Wenn Firmen ihre Unternehmenswerte festschreiben, zählt Mut nicht zu den am häufigsten gewählten Begriffen. Einige Firmen sind dennoch so mutig, Mut ausdrücklich anzustreben – und wollen damit vor allem eines: zeigen, dass sie ihren eigenen Mitarbeitern vertrauen.
Der Zuckerhersteller Nordzucker aus Braunschweig hat seine Unternehmenswerte vor drei Jahren zu Papier gebracht, nach einem langen, aufwändigen Prozess. Seitdem ganz oben im Wertekanon von Nordzucker mit dabei: Courage. Die Mitarbeiter entschieden sich ganz bewusst für die französisch angehauchte Version des Wortes Mut: „Der Begriff steht nicht nur dafür, sich etwas zu trauen, sondern sich aktiv für seine Überzeugung einzusetzen und damit ein Vorbild für eine offene Unternehmenskultur zu sein“, sagt Konzern-Personalchefin Inga Dransfeld-Haase. Für sie ist Courage derjenige Wert, der die anderen überstrahlt: „Innovationen vorantreiben, Ziele verfolgen, aus Fehlern lernen, all das erfordert Courage“, sagt die Personalchefin. „Für mich ist das ein brillanter Unternehmenswert, der auf gewisse Weise aus den anderen herausragt, so eine Art Joker.“ Und das explizite Aufschreiben des Wertes fördere eine entsprechende Haltung der Mitarbeiter, weil die sich aktiv auf eben diesen Wert beziehen und in der alltäglichen Kommunikation auch schwierige Themen offen ansprechen können.
Mitarbeiter haben gelernt, sich erst einmal abzusichern
Viele deutsche Großunternehmen und Mittelständler haben in den vergangenen Jahren Werte als übergeordneten Rahmen und Leitbild festgeschrieben, nach denen Mitarbeiter, Führungskräfte und Chefetage handeln sollen. Von der Kundenzufriedenheit, von Verantwortung des eigenen Handels und von Nachhaltigkeit ist dann häufig die Rede – nur hin und wieder auch von Mut. „Dieser Wert ist nicht so gängig wie viele andere“, beobachtet die auf Firmenwerte spezialisierte Managementberaterin Andrea Jansen aus Darmstadt. Dabei hält die Trainerin den Wert an sich durchaus für sinnvoll. Denn in vielen Konzernen würden Mitarbeiter dazu erzogen, Entscheidungen herauszuzögern und neue Entwicklungen auszubremsen aus Angst zu scheitern. „Ursache dafür sind häufig veraltete Strukturen in Unternehmen, die Fehler stark sanktionieren. In der Folge sichern sich Mitarbeiter vor allem ab, um nicht angreifbar zu sein. Diese Haltung nimmt aber die Chance, sich weiterzuentwickeln und innovativ zu sein.“
Der Unternehmenswert Mut sei dann ein geeigneter Schlüssel, um eine neue Fehlerkultur einzuführen, bei der Misserfolge nicht als Karrierehemmnis, sondern als erkenntnisbringend zählen. „Dafür muss man natürlich auch Prozesse ändern und zum Beispiel frühe Lernschleifen einbauen, um nachsteuern zu können“, sagt Jansen. Beim Mut gelte grundsätzlich das Gleiche wie für alle Unternehmenswerte: „Man muss sie mit Leben füllen und für Mitarbeiter erlebbar machen. Wenn sie nur eine leere Hülle sind, sind sie nutzlos und können sogar Schaden anrichten, weil das Unternehmen an Glaubwürdigkeit verliert. Das gilt erst recht fürs mutig sein.“ Zudem rät Jansen, den Wert zu konkretisieren, damit Mitarbeiter nicht übers Ziel hinausschießen: „Mut kann auch so verstanden werden, dass man besonders hohe Risiken eingeht. Das ist für Unternehmen sicherlich nicht förderlich.“
Bei Nordzucker war eine große Akquisition vor mehreren Jahren der Auslöser dafür, sich über die Unternehmenswerte Gedanken zu machen. Über drei Jahre hinweg saßen Führungskräfte sowie Mitarbeiter von altem und neuem Unternehmensteil immer wieder in verschiedenen Runden beisammen, bis man 2012 schließlich die Werte gemeinsam erarbeitet hatte. „Wenn man zwei Unternehmen aus verschiedenen Kulturkreisen erfolgreich zusammenführen will, ist ein gemeinsamer Wertekanon unerlässlich“, sagt Personalchefin Dransfeld-Haase. „Wir haben überlegt, was uns verbindet. Auf Berater haben wir dabei bewusst verzichtet. Uns war klar, dass das aus dem Unternehmen selbst kommen muss, deshalb war jeder Mitarbeiter Teil des Prozesses.“ Nordzucker organisierte zum Beispiel Workshops, in denen Mitarbeiter und Führungskräfte diskutierten, was sie unter welchen Werten verstehen. „Verantwortung ist für uns zum Beispiel ein leicht zu fassender Begriff“, sagt die Personalchefin. „Wir arbeiten in der Lebensmittelbranche, das Einhalten von Audits und Standards zum Beispiel zählt für uns zum täglichen Geschäft. Bei der Courage war das schon schwieriger.“
Wertebotschafter laden zu Diskussionen ein
In dem schlussendlich gefertigten Wertebuch stehen zu jedem Begriff auch konkrete Beispiele. Bei Courage ist etwa eine Situation geschildert, in der der Chef eine Mitarbeiterin nach ihrer Meinung fragt, die Kollegin sich aber nicht traut, ehrlich zu antworten. Mittlerweile wären solche Beispiele vermutlich nicht mehr nötig. Dafür sorgen sogenannte Wertebotschafter im Unternehmen: Rund 80 Mitarbeiter an 19 Standorten haben sich freiwillig erklärt, die Werte bei Nordzucker offensiv zu propagieren, vom Auszubildenden bis zum Vorstand. In eigens geschaffenen Veranstaltungen wie dem sogenannten Wertekaffee laden die Botschafter als Moderatoren ein, über Themen mit Wertebezug zu diskutieren – und schaffen damit Verbindungen zwischen Menschen und Gelegenheiten zum Reden innerhalb des Unternehmens, die es sonst so nicht geben würde. Zu diesen Dialogformaten zählt auch der Value-Walk: Ein spontaner Spaziergang, bei dem man sich mit einem Kollegen aussprechen kann, mit dem man ein Problem hat. Die Idee dahinter: Es fällt leichter, couragiert zu sein und seine Meinung offen auszusprechen, wenn das Unternehmen dafür einen gewissen Rahmen schafft.
Für den Online-Modehändler Zalando stand der Unternehmenswert Mut von Beginn an ganz oben auf der Tagesordnung. „Wir haben schon immer Dinge getan, die andere nicht für möglich gehalten haben“, sagt Zalando-Personalchefin Frauke von Polier. Dazu zählen etwa ein 100-tägiges Rückgaberecht für gekaufte Ware und der kostenlose Versand, der inzwischen bei vielen Händlern Standard ist. „Mut ist ein entscheidender Faktor für den Unternehmenserfolg von Zalando“, sagt von Polier. Das Konzept geht offenbar auf: Vor sechs Jahren beschäftigte Zalando gerade einmal 400 Mitarbeiter, 2012 waren es bereits 5.000, derzeit sind es 11.000. Vor vier Jahren hat die Geschäftsleitung die Unternehmenswerte schriftlich fixiert: „Wir haben damals eine Firmengröße erreicht, bei der man Werte explizit kommunizieren muss, damit sie tatsächlich auch überall im Unternehmen bekannt sind“, sagt von Polier. „Das ändert nichts daran, dass man die Werte auch leben muss.“
Heißt für den Wert Mut im Joballtag bei Zalando konkret: Mitarbeiter darin bestärken, Entscheidungen zu treffen und eine gewisse Autonomie unterhalb der Führungsebene zuzulassen. „Wichtig ist uns, dass eine Entscheidung gut überlegt ist“, sagt von Polier. „Ob sie dann letztlich richtig oder falsch ist, steht auf einem anderen Blatt.“ Auch die Geschäftsleitung lebt den Wert vor, indem sie den Beschäftigten gegenüber regelmäßig offen über ihre Strategie spricht. Im sogenannten „z-Talk“ alle 14 Tage berichten die obersten Chefs über die aktuelle Lage des Unternehmens und stellen sich im Anschluss eine halbe Stunde lang den Fragen der Mitarbeiter. Rund 150 bis 200 Beschäftigte sind in der Regel direkt vor Ort, mehr als 1.000 schalten sich regelmäßig per Web-Übertragung zu und können ihre Fragen loswerden – die Community entscheidet, welche Themen es live auf die Bühne schaffen. „Es zählt für uns zu einer mutigen Unternehmensführung, offen und ehrlich zu den Mitarbeitern zu sein und zu Dingen Stellung zu beziehen, die nicht optimal laufen“, sagt von Polier.
Derzeit strafft Zalando seine Unternehmenswerte. Der Slogan „wear sneakers not ties“ wird zum Beispiel künftig nicht mehr bei den explizit formulierten Unternehmenswerten zu finden sein. Nicht, weil bei Zalando plötzlich doch alle im Schlips antreten müssen, sondern weil die informelle Kleidung am Arbeitsplatz sich gesellschaftlich längst so etabliert hat, dass man nicht mehr extra darauf hinweisen muss. „Es macht keinen Sinn, in den Unternehmenswerten etwas zu kommunizieren, was ohnehin selbstverständlich ist“, sagt von Polier.
Mut hingegen wird weiterhin als wichtigster Unternehmenswert an der Spitze stehen. „Ideen zu haben, scheinbar Unmögliches durchzudenken und dann auch umsetzen zu wollen, ist unser Antrieb“, sagt von Polier. „Wir glauben, dass Menschen in ihrem Innersten mutig sein wollen. Viele werden aber im Laufe ihres Lebens von außen so geprägt, dass sie keine Fehler machen dürfen. Bei uns dürfen sie wieder mutig sein. Und das ist eben nach wie vor nicht selbstverständlich.“
Delegieren als Teil der Unternehmenskultur
Beim Möbelhaus Ikea ist „Mut zum Anderssein“ schon jahrzehntelang in der Unternehmensgeschichte verankert. Firmengründer Ingvar Kamprad machte schon bald nach der Gründung seines Möbelhandelsunternehmens Mitte des vergangenen Jahrhunderts so ziemlich alles anders als die Konkurrenz: Er kaufte nicht auf Möbelmessen ein, sondern produzierte seine Möbel selbst, baute Verkaufshäuser auf der grünen Wiese und nicht in der Innenstadt und ließ die Möbel obendrein von den Kunden selbst zusammenbauen. „Es war zweifelsohne mutig, dieses Konzept mit all seinen Neuerungen auszuprobieren“, sagt Isolde Debus-Spangenberg, die als Kommunikations-Managerin bei Ikea auch die Unternehmenswerte vorantreibt.
1976 war das Unternehmen bereits so groß, dass Ikea-Chef Kamprad die Firmenwerte zu Papier brachte, um sie aktiv an seine Mitarbeiter und die Außenwelt zu kommunizieren. „Wille zur Erneuerung“ und „Streben nach Realität“ sind eng mit dem Mut verbunden, Neues zu probieren – immer mit dem Ziel, Ideen auch tatsächlich umzusetzen. Mutig sein gehört bis heute zu den Unternehmenswerten von Ikea: „Wir erwarten, dass Bewerber unsere Unternehmenswerte kennen und sich damit auseinandersetzen“, sagt Debus-Spangenberg. „Uns ist die Identifikation mit den Werten wichtiger als Zeugnisnoten.“ Dafür verspricht Ikea Personalentwicklung und Aufstiegschancen unabhängig vom akademischen Grad. „Es gehört zu unserer Führungskultur, zu delegieren und Menschen Entscheidungen treffen zu lassen. Solche Handlungsspielräume einzuräumen und zu nutzen erfordert Mut. Und genau den brauchen wir damals wie heute, um erfolgreich zu sein.“