Ist ein Arbeits­zeit­erfassungs­system schon jetzt Pflicht?

Arbeitsrecht

Müssen Arbeitgeber schon jetzt ein Zeiterfassungssystem einführen, das den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes entspricht? Das Arbeitsgericht Emden befasste sich am 20. Februar 2020 (ArbG Emden, Urteil vom 20. Februar 2020 – 2 Ca 9419) mit der Frage und sprach sich für eine bestehende Pflicht der Arbeitgeber aus.

EuGH – Pflicht zur Einführung eines Zeiterfassungssystems

Der EuGH entschied durch Urteil vom 14. Mai 2019 (C-5518), dass die Mitgliedstaaten Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Zeiterfassungssystem einzuführen, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete Arbeitszeit gemessen werden kann. Den Mitgliedsstaaten verbleibe dabei ein Spielraum bei den konkreten Modalitäten der Umsetzung.

Ein großer Teil der juristischen Literatur vertritt bislang die Auffassung, dass durch das Urteil des EuGHs nur eine Handlungsverpflichtung für die EU-Mitgliedsstaaten ausgesprochen wurde und ein Tätigwerden des deutschen Gesetzgebers notwendig ist. Daher bleibe es bislang bei der Regelung des § 16 Abs. 2 ArbZG.

Arbeitsgericht Emden – Pflicht für Arbeitgeber besteht schon jetzt

Das Arbeitsgericht Emden hat hingegen durch Urteil vom 20. Februar 2020 entschieden, dass die Pflicht zur Einführung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Zeiterfassungssystems auch ohne ein Tätigwerden des deutschen Gesetzgebers oder einer richtlinienkonformen Auslegung des § 16 Abs. 2 ArbZG besteht. Grund dafür sei die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 31 Abs. 2 der EU Grundrechte-Charta (im Folgenden: GrCh). Dieser besagt, dass jeder Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie bezahlten Jahresurlaub, habe. Die Artikel 3, 5 und 6 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG seien im Lichte des Art. 31 Abs. 2 GrCh dahingehend auszulegen, dass sich aus diesen die Pflicht des Arbeitgebers zur Errichtung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung entnehmen lasse. Die Bestimmungen der Arbeitszeitrichtlinie konkretisieren darüber hinaus den Art. 31 Abs. 2 GrCh.

Auswirkungen der Entscheidung

Die Entscheidung des ArbG Emden ist die erste Gerichtsentscheidung nach Ausspruch des Urteils des EuGHs. Zwar gibt es noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung dazu, dennoch könnte die Entscheidung ein Wegweiser dafür sein, wie zukünftig andere Gerichte über die Frage der verpflichtenden Einführung eines Zeiterfassungssystems urteilen könnten.

Für die vom ArbG Emden angenommene unmittelbare Wirkung gegenüber deutschen Arbeitgebern spricht auch, dass der EuGH bereits am 6. November 2018 (C-569/16, C-570/16) entschieden hat, dass das Recht auf bezahlten Jahresurlaub – welches auch aus Art. 31 Abs. 2 GrCh folgt – ein unmittelbarer Anspruch des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber darstellt, ohne, dass es einer Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber bedarf. Gegen eine unmittelbare Wirkung des Art. 31 Abs. 2 GrCh könnte hingegen sprechen, dass deren Wortlaut bezüglich der Begrenzung der Arbeitszeit weniger konkrete Vorgaben macht als beim Recht auf bezahlten Jahresurlaub. Insofern könnte es eines Umsetzungsaktes des nationalen Gesetzgebers bedürfen, aus dem auch Privatpersonen eine konkrete Handlungsverpflichtung ableiten können.

Höheres Risiko für Arbeitgeber beim Vergütungsprozess

Diese Entscheidung und die daraus folgende, bereits zum jetzigen Zeitpunkt bestehende, Verpflichtung zur Einführung eines Zeiterfassungssystems hat insbesondere Auswirkungen im Vergütungsprozess, der auf einer abgestufte Darlegungs- und Beweislast basiert. Im ersten Schritt muss der Arbeitnehmer vortragen und darlegen, wann er wieviel gearbeitet hat und im zweiten Schritt muss der Arbeitgeber sich zu dem Vortrag umfassend äußern. Lässt sich der Arbeitgeber nicht substantiiert auf den Vortrag des Arbeitnehmers ein, gilt der Sachvortrag des Arbeitnehmers als zugestanden. Kann der Arbeitnehmer – wie es im Urteil aus Emden der Fall war – die Arbeitszeiten durch eigene schriftliche Dokumentation nachweisen, kann aber der Arbeitgeber mangels eines Zeiterfassungssystems nicht detailliert erwidern, gilt der Vortrag des Arbeitnehmers als zugestanden und der Arbeitgeber muss die Vergütung für zusätzlich angefallene Arbeitsstunden tragen.

Aktuell: Zeiterfassungssystem in Zeiten der Corona-Pandemie

Auch in der jetzigen Situation ist ein besonderes Augenmerk auf die Zeiterfassung zu richten. Viele Arbeitgeber haben Kurzarbeit eingeführt, in deren Zusammenhang der Zeiterfassung besondere Bedeutung beikommt. Die Agentur für Arbeit prüft nämlich im Rahmen ihrer Abschlussprüfung genau, welche Mitarbeiter in welchem Umfang tatsächlich gearbeitet haben. Dies ist nur möglich, wenn die Arbeitszeit genau nachgewiesen werden kann. Kurzarbeitergeld wird nämlich nur unter Vorbehalt gezahlt, sodass bei einer unzureichenden Zeiterfassung die Gefahr besteht, dass Beträge zurückgezahlt werden müssen. Darüber hinaus besteht das Risiko von Bußgeldern oder sogar eines Leistungs- beziehungsweise Subventionsbetrugs.

Praxishinweis

Mangels weiterer gerichtlicher Entscheidungen liegt es also zum jetzigen Zeitpunkt an den einzelnen Arbeitgebern, wie sie sich in Zukunft verhalten werden. Der sicherste Weg wäre, das vom EuGH geforderte Zeiterfassungssystem schon jetzt einzuführen beziehungsweise bestehende Zeiterfassungssysteme anzupassen, sodass diese den Anforderungen „objektiv, verlässlich und zugänglich“ entsprechen.

Mit Blick auf die Entscheidung des ArbG Emden und die bisherigen Entscheidungen des EuGHs zu Art. 31 Abs. 2 GrCh empfiehlt es sich, nicht darauf zu vertrauen, dass es zur verpflichtende Einführung eines Zeiterfassungssystems zunächst noch einer Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber bedarf. Abzuwarten bleibt, ob sich weitere Gerichte der Auffassung des Arbeitsgerichts Emden anschließen werden.

 

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Timo Karsten, Osborne Clarke

Timo Karsten

Dr. Timo Karsten ist Partner und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Osborne Clarke.
(c) Osborne Clarke

Viktoria Winstel

Rechtsanwältin
Osborne Clarke
Dr. Viktoria Winstel ist Rechtsanwältin bei Osborne Clarke.

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