Anspruch auf betrieb­liches Eingliederungs­management?

Arbeitsrecht

Ist ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, hat der Arbeitgeber nach §167 Abs.2 SGBIX ein betriebliches Eingliederungsmanagement – abgekürzt BEM – durchzuführen. Im Urteil vom 7.September 2021 zum Az.:9AZR571/20 hatte das Bundesarbeitsgericht die Frage zu beantworten, ob Beschäftigten gegenüber ihrem Arbeitgeber ein eigener einklagbarer Anspruch auf Durchführung eines BEM zusteht – und dies im Ergebnis verneint.

Was ist ein BEM?

Das BEM ist ein gesetzlich vorgesehenes Verfahren, das bei längerfristig oder häufig erkrankenden Beschäftigten durchgeführt werden soll. Mit diesem Verfahren wird das Ziel verfolgt, den zukünftigen Bestand des Arbeitsverhältnisses zu sichern und einer Gefährdung des Arbeitsverhältnisses durch die gesundheitlichen Gründe vorzubeugen. Durch die Maßnahmen, die Arbeitgeber und Mitarbeitende gemeinsam im Rahmen des BEM erarbeiten, soll die bestehende Arbeitsunfähigkeit überwunden und eine erneute Arbeitsunfähigkeit verhindert werden. Damit soll vor allem dem Ausspruch krankheitsbedingter Kündigungen vorgebeugt werden. Die Anforderungen an die Einleitung und die Durchführung eines BEM sind im Detail komplex und beinhaltet einige für die Arbeitgeberseite fehleranfällige Gesichtspunkte.

Wer hat unter welchen Voraussetzungen das BEM einzuleiten?

167 Abs. 2 SGB IX sieht als einzige Voraussetzung für die Durchführung eines BEM vor, dass ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig waren. Dabei ist nicht der Zeitraum eines Kalenderjahres maßgeblich, sondern jeweils die aktuell zurückliegenden 365 Tage. Weitere Voraussetzungen sieht das Gesetz – wie eingangs erwähnt – für die Verpflichtung zur Durchführung eines BEM nicht vor. Vor allem sind weder die Art der Erkrankung noch das Bestehen eines Betriebsrats oder die Betriebsgröße maßgebliche Faktoren für die Durchführungspflicht. Hat eine beschäftigte Person die vorausgesetzte Anzahl an Fehltagen erreicht, muss der Arbeitgeber ihr ein Angebot zur Durchführung eines BEM machen.

Das Bundesarbeitsgericht hatte im September 2021 nun die weitergehende Frage zu beantworten, ob mit der Verpflichtung des Arbeitgebers, bei Vorliegen der Voraussetzung ein BEM durchzuführen, auch ein korrespondierender Individualanspruch des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin besteht. Oder mit anderen Worten: Können Beschäftigte die Durchführung eines BEM verlangen, wenn die gesetzliche Voraussetzung erfüllt ist?

Die höchsten deutschen Arbeitsrichter haben diese Frage entgegen einer gewichtigen Auffassung in der Literatur (Erfurter Kommentar-Rolfs, SGBIX §167, Rn. 5) negativ beantwortet. § 167 Abs. 2 S. 1 SGBIX vermittelt keinen Individualanspruch auf die Durchführung eines BEM. Einzelne Beschäftigte können also von ihrem Arbeitgeber nicht die Durchführung eines BEM verlangen und dies auch nicht gerichtlich geltend machen. Dieses Ergebnis begründet das Bundesarbeitsgericht insbesondere mit dem Wortlaut des § 167 SGB IX, der Systematik der Norm und ihrer Entstehungsgeschichte.

Welche Bedeutung hat die Entscheidung?

Das Ergebnis scheint im ersten Moment dafür zu sprechen, dass die unmittelbare Bedeutung eines BEM überschaubar ist. Die unterlassene Durchführung eines BEM ist nach §238 SGBIX unter anderem auch nicht bußgeldbewährt.

Ganz wesentliche Bedeutung kommt der Durchführung eines BEM aber mittelbar im Zusammenhang mit dem Kündigungsschutz zu. Ist ein BEM durchgeführt worden, gilt zum einen, dass der Arbeitgeber bei einem positiven Ergebnis des BEM-Verfahrens die im BEM besprochenen Maßnahmen vor dem Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung zunächst grundsätzlich umzusetzen hat. Unterlässt der Arbeitgeber dies, steht er in einem Kündigungsschutzprozess vor der schwierigen Aufgabe, darlegen zu müssen, wieso er die im BEM vereinbarten Maßnahmen nicht zunächst umgesetzt hat und es für die betroffene Person dennoch keine andere leidensgerechte Beschäftigungsmöglichkeit gab. Nachteile im Kündigungsschutzprozess hat der Arbeitgeber zum anderen auch vor allem dann in Kauf zu nehmen, wenn er trotz dem Vorliegen der Voraussetzung des BEM ein solches Verfahren nicht durchgeführt hat. Zwar führt das unterlassene BEM nicht zur Unwirksamkeit einer ausgesprochenen krankheitsbedingten Kündigung. Die Rechtsprechung leitet aus dem unterlassenen BEM aber ab, dass der Arbeitgeber den Nachweis für das Fehlen milderer Mittel erbringen muss. Hierzu muss der Arbeitgeber detailliert nachweisen können, dass ein ordnungsgemäß durchgeführtes BEM erfolglos geblieben wäre und in diesem Rahmen keine leidensgerechte Beschäftigungsmöglichkeit zu finden gewesen wäre. Dieser Nachweis lässt sich in der Praxis kaum führen und spricht dafür, vor dem Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung ein BEM durchzuführen.

Praxishinweis

Mit seinem Urteil aus September 2021 hat das Bundesarbeitsgericht überzeugend begründet, dass §167 Abs.2 SGBIX Beschäftigten keinen Individualanspruch auf Durchführung eines BEM vermittelt. §167 Abs.2 S.6 SGB IX sieht aber vor, dass die zuständige Interessenvertretung – insbesondere also ein eingerichteter Betriebsrat – (und bei schwerbehinderten Menschen außerdem die Schwerbehindertenvertretung) die Durchführung eines BEM verlangen kann.

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Pascal Verma ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner der Kanzlei nbs Partners 

Pascal Verma

Pascal Verma ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner der Kanzlei nbs Partners in Hamburg. Seine Tätigkeits- und Beratungsschwerpunkte liegen im Arbeitsrecht und im Datenschutzrecht.

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