Seid achtsam mit der Achtsamkeit!

Gesundheit

Bei dem Start-up 7Mind beginnt fast jedes Meeting mit einer Mindful Minute. Julia Quezada, Head of People and Culture, schlägt dafür einen Gong, alle sitzen mit geschlossenen Augen still, bis der zweite Gong ertönt. Die Idee ist, danach entspannter und voll präsent für die Themen der beginnenden Besprechung zu sein. Damit trifft 7Mind, selbst Entwickler einer Achtsamkeits-App, einen aktuellen Trend: Immer mehr Unternehmen bieten Achtsamkeitstrainings an oder bauen Elemente der Achtsamkeit in den Arbeitsalltag ein. Diese sollen die Mitarbeitenden gelassener, glücklicher und produktiver machen. Doch funktioniert das wirklich?

Vom Buddhismus in die westliche Welt

Achtsamkeit bezeichnet ein bewusstes Wahrnehmen des gegenwärtigen Moments, wobei alles, was gerade da ist – wie Gedanken, Gefühle und die Umwelt –, ohne Wertung beobachtet und akzeptiert werden soll. Das kann beispielsweise durch gezieltes Konzentrieren auf den Atem, auf Empfindungen im Körper oder Sinneseindrücke erreicht werden. Diese Praxis hat ihren Ursprung im Buddhismus. In der buddhistischen Lehre ist Achtsamkeit eine von vielen Qualitäten, die Menschen kultivieren sollen, um Einsicht zu erlangen und das Leid zu beenden, das jedes menschliche Leben unweigerlich begleitet.

Ihren Weg in die westliche Welt fand die Achtsamkeitspraxis in den 1970er-Jahren durch den US-amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn. Mit Mindfulness-Based Stress Reduction (zu deutsch: achtsamkeitsbasierte Stressreduktion), kurz MBSR, entwickelte er ein achtwöchiges Programm aus aufeinander abgestimmten Aufmerksamkeitsübungen. Es soll Menschen dabei helfen, besser mit Stress, Angst und Krankheit umzugehen. Die positive Wirkung wurde inzwischen in zahlreichen Studien nachgewiesen. So belegt zum Beispiel eine Meta-Studie aus dem Jahr 2010, dass MBSR das psychische Leid chronisch kranker Menschen lindern kann. Eine Feldstudie in vier Unternehmen aus 2018 zeigt, dass Angestellte durch Achtsamkeitstraining weniger gestresst und dafür produktiver waren. Kein Wunder also, dass auch immer mehr Unternehmen Achtsamkeit für sich entdecken.

Achtsamkeit in Unternehmen

„Wir alle sind im Arbeitsalltag viel Stress ausgesetzt“, sagt 7Mind-Personalerin Julia Quezada. „Wir müssen Aufgaben übernehmen, die uns aus unserer Komfortzone holen. Oder mit Leuten zusammenarbeiten, die wir nicht leiden können. Wir müssen in der modernen Wissensgesellschaft kreativ und mental flexibel bleiben. Eine Achtsamkeitspraxis unterstützt uns bei all dem.“ Mit den Unsicherheiten der heutigen Welt umgehen zu lernen, war auch für die Deutsche Bank ein Motiv, ihren Mitarbeitenden Achtsamkeit nahezubringen. In Zusammenarbeit mit der betriebseigenen Krankenkasse BKK startete die Bank 2021 eine Gesundheitskampagne mit dem Titel Wohlbefinden durch Achtsamkeit. „Mit Beginn der Coronapandemie wurde uns klar, dass mit wachsender Ungewissheit über die Auswirkungen des Virus und den damit einhergehenden Herausforderungen im Berufs- und Privatleben ein verantwortungsvoller Umgang mit Stress in den Fokus rückt“, erklärt Babette Herzog, Expertin für Gesundheitsmanagement bei der Deutschen Bank. Die Kampagne solle Mitarbeitende in erster Linie zu einem achtsamen Umgang mit sich und dem eigenen Umfeld animieren.

Auch beim Drogeriewarenhändler dm steht Achtsamkeit auf der Tagesordnung: In Workshops und Seminaren werden beispielsweise die Grundlagen der Achtsamkeitspraxis oder achtsamer Kommunikation vermittelt. Zudem gibt es wöchentlich die „achtsame Pause“, eine angeleitete Meditation, die die Mitarbeitenden digital nutzen können. Das seien aber nur zusätzliche Impulse, sagt Christian Harms, der dm-Geschäftsführer für das Mitarbeiterressort: „Achtsamkeit ist ein natürlicher Bestandteil unserer Unternehmenskultur. In unserer täglichen Zusammenarbeit sind die situative Geistesgegenwart, die Begegnung von Mensch zu Mensch und verantwortungsvolles Handeln zentrale Elemente.“

Bei 7Mind gibt es eine tägliche gemeinsame Meditationsrunde, oft angeleitet von Kolleginnen und Kollegen aus dem Team, dazu achtsame Bewegung wie Stretching. Für Julia Quezada ist Achtsamkeit eine Praxis, die vor allem empathisch und emotional intelligent macht. Durch Meditation lerne man, die eigenen Gefühle zu beobachten, dann aber nicht sofort darauf zu reagieren, sondern erst einmal einen Moment innezuhalten. So könne man sich dann in Ruhe überlegen, wie man reagieren möchte. Dadurch gelinge ein harmonischeres Miteinander. Vor ihrer Tätigkeit bei 7Mind hat Quezada bei Google in der Personalentwicklung gearbeitet und dort Achtsamkeit für Führungskräfte unterrichtet. Sie sollten lernen, wie sie achtsamer mit den eigenen Gefühlen, aber auch mit Teammitgliedern umgehen. „Im Leadership steht man ja permanent im Rampenlicht. Was man sagt und was man tut, muss übereinstimmen, weil einem sonst nicht vertraut wird. Dafür muss man sehr viel Bewusstsein für sich selbst haben“, erklärt Quezada.

Risiken und Nebenwirkungen

Aber macht Achtsamkeit wirklich gelassener und empathischer? Simon Schindler, Sozialpsychologe an der Leuphana Universität Lüneburg, sieht das kritisch. „Sicher gewinnt man durch Achtsamkeitsübungen mehr Abstand zu negativen Gedanken, wodurch sich das Stresserleben reduziert. Man gewinnt aber auch Abstand zu jeder anderen Art von Emotion und erlebt sie damit weniger stark.“ Manche Emotionen, wie Schuldgefühle oder ein schlechtes Gewissen, seien jedoch wichtig für unser Miteinander. Für die Behauptung, dass Achtsamkeit diese Empfindungen dämpfen kann, hat er in einer Reihe von Studien empirische Evidenz gefunden. In einer Studie hat er Menschen, die Fleisch essen, mit Tierleid und den Umweltschäden konfrontiert, die durch Fleischkonsum entstehen. „Typischerweise ist danach ein Schuldgefühl da. Wir haben die Leute dann gefragt, ob sie ihren Fleischkonsum reduzieren möchten. Wenn die Menschen vorher eine Achtsamkeitsübung gemacht haben, war diese Intention im Vergleich zu einer Kontrollgruppe wesentlich schwächer ausgeprägt.“ Das sei etwa auch auf eine Führungskraft übertragbar, die mehrere Angestellte entlassen müsse; eine Achtsamkeitsübung könne ihre Schuldgefühle verringern.

Was in manchen Situationen von Vorteil ist, kann in anderen auch zu unmoralischen Entscheidungen motivieren. Schindler sieht außerdem die Gefahr, dass Achtsamkeit systemische Probleme auf das Individuum abschiebe. „Wenn es einer Person nicht gut geht, sagt man ihr, sie sei selbst schuld, weil sie nicht oder nicht genug meditiert.“ So könnten Unternehmen von Menschen erwarten, dass sie sich durch Achtsamkeitsübungen selbst optimieren, um in einem für sie ungesunden System zu funktionieren. „Aber das Wirtschaftssystem sollte sich an die Bedürfnisse der Menschen anpassen, nicht umgekehrt.“ So gesehen könne es fatal sein, dass Menschen durch Achtsamkeit lernen, alles so zu akzeptieren, wie es gerade ist; das könne die Motivation schwächen, den Status quo zu verbessern. Eine Studie aus dem Jahr 2018 habe nachgewiesen, dass Achtsamkeit sogar die Leistungsmotivation verringern kann – also genau das Gegenteil von dem, was viele Unternehmen damit bezwecken wollen.

Eine Studie der Brown University hat zudem eine weitere mögliche Nebenwirkung aufgedeckt: Eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis könne bei Personen mit Angststörung teilweise die Symptome verschlimmern. Ist es demnach unverantwortlich, Mitarbeitende in ein Achtsamkeitsprogramm zu schicken, ohne deren Krankheitsgeschichte zu kennen? „Eine Symptomverschlimmerung kann immer und durch alles Mögliche passieren – und so eben auch durch Achtsamkeit“, sagt die Achtsamkeitslehrerin Christiane Wolf, die früher als Ärztin an der Charité Berlin tätig war. Solche Studien bezögen sich allerdings meist auf Menschen, die über einen langen Zeitraum hinweg sehr viel meditieren. Bei den meisten Achtsamkeitstrainings in Unternehmen reiche die Dauer der Meditationen nicht aus, um ernsthafte Symptome hervorzurufen. Kürzlich habe sogar eine Studie gezeigt, dass MBSR bei Angststörungen genauso wirksam ist wie ein gängiges Medikament. Es könnte aber dennoch passieren, dass Menschen sich ihren bereits vorhandenen Problemen durch Achtsamkeitspraxis mehr zuwenden. „Das kann so einen Erwachungsmoment hervorbringen, in dem Menschen merken, wie schlecht es ihnen eigentlich geht.“

