Es „brüderlet“ überall – auch in Unternehmen. Wie professionell handhabt HR eigentlich den Faktor Macht? Die Einbeziehung klinisch-psychologischer Kenntnisse in die Ausbildung von Personalmanagern ist dringend notwendig.
Unternehmen verfolgen strategische, in der Regel gewinnbringende, wirtschaftliche Ziele. Die handelnden Entscheidungsträger sind ausgestattet mit der entsprechenden, mehr oder weniger notwendigen Fülle an Macht. Im positiven Sinne ist Macht die Fähigkeit, Organisationsarbeit auszuführen – qua Autorität, die von der Institution übertragen wurde, aufgrund fachlicher, persönlicher und intellektueller Kompetenzen oder per Delegation von Legitimierten. Diese delegierte oder geliehene Macht ist in erster Linie an die Position, weniger an die Person gebunden. Nichtsdestotrotz ist aber die Person Träger der Macht.
Eher die schönen Seiten
Sieht man sich in der Welt der Mächtigen – ganz gleich ob in Politik oder Wirtschaft – um, so stellt sich mir als Personalerin die Frage, ob wir uns mit dem Thema Macht ausreichend auseinandergesetzt haben. Die oft zitierte Verführungskraft von Macht impliziert, dass es einer starken Persönlichkeit bedarf, um Macht integrieren, das heißt konstruktiv tragen zu können. Sind wir als HRler ausreichend ausgebildet, um diese Persönlichkeiten im Rahmen des Recruitments erkennen, begleiten oder entwickeln zu können? Erkennen wir die „schwarzen Schafe“, die narzisstischen Charismatiker, die aufgrund ihrer Pathologie ein Unternehmen bis in die Zerstörung lenken können?
Soziokulturelle und organisationsspezifische Werte und Normen können keinen hinreichenden Schutz, keine ausreichenden externen Leitplanken setzen, um Machtmissbrauch zu verhindern. Sehen wir uns die Brüderle-Sexismus-Debatte an. Hier wird eines deutlich: Weder ausreichende Grenzziehung gegenüber machtmissbräuchlichem Verhalten durch eine intensiv geführte öffentliche Diskussion noch unsere aufgeklärte, Gleichberechtigung propagierende Gesellschaft weist Träger von Macht in ihre Schranken. Aussitzen als Lösungsweg ist auch Ausdruck gelebter Macht.
Es „brüderlet“ überall: Macht, ob zugesprochen oder genommen, ererbt oder erworben, ergreift Besitz von der „DNA“ des Trägers – wird so von einer äußeren Rollenschale zum inneren Inventar des Trägers. Damit muss sich auch HR auseinandersetzen. Es hat sich jedoch in der Regel eher den schönen Seiten verschrieben, der Personal- oder der Führungskräfteentwicklung zum Beispiel. Es geht um Aus- und Aufbau und den Blick auf die positiven Potenziale und Perspektiven. Der Aspekt des „Nein“, der Trennung, der Grenze der Veränderbarkeit, scheint die optimistische Grundstimmung eines Unternehmens oder Organisation zu bedrohen. Selten werden von HR die destruktiven Prozesse beleuchtet und konsequent handelnd angegangen. Nicht nur in der Politik, oft auch in Unternehmen werden zerstörerische (pathologische) Prozesse tabuisiert, verdrängt und verleugnet. Warum?
Weil es einer fundierten Auseinandersetzung mit Macht und Ohnmacht, Autonomie, Abhängigkeit und Unterwerfung bedürfen würde – bis hin zur kritischen Selbstreflektion der eigenen Biografie. Wie viel Macht kann der Einzelne tragen? Was benötigt man um Macht gut und unbeschadet tragen zu können? Was kann HR tun, um die „richtigen“ Träger zu finden beziehungsweise zu entwickeln? Verfügen wir HRler wirklich über ausreichendes diagnostisches und interventionelles Wissen und Strategien?
Negative Wirkungen
Die Aufgabe des Personalers ist die Betrachtung (Diagnostik) des Einzelnen in seinen komplexen Bezügen – in sich und mit seiner Umwelt. Immer ist Macht Ausdruck einer intrapersonellen und interaktionellen Balance. Macht zeigt sich in der Handlung wie auch in der Gestaltung von (Arbeits-)Atmosphäre. Wie hinlänglich bekannt, kann das Betriebsklima Energien fördern, Kreativität ermöglichen, Innovationen treiben, Veränderungen begünstigen, Leistungen steigern – in positiver wie auch in negativer Hinsicht. Machtmissbrauch, Unreife oder manifeste Pathologien der Machtträger können also ganze Abteilungen, Organisationen, Unternehmen negativ beeinflussen und zerstören.
HR-Verantwortlichen sollte es genau deshalb wichtig sein, sich im Bereich der Diagnostik, der klinischen Psychologie zu professionalisieren. Es reicht eben nicht aus, Potenziale zu erkennen und mittels guter Personalentwicklungsinstrumente zu entwickeln. Denn in Anbetracht der demografischen Situation ist der Druck hoch, offene Vakanzen mit Top-Kandidaten zu besetzen. Das Thema Matching oder Passung zum Chef, den unmittelbaren Kollegen, dem Team oder der Gruppe und letztlich zum Unternehmen erfolgt häufig lediglich unter der primären Betrachtung vergangener Erfolge und Leistungen sowie zukünftiger Potenziale. Auch Sach- und Fachkompetenz sind kein ausreichender Indikator um zukünftige Erfolge im neuen Umfeld zu garantieren.
Die Einbeziