EuGH: Leiharbeit ist auch für Dauerarbeitsplätze zulässig

Arbeitsrecht

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seiner mit Spannung erwarteten Entscheidung (Az. C-232/20, Daimler) einige Fragen zur Vereinbarkeit deutschen Rechts mit der Leiharbeitsrichtlinie beantwortet. Im Kern geht es um die Reichweite des Schutzes von Leiharbeitskräften vor missbräuchlichen Überlassungen. Auch wenn die Entscheidung einen Sachverhalt aus der Zeit vor dem 1. April 2017 betrifft, ist sie auch für heutige Einsätze relevant und beseitigt eine große Sorge vieler Unternehmen: Der Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern auf Dauerarbeitsplätzen bleibt zulässig. Offen bleibt, ob das teils europarechtswidrige deutsche Recht Leiharbeitskräften einen Anspruch auf Einstellung verschafft. Das werden die deutschen Gerichte entscheiden müssen.

Der Fall

Geklagt hatte ein Leiharbeitnehmer, der im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung 55 Monate lang auf einem dauerhaft eingerichteten Arbeitsplatz bei Daimler eingesetzt war. Vor Gericht wollte er feststellen lassen, dass aufgrund des langen Überlassungszeitraums zwischen ihm und der Daimler AG sowie auch wegen des Umstands, dass er auf einem Dauerarbeitsplatz eingesetzt wurde, ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zustande gekommen sei.

Auf Vorlage des LAG Berlin-Brandenburg musste der EuGH nun insbesondere klären, ob der Einsatz des klagenden Arbeitnehmers die Vorgabe der Leiharbeitsrichtlinie (Richtlinie 2008/104) verletzt, wonach der Einsatz von Leiharbeitskräften „vorübergehend“ erfolgen muss.

55 Monate lang „vorübergehend“ beschäftigt?

Der Fall steht durchaus exemplarisch dafür, dass die gesetzgeberische Vorstellung, wonach Leiharbeit vor allem als Mittel zum Abfangen kurzfristiger Auftragsspitzen und vorübergehender Projekte eingesetzt werden soll, an der Lebenswirklichkeit vorbeigeht. In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass Überlassungen von Arbeitskräften mehrfach verlängert werden und dies auch auf für eine Dauerbeschäftigung vorgesehenen Arbeitsplätzen. Rechtlich stellt sich damit die Frage, ob ein „vorübergehender“ Einsatz auch dann bejaht werden kann, wenn die Beschäftigung auf einem Dauerarbeitsplatz erfolgt.

Die meisten Gerichte hatten dies in der Vergangenheit bejaht und festgestellt, dass sich das Merkmal „vorübergehend“ auf den Einsatz der individuellen Arbeitskraft und nicht auf den Arbeitsplatz bezieht. Dem EuGH vorgelegt hatten sie diese Frage jedoch nicht. Zudem gilt seit der Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im Jahr 2017, dass ein Verleiher dieselbe Leiharbeitskraft grundsätzlich nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate demselben Entleiher überlassen darf; der Entleiher darf dieselbe Leiharbeitskraft nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate tätig werden lassen.

Der Zeitraum vorheriger Überlassungen durch denselben oder einen anderen Verleiher an denselben Entleiher ist vollständig anzurechnen, wenn zwischen den Einsätzen jeweils nicht mehr als drei Monate liegen. Wird die Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten überschritten, fingiert das Gesetz das Bestehen eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses der Leiharbeitskraft beim entleihenden Unternehmen.

Besonderheiten des deutschen Rechts

Das deutsche Gesetz eröffnet jedoch die Möglichkeit, durch Tarifverträge der Entleiherbranche eine abweichende Überlassungshöchstdauer, mithin auch eine längere, zu vereinbaren (§ 1 Abs. 1b AÜG). In nicht tarifgebundenen Unternehmen kann eine solche Tarifregelung durch Betriebsvereinbarungen wirksam übernommen werden.

Zudem enthält das deutsche Recht die Ausnahme, dass Überlassungszeiten vor dem 1. April 2017 bei der Berechnung der Überlassungshöchstdauer nicht berücksichtigt werden (§ 19 Abs.2 AÜG).

Im Fall des klagenden Leiharbeitnehmers bei Daimler waren beide Ausnahmetatbestände relevant: Zum einen entfiel ein Großteil der Gesamtbeschäftigungsdauer des klagenden Leiharbeitnehmers auf den Zeitraum vor April 2017. Zum anderen galt im Betrieb eine tarifliche Regelung, die eine verlängerte Überlassungshöchstdauer gestattete.

Auch Dauerarbeitsplätze dürfen mit Leiharbeitskräften besetzt werden

Mit seiner aktuellen Entscheidung stellt der EuGH nun klar: Die Leiharbeitsrichtlinie stellt keine Einschränkung dahingehend auf, dass Leiharbeitskräfte nicht auf dauerhaft eingerichteten Arbeitsplätzen beschäftigt werden dürfen. Die Richtlinie gibt auch keinen zeitlichen Korridor vor. Der Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern soll nur dahingehend einschränkt werden, dass ihre Beschäftigung bei ein- und demselben Entleiher (Kunden) kein Dauerzustand sein soll.

Wann ein solcher Dauerzustand erreicht ist und wann eine über Jahre hin erfolgte Beschäftigung bei einem Kundenunternehmen missbräuchlich und damit unzulässig ist, sagt der EuGH nicht. Zwar könnten die Grenze zum Missbrauch überschritten werden, indem eine Leiharbeitskraft jahrelang auf demselben Arbeitsplatz eingesetzt wird und mehrere Überlassungen aneinandergereiht werden. Anhaltspunkte dafür, ab wann ein Missbrauch bei langjährigem Einsatz anzunehmen ist, gibt das Urteil jedoch nicht. Diese Entscheidung weist der EuGH den nationalen Gerichten zu, die bei ihrer Ermittlung und Bewertung sämtliche spezifischen, relevanten Umstände, insbesondere Besonderheiten der Branche und das Bestehen nationaler Regelungen berücksichtigen müssen.

Die Aussage des EuGH zu den nationalen Regelungen in Deutschland ist hierbei besonders interessant. Einerseits stellt der EuGH klar, dass keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten besteht, eine Höchstüberlassungsdauer zu kodifizieren. Entsprechend wendet er sich auch nicht gegen die vom deutschen Gesetzgeber eingeräumte Möglichkeit, die Höchstdauer durch kollektive Vereinbarungen zu verlängern. Andererseits stellt er jedoch klar, dass die deutsche Übergangsregelung des § 19 AÜG, wonach Verleihzeiten vor dem 1. April 2017 bei der Klärung der Frage, ob eine Überlassung als „vorübergehend“ einzuordnen ist, unberücksichtigt bleiben sollen, gegen Unionsrecht verstößt und unzulässig ist.

Bezogen auf die einzelnen Leiharbeitskräfte betont der EuGH, dass diese aus der Verletzung der Leiharbeitsrichtlinie keine Rechte gegenüber einem privaten Entleiher herleiten können. Der EuGH hat daher entsprechend den Anspruch des Klägers verneint, ohne zu entscheiden, ob sein Einsatz bei Daimler deshalb die Richtlinie verletzte, da er nicht mehr als vorübergehend einzuordnen war.

Hinweise für die Praxis

Für Arbeitgeber und Entleiher beruhigend dürfte zunächst sein, dass weiterhin Leiharbeitskräfte auch auf Dauerarbeitsplätzen eingesetzt werden dürfen. Auch wenn die Entscheidung im Übrigen für Altfälle von Bedeutung ist (also für Einsätze, die vor dem 1. April 2017 begonnen haben), ist sie aber keineswegs ein Freibrief für einen Dauerentleih.

Unternehmen werden sich jedoch in Zukunft auf eine verstärkte Missbrauchskontrolle durch die nationalen Gerichte anhand der Leiharbeitsrichtlinie einstellen müssen. Ein einmalig befristeter Entleih in den zeitlichen Höchstgrenzen des Gesetzes oder eines einschlägigen Entleihertarifvertrages dürfte auch nach der EuGH-Entscheidung nicht zu beanstanden sein.

Vorsicht geboten ist indes bei Entleihketten, bei denen mehrere Einsätze mit kurzer Unterbrechung aneinandergereiht werden. Das deutsche Gesetz lässt bei Unterbrechungen von mehr als drei Monaten die Höchstüberlassungsdauer neu beginnen. Ob dies mit der Leiharbeitsrichtlinie vereinbar ist, werden deutsche Gerichte entscheiden müssen. Entleiher jedenfalls sind gut beraten, die sachlichen Gründen für einen wiederholten Entleih zu prüfen und zu dokumentieren, um einem möglichen Missbrauchsvorwurf später begegnen zu können.

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Gudrun Germakowski, Partnerin bei McDermott Will & Emery

Gudrun Germakowski

Dr. Gudrun Germakowski ist Partnerin bei McDermott Will & Emery in Düsseldorf.
Sandra Urban-Crell, Partnerin bei McDermott Will & Emery

Sandra Urban-Crell

Dr. Sandra Urban-Crell ist Partnerin bei McDermott Will & Emery in Düsseldorf.

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