Emotionen nicht wegmeditieren

Christiane Wolf weist außerdem darauf hin, dass die im Westen praktizierte Achtsamkeit aus dem ursprünglichen Kontext genommen sei: „Der Buddha hat Achtsamkeit immer in einem ethischen Kontext unterrichtet.“ Dieser Aspekt sei verloren gegangen, wahrscheinlich, weil der Begriff „Ethik“ bei uns häufig mit dem erhobenen Zeigefinger und Verboten belastet sei. „Im Buddhismus geht es darum, keinen Schaden anzurichten, weder für sich selbst noch für andere“, so die praktizierende Buddhistin. Viele Unternehmen schaden aber mit ihren Arbeits- und Produktionsbedingungen Menschen und Umwelt, selbst wenn sie Achtsamkeit predigen. „Da könnte man kritisieren, dass Achtsamkeit missbraucht wird, um bessere Schafe zu dressieren, die zum Schlachthof geführt werden können, ohne dass sie einen Aufstand machen.“

Die Lösung ist naheliegend: den ethischen Kontext zurückholen. Dafür müssen auch nicht gleich alle Menschen einen spirituellen Weg einschlagen. „Man sollte Achtsamkeit in einem Wir-Kontext gemeinsam praktizieren, anstatt dass jede Person für sich allein übt“, schlägt Simon Schindler vor. Er empfiehlt, „Nettigkeitselemente“ in die Meditationen einzustreuen, wie die sogenannte Metta-Meditation. Das Pali-Wort „metta“ bedeutet übersetzt „liebende Güte“ und ist eine Meditationspraxis, in der allen Wesen Gutes gewünscht wird.

Wer Achtsamkeit dagegen verwendet, um Emotionen „wegzumeditieren“, wendet die Lehre laut Christiane Wolf falsch an – auch wenn das, gerade bei Personen mit intensiver Meditationspraxis, durchaus möglich sei. „Achtsamkeit soll uns helfen, wieder stärkeren Zugang zu unserem Herzen zu erlangen, wirklich zu fühlen, welche Konsequenzen unser Handeln hat, und dann nach den Werten zu handeln, die uns wichtig sind.“ Sie beobachtet immer wieder in Arbeitssituationen, dass Menschen durch eine Achtsamkeitspraxis plötzlich anfangen, in ihrer Organisation oder auch in ihrem gesamten Leben etwas zu verändern. Denn wer Achtsamkeit intensiver praktiziere, komme unweigerlich an das heran, was sie oder ihn im tiefsten Inneren beschäftige. Das könne in manchen Fällen auch dazu führen, dass eine Person ein Unternehmen verlässt, wenn sie feststellt, dass es ihr nicht guttut und sich die Situation dort nicht verändern lässt. Auch Julia Quezada von 7Mind stellt fest: „Einer der positiven Effekte ist, dass man lernt, den eigenen Körper besser zu lesen. Ich weiß dadurch viel schneller, wann ich mich überarbeite, und kann entsprechend auf mich aufpassen.“

Die achtsame Utopie

„Niemand sollte zur Achtsamkeit gezwungen werden“, sagt Christiane Wolf. „Besser ist es, einfach die Achtsamkeit zu leben. Vielleicht inspiriert das ja andere, wenn ich mich anders verhalte.“ Würden sich aber tatsächlich alle Menschen in einem Unternehmen achtsam verhalten, dann würde das ihrer Einschätzung nach eine gesellschaftliche Revolution auslösen. „Vielleicht würden Verkaufszahlen erst mal zurückgehen, aber Krankheitstage auch.“ Gelebte Achtsamkeit decke vor allem die Dinge auf, die nicht funktionieren, wie die Ausbeutung von Menschen und Natur. „Wir müssen angesichts des Klimawandels sowieso umdenken, etwas anders machen. Dafür sind Achtsamkeit, Mitgefühl und liebende Güte fantastisch.“ Ein weiterer Nebeneffekt sei, dass Achtsamkeit die Kreativität erhöhe und so die dafür notwendige Innovation mögliche mache. „Aber vor allem macht uns kreativ sein glücklich. Und glückliche, motivierte Menschen machen ja auch bessere Arbeit. Unterm Strich können Unternehmen nur gewinnen.“

So bekommt Achtsamkeit, wenn man sie richtig praktiziert, sogar eine politische Dimension. Denn wer Probleme erkennt, steht – vor allem als Führungskraft – auch in der Verantwortung, dagegen aktiv zu werden.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Spielen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Senta Gekeler, Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager

Senta Gekeler

Senta Gekeler ist freie Journalistin. Sie war von 2018 bis 2023 Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager.

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