Freiheit gilt als höchster Wert unserer westlichen Gesellschaft. Und so nimmt es kaum Wunder, dass Unternehmen zunehmend mit Arbeitsbedingungen wie Flexibilität, Eigenverantwortung und frei wählbaren Arbeitsorten und -zeiten um Mitarbeiter werben. Die Probleme, die Freiheit mit sich bringt, werden dabei jedoch unterschlagen, sagt Hans-Jürgen Arlt, Honorarprofessor für Theorie und Praxis der Kommunikation an der Universität der Künste in Berlin.
Herr Professor Arlt, Sie forschen zum Thema Arbeit und Freiheit. Unter welchen Voraussetzungen fühlt sich der Mensch denn wirklich frei?
Menschen sind dann frei, wenn sie über ihr Tun und Lassen selbst entscheiden können. Dort, wo sie weder Notwendigkeiten unterworfen noch mit Unmöglichkeiten konfrontiert sind, haben Menschen Freiheiten. Im Arbeitsleben ist der Mensch eher weniger frei.
Wie lässt sich Freiheit messen?
Daran, ob ich solche Fragen selbst entscheide: Wo bin ich tätig? Wann bin ich tätig? Was mache ich wie lange und wie? Mit wem arbeite ich auf welche Weise zusammen? Wem bin ich gleichgestellt, wem untergeordnet?
„Freiheit gilt als der höchste Wert der westlichen Kultur und gleichzeitig zwingt die Moderne die Menschen dazu, möglichst viel und lange zu arbeiten.“
Wie frei sind Angestellte heute? Schließlich müssen selbst Banker nicht mehr eng gebundene Krawatten tragen. Äußere Korsetts verschwinden. Wie sieht es mit den inneren Korsetts aus?
Freiheit gilt als der höchste Wert der westlichen Kultur und gleichzeitig zwingt die Moderne die Menschen dazu, möglichst viel und lange zu arbeiten. Und dadurch, dass wir heute in unserem Leben vieles selbst entscheiden, wird uns auch die alleinige Verantwortung für unsere Biografie in die Schuhe geschoben. Wer versagt, ist nach dieser Logik selbst schuld – als ob wir alle unsere Lebensumstände selbst bestimmen könnten.
Was bedeutet das für unsere Arbeit?
Aus einem Rappen wird mit ein paar weißen Flecken noch kein Schimmel. Arbeit stammt aus dem Reich der Notwendigkeit und sie wird in der Geldwirtschaft als Kostenfaktor behandelt. Allein deswegen wird es immer Schranken für die Freiheit der Beschäftigten geben. Dennoch ist der Entscheidungsspielraum, den Angestellte heute haben, größer geworden.
Globalisierung und Digitalisierung ändert die Routinen
Sie beobachten also eine Freiheitsbewegung in der Arbeitswelt?
Die Frage ist, ob Angestellte selbst auf mehr Entscheidungsfreiheiten gedrängt haben oder ob diese Bewegung von den Unternehmen initiiert wurde. Denn durch Beschleunigung, Globalisierung und Digitalisierung funktionieren bestimmte Routinen gar nicht mehr. Über Arbeitsabläufe muss immer wieder neu entschieden werden. Die Unternehmensspitze kann gar nicht mehr alles alleine entscheiden. Führungskräfte müssen Verantwortung abgeben und nennen das dann einen Zugewinn an Freiheit für die Arbeitnehmer.
Wird Freiheit eher als Lockmittel benutzt?
Genau. Denn das Angebot, mehr selbst entscheiden zu dürfen, resultiert aus den Notwendigkeiten heutiger Erfolgsbedingungen von Unternehmungen. Natürlich kann das positive Effekte für die Beschäftigten haben. Aber es handelt sich um Nebenwirkungen, die sehr schnell zurückgenommen werden, wenn sie nicht mehr in die Strategie des Unternehmens passen. Unternehmen werben auch mit Freiheit, weil sie attraktiv für Bewerber sein müssen. Die Probleme, die Freiheit auch mit sich bringt, werden dabei immer unterschlagen.
„Man fürchtet das Urteil anderer, das man nicht voraussehen kann. Das ist ein zusätzlicher Stressfaktor, der den normalen Stress bei Entscheidungen deutlich erhöht.“
Welche Probleme sind das?
Man hat die Qual vor der Wahl und die Qual nach der Entscheidung. Da ist der nagende Zweifel, ob man sich nicht doch hätte anders entscheiden sollen. Es gibt in Unternehmen kein intensiveres Bemühen als das, im Nachhinein für die richtigen Entscheidungen zuständig und für falsche Entscheidungen nicht zuständig gewesen zu sein. Das hat es an der Spitze schon immer gegeben und es setzt sich nun fort in die zweite, dritte und vierte Ebene. Und hier urteilen stets andere als die Entscheidungsträger selbst über die jeweils getroffene Wahl. Man fürchtet das Urteil anderer, das man nicht voraussehen kann. Das ist ein zusätzlicher Stressfaktor, der den normalen Stress bei Entscheidungen deutlich erhöht.
Stressbedingte Erkrankungen bei Arbeitnehmern nehmen rapide zu. Eine Folge von zu viel Freiheit?
Da besteht ein direkter Zusammenhang. Entscheidung ist die Handlungsweise, die für Freiheit typisch ist. Und wer entscheidet, trägt Verantwortung. Und das bedeutet Stress, der in Euphorie oder Depression ausarten kann. Jüngere Menschen scheinen sich dessen bewusst zu sein.
Mehr Sicherheit. Mehr Freiheit.
Gemäß einer Umfrage sehnt sich die Generation Y eher nach den Sicherheiten des öffentlichen Dienstes als nach der vermeintlich freieren Arbeitswelt von Agenturen.
Sie wollen beides: mehr Sicherheit und mehr Freiheit. Die Entscheidung zwischen Sicherheit oder Freiheit ist gesellschaftlich auch nicht mehr notwendig. Wenn wir Arbeit anders organisieren, Stichwort Grundeinkommen, dann müssen wir dieses Entweder-oder gar nicht mehr aushalten.
Wäre das bedingungslose Grundeinkommen eine Lösung, damit Menschen wieder freier werden?
Die Wirtschaftsleistung ist mittlerweile so produktiv geworden, dass ein Grundeinkommen für alle garantiert werden kann. Stattdessen müssen in einem Land wie Deutschland Millionen Menschen Angst haben, weil ihre soziale Existenz davon abhängt, dass sie eine bestimmte bezahlte Arbeitsleistung erbringen. Und das unter Bedingungen, unter denen Arbeit als Kostenfaktor gilt, denn wer Beschäftigung anbietet, versucht dafür möglichst wenig zu bezahlen. Dieser Zwang, sich zu verkaufen und im Zweifelsfall jede Drecksarbeit anzunehmen, würde durch das Grundeinkommen relativiert werden. Es wäre ein Beitrag zu einer Befreiung.
Sind wir nicht schon befreiter? Oder leben wir, um zu arbeiten?
Arbeit ist die Antwort auf einen Bedarf: Wenn ich nichts mehr brauche, brauche ich auch nicht zu arbeiten. Allerdings drängt uns die aktuelle Wirtschaft dazu zu leben, um zu arbeiten. Sie versucht ständig Bedarf zu wecken, damit gearbeitet und auf diese Weise mehr Geld erwirtschaftet wird.
Warum?
Weil es in der Geldwirtschaft primär um die Vermehrung von Geld geht, kann sie sich mit befriedigtem Bedarf nicht zufriedengeben. Arbeit löst vorhandene Probleme. Die Geldwirtschaft problematisiert vorhandene Lösungen. Sie versucht, das bisher Erreichte alt aussehen zu lassen, und sucht Menschen, die ihr dabei folgen. Deshalb drängt die Geldwirtschaft zur unendlichen und unaufhörlichen Arbeit.
„Uns wird immer mehr die Vorstellung geraubt, dass es jenseits von Arbeit andere sinnvolle Tätigkeiten gibt.“
Gibt es für Sie eine Idealvorstellung von freier Arbeit?
Man muss unterscheiden zwischen Befreiung von der Arbeit und Befreiung innerhalb der Arbeit. Natürlich bleiben verbesserte Arbeitsbedingungen ein sinnvolles Ziel, aber es bleibt eben Arbeit. Uns wird immer mehr die Vorstellung geraubt, dass es jenseits von Arbeit andere sinnvolle Tätigkeiten gibt. Dabei leben wir unter Bedingungen, die die Frage nach der Befreiung von der Arbeit dringlich machen.
Zumal Unternehmen auch daran gelegen ist, freiere Arbeitsbedingungen zu schaffen, um innovationsfähig zu bleiben.
Richtig. Es geht heute weniger um die Herstellung von Massenprodukten und mehr darum, sogenannte kundenorientierte Lösungen anzubieten. Dafür braucht man Beschäftigte, die kreativ und innovativ sind. Und das können sie nur sein, wenn sie freier denken, handeln und kommunizieren können.
Demokratie oder Kulturverfall
Stichwort Kommunikation: In welchem Verhältnis stehen Freiheit und Digitalisierung beziehungsweise Social Collaboration und Arbeit?
Das ist die alte Technikdiskussion: Inwieweit führt Technik zur Befreiung, inwieweit zur Einschränkung und Unterwerfung? Die Digitalisierung führt dazu, dass immer mehr Menschen sich an der Kommunikation beteiligen können. Einerseits gibt es mehr Beteiligung und Mitbestimmung und andererseits mehr Kontrolle und Regie von außen. Die einen feiern die Entwicklung als Demokratisierung, die anderen kritisieren sie als Kulturverfall. Wer am Ende recht behalten wird, ist noch nicht klar. Ich bin momentan allerdings weniger optimistisch.
Zumal mit der Digitalisierung das Thema Arbeit auch im Privatleben allgegenwärtig wird. Der Schritt zur ständigen Kontrolle der Mitarbeiter ist nicht weit. Bei Amazon soll es zukünftig sogar eigene Kliniken für die Mitarbeiter geben. Service oder goldener Käfig?
Wenn Arbeit und Privatleben verschwimmen, muss man fragen, in welche Richtung die Strömung treibt. Das Blending kann die Ökonomisierung des Lebens vorantreiben. Wer heute ernsthaft Karriere machen will, kann es sich kaum noch leisten, nicht ständig an die Arbeit zu denken. Es ist ein zwiespältiger Trend, der dazu beiträgt, dass wir alle nur noch leben, um zu arbeiten.
„Freiheit ist immer relativ. Freiheit ist zwar eine Norm geworden, aber absolute Freiheit ist Wildwest mit vielen Toten.“
Das geht so weit, dass wir mittlerweile alles Mögliche in unserem Leben als Arbeit bezeichnen: Da wird selbst ein Beziehungsverhältnis zur Beziehungsarbeit.
Wenn man sich jedes sinnvolle Tun nur noch als Arbeit vorstellen kann, hat man bald keine anderen Begriffe mehr dafür. Bestimmte Tätigkeiten sind deswegen käuflich geworden wie zum Beispiel die Paartherapie. Und dann handelt es sich ja in der Tat um eine Arbeitsleistung. Generell soll möglichst viel monetarisiert werden. Die Debatte um eine zunehmende Privatisierung und Entstaatlichung ist ein Symptom dessen.
Es wird heute oft davon gesprochen, dass wir arbeiten, um uns selbst zu verwirklichen. Machen wir uns etwas vor?
Dass Menschen, die wirklich leben, sich auch noch selbst verwirklichen müssen, ist eine relativ fragwürdige Entwicklung. Geradezu pervers wird diese Konstellation dadurch, dass die Selbstverwirklichung eng mit der Arbeit verknüpft wird. Die Arbeitsgesellschaft kann sich sinnvolles Tun nur als Arbeit, insbesondere als Erwerbsarbeit, vorstellen. Alle anderen Tätigkeiten, in denen ich mich entfalten kann, die mir vielleicht Spaß machen, mit denen ich vielleicht sogar anderen helfe, werden abgewertet. Sie werden nur im Vergleich zur Erwerbsarbeit gesehen, nämlich als Erholung für die eigentliche Arbeit.
„Freiheit heißt eben nicht nur Unabhängigkeit, sondern unterliegt auch vielen Abhängigkeiten.“
Erholen sollen wir uns also in der Freizeit. Aber sind wir denn in der Freizeit wirklich frei?
Dass wir die Zeit außerhalb der Arbeit als Freizeit bezeichnen, hängt damit zusammen, dass wir Arbeit als unfrei erleben. Allerdings sind wir auch in der Freizeit mit Erwartungen an uns selbst und mit den Erwartungen anderer konfrontiert. Es geht dabei um soziale Anerkennung. Freiheit heißt eben nicht nur Unabhängigkeit, sondern unterliegt auch vielen Abhängigkeiten.
Zumal der Mensch in seiner Geschichte nie frei absolut frei gewesen, sondern stets Knecht seiner Grundbedürfnisse ist.
Das ist das eine. Und das andere ist: Freiheit ist immer relativ. Freiheit ist zwar eine Norm geworden, aber absolute Freiheit ist Wildwest mit vielen Toten.
Neulich sagte mir ein Personaler, der enerviert war von kritischen Anmerkungen über das Unternehmen, für das er arbeitet: „Es muss ja niemand hier arbeiten.“ Was halten Sie davon?
Das ist eine klassische Pointe der freiheitlichen Gesellschaft, in der wir leben: Der Sohn des Bauern muss nicht mehr Bauer werden, eine Schauspielerin kann Prinzessin werden. Man kann an seiner Biografie selbst basteln. Wenn ich mich für die Arbeit in einem Unternehmen entschieden habe, bin ich in meiner Kritik und in meinem Protest gehemmt, denn ich muss mir immer sagen lassen: Du kannst ja auch woanders arbeiten.
Und, können wir so einfach auch woanders arbeiten?
Dürfen und Können sind zweierlei. Aber was ist realistisch und was nur Illusion? Am Ende geht es generell um die Frage der Befähigung. Eine Gesellschaft, die das Attribut freiheitlich wirklich verdient, kann es nicht dabei belassen zu sagen: Du darfst, aber ob du kannst, ist dein Problem!
Hans-Jürgen Arlt ist Honorarprofessor am Institut für Theorie und Praxis der Kommunikation an der Universität der Künste in Berlin. Er forscht, lehrt und publiziert zu den Themen demokratische Öffentlichkeit und Zukunft der Arbeit. Von 1990 bis 2003 leitete er die Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Arlt war Zeitungsredakteur und hat mehrere Jahre in der Redaktion der Nürnberger Nachrichten gearbeitet und ist Autor von „Arbeit und Freiheit. Eine Paradoxie der Moderne“ und „Arbeit und Muße. Ein Plädoyer für den Abschied vom Arbeitskult“.