Gemäß § 17 Abs. 1 KSchG ist der Arbeitgeber im Falle einer geplanten Massenentlassung verpflichtet, vor Entlassung von Arbeitnehmern eine Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit zu erstatten. Die Frage der Zeitbestimmung einer „Entlassung“ schien mit der „Junk“-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und zuletzt durch das Bundesarbeitsgericht (BAG) weitgehend geklärt. Die jüngst unterschiedlichen Bewertungen in der landesarbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zeugen indes nicht von Rechtssicherheit und geben Anlass für eine Standortbestimmung.
Gemäß § 17 Abs. 1 KSchG sind anzeigepflichtige Entlassungen unwirksam, wenn sie vor Erstattung der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit erfolgen. Umso wichtiger ist es, das Anzeigeverfahren vor der ersten Entlassung durchzuführen. Fraglich hierbei ist, wann genau eine Entlassung im Sinne von § 17 Abs. 1 KSchG vorliegt.
Entgegen der früheren Rechtsprechung des BAG, wonach unter Entlassung der Zeitpunkt der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses verstanden wurde (so zuletzt noch das BAG, Urteil vom 24.2.2005 – 2 AZR 207/04), ist heute weitgehend anerkannt, dass „Entlassung“ in richtlinienkonformer Auslegung der zugrundeliegende Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (sogenannte Massenentlassungsrichtlinie) den Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung meint (hierzu eingehend BAG, Urteil vom 23.3.2006 – 2 AZR 343/05).
Das BAG folgte damit dem EuGH, der zuvor mit Urteil vom 27.1.2005 (C-188/03) klargestellt hat, dass die Artikel 2 bis 4 der Richtlinie dahingehend auszulegen sind, „dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, das als Entlassung gilt“. Mit Urteil vom 26.1.2017 (6 AZR 442/16) hat das BAG den Zeitpunkt näher bestimmt und klargestellt, dass der unionsrechtlich determinierte Arbeitnehmerschutz bei Massenentlassungen an den Zugang der Kündigungserklärung als den Zeitpunkt der Entlassung anknüpft und hat damit scheinbar für Rechtssicherheit gesorgt.
Unterzeichnung der Kündigung als Entlassung? Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts (LAG) Baden-Württemberg
Umso mehr überrascht es, dass nach Auffassung des LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 21.8.2018 – 12 Sa 17/18) bereits die Unterzeichnung der Kündigung die Kündigungserklärung und damit die Entlassung gemäß § 17 Abs. 1 KSchG begründe. Eine Kündigung sei hiernach unwirksam, wenn im Zeitpunkt der Unterzeichnung der Kündigung eine Massenentlassungsanzeige noch nicht erfolgt sei. Die Anzeige müsse die Agentur für Arbeit erreichen, bevor der Arbeitgeber die Kündigungsentscheidung trifft und das Kündigungsschreiben unterzeichnet. Dabei verkennt das LAG nicht, dass eine Kündigung gemäß § 130 Abs. 1 S.1 BGB erst mit ihrem Zugang wirksam wird. Die zu Grunde liegende Kündigungsentscheidung des Arbeitgebers werde nach Auffassung des LAG aber bereits zu einem früheren Zeitpunkt getroffen und manifestiere sich in der Abgabe der Kündigungserklärung mit Unterzeichnung des Kündigungsschreibens.
Im darauffolgenden Revisionsverfahren hat das BAG nun am 13.6.2019 (6 AZR 459/18) das Urteil des LAG Baden-Württemberg aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Das Urteil und die Gründe sind bislang unveröffentlicht.
Absenden oder Zugang der Kündigung als Entlassung? Die Entscheidungen des LAG Berlin-Brandenburg
Bereits Anfang des Monats veröffentlichte das LAG Berlin-Brandenburg eine Pressemitteilung (Pressemitteilung Nr. 15/2019 vom 4.6.2019), in der zwei Entscheidungen mitgeteilt wurden, die nicht nur von der Auffassung des LAG Baden-Württemberg abweichen, sondern auch voneinander.
Nach Auffassung der Kammern 18 und 21 des LAG Berlin-Brandenburg sei eine Kündigung nicht bereits deshalb unwirksam, weil diese vor Erstattung der Massenentlassungsanzeige unterzeichnet wurde. Unterschiedlich beurteilten die Kammern dagegen, ob unter Entlassung im Sinne des § 17 Abs. 1 KSchG das Absenden (so das Urteil vom 25.4.2019 – 21 Sa 1534/18) oder der Zugang der Kündigung beim Arbeitnehmer (so das Urteil vom 9.5.2019 – 18 Sa 1449/18) zu verstehen sei. Beide Urteile sind bislang nicht veröffentlicht.
Rechtliche Einordnung
Die Uneinigkeit der Landesarbeitsgerichte erstaunt vor dem Hintergrund der Entscheidungen des EuGH und BAG. In richtlinienkonformer Auslegung knüpft die Anzeigepflicht des § 17 Abs. 1 KSchG an die Kündigungserklärung an. Bei dieser handelt es sich um eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die erst mit ihrem Zugang wirksam wird. Hierfür genügt weder die Unterzeichnung der Kündigung noch die Entäußerung aus dem Machtbereich des Erklärenden. Nichts anderes ergibt sich insoweit aus den Vorgaben der Junk-Entscheidung. In dieser differenziert der EuGH zwischen der Mitteilung der Kündigung als Ausdruck der Entscheidung, ein Arbeitsverhältnis zu beenden, und der tatsächlichen Beendigung nach Ablauf der Kündigungsfrist als Wirkung der Entscheidung. Eine Mitteilung der Kündigung ist nach deutschem Recht erst dann erfolgt, wenn die Erklärung zugegangen ist (§ 130 Abs. 1 S. 1 BGB). Bis zu diesem Zeitpunkt ist auch keine bindende Entscheidung getroffen, wie sich aus der Widerrufsmöglichkeit des § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB ergibt.
Weder der Regelungszusammenhang noch der mit der Regelung verfolgte Zweck, die nach dem EuGH im Rahmen der Auslegung zu berücksichtigen sind, führen zu einer abweichenden Bewertung. Anders als das Konsultationsverfahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG, in welchem der Betriebsrat durchaus Einfluss auf die Entscheidung des Arbeitgebers zur Durchführung der geplanten Entlassungen nehmen soll und das in erster Linie Maßnahmen zur Vermeidung oder Einschränkung der geplanten Entlassungen zum Gegenstand hat, verfolgt die Anzeigepflicht – nach richtlinienkonformem Verständnis – vordergründig den Zweck, die Agentur für Arbeit in die Lage zu versetzen, die Folgen der Entlassungen für die Betroffenen möglichst zu mildern (BAG, Urteil vom 21.3.2013 – 2 AZR 60/12). Zweck der Regelung ist es dagegen nicht, die Agentur für Arbeit zu veranlassen, auf die Kündigungsentscheidung des Arbeitgebers einzuwirken und Arbeitnehmer vor Ausspruch einer Kündigung zu schützen. Insoweit widerspricht der Zweck der Regelung nicht dem Verständnis, wonach erst der Zugang der Kündigung die Entlassung im Sinne von § 17 Abs. 1 KSchG bewirkt und es genügt, dass die Anzeige die Agentur für Arbeit vor Zugang der Kündigung erreicht.
Praxistipp
Die Entscheidungen des LAG Baden-Württemberg und LAG Berlin-Brandenburg offenbaren, dass die für die Praxis bedeutsame Frage des Zeitpunktes der Entlassung nach § 17 Abs. 1 KSchG noch immer nicht rechtssicher geklärt scheint. Für Arbeitgeber begründet dies zumindest das Risiko der Unwirksamkeit von voreilig entäußerten Kündigungen beziehungsweise eines langen Verfahrens durch die Instanzen. Es bleibt zu hoffen, dass die Entscheidungsgründe des jüngsten BAG-Urteils vom 13.6.2019 mehr Klarheit als Verunsicherung stiften. Zur Vermeidung von erst- und zweitinstanzlichen Überraschungen sind Arbeitgeber gut beraten, die Massenentlassungsanzeige zumindest vor Absendung der Kündigung zu erstatten, auch wenn letztlich der Zugang der Kündigung entscheidend sein dürfte. Es ist allgemein anerkannt, dass die Schriftform des § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG auch durch Telefax oder Telegramm gewahrt werden kann (vergleiche hierzu LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.5.2016 – 18 Sa 32/16), nicht jedoch durch E-Mail. Im Sinne einer zeitlichen Straffung des Verfahrens kann die Massenentlassungsanzeige folglich auch per Telefax erstattet werden und so noch am selben Tag, nach Erhalt des Faxsendeprotokolls, die Kündigung entäußert und zugestellt werden.
Hinweis: Einen Überblick über aktuelle Probleme bei Erstattung einer Massenentlassungsanzeige und Praxistipps mit weiteren Erläuterungen finden Sie bei Seidel/Wagner, Aktuelle Probleme bei der Massenentlassungsanzeige, BB 2018, 692 ff.