruf gibt, aber es ist wichtig, zu schauen, wie viel Stress ein Job mit sich bringt. Hochsensible sind stressempfindlicher und damit anfälliger für Burnout – auch wenn das natürlich nicht auf jede hochsensible Person zutreffen muss. Wichtig ist, dass sie die persönlichen Strategien gegen Stress und Überstimulierung im Berufsalltag anwenden kann. Ich glaube, dass viele Hochsensible durchaus auch in stressigen Jobs arbeiten. Sie haben dann aber gelernt, damit umzugehen, und fallen dadurch gar nicht auf. Schwierig für viele Hochsensible ist ein Job, in dem eine schnelle Entscheidungsfindung gefragt ist. Mit einem guten Repertoire an Bewältigungsstrategien könnte manche hochsensible Personen aber auch einen solchen Beruf ausüben.
Was können Hochsensible besonders gut?
In meiner Interviewstudie wurde lediglich das Gefühl der Überstimulation durchgehend als negativ bewertet – alle anderen Aspekte der Hochsensibilität haben sowohl Vor- als auch Nachteile. Die Bedürfnisse von Kolleginnen oder Kunden wahrzunehmen und sich in sie hineinversetzen zu können, ist in vielen Jobs sehr nützlich. Auch die Fähigkeit, über Dinge tief nachzudenken, alle Vor- und Nachteile auf einen Tisch zu legen und dann eine solide Entscheidung treffen zu können, wird als Stärke empfunden. Zudem meinen vielen Hochsensible, dass sie besonders viele Details wahrnehmen, aber auch gleichzeitig das große Ganze gut im Blick haben. Das alles sind Talente und Softskills, die im Arbeitskontext sehr gefragt sind und in den nächsten Jahren noch wichtiger werden.
Unternehmen sollten sich also vor allem auf die Stärken von Hochsensiblen konzentrieren?
Genau. Außerdem ist es mir wichtig, zu betonen, dass Hochsensible nicht nur stärker auf Stress und negative Reize reagieren, sondern auch auf Positives, wie etwa eine besonders angenehme Arbeitsumgebung. Darin liegt eine große Chance. Alle Beschäftigten profitieren von entsprechenden Maßnahmen am Arbeitsplatz, aber Hochsensible profitieren vermutlich besonders. Das ist eine wichtige Message – auch zur Prävention, denn es muss nicht sein, dass alle Hochsensiblen einen Burnout bekommen.
Corina Greven ist Professorin am Radboud University Medical Centre in den Niederlanden und dort Inhaberin des Lehrstuhls für Umweltsensibilität im Gesundheitswesen. Sie hat am Institut für Psychiatrie, Psychologie und Neurowissenschaften des King’s College London im Fach Entwicklungspsychiatrie promoviert. In ihrer aktuellen Forschung untersucht sie individuelle Unterschiede in der Empfindlichkeit gegenüber Umweltreizen.
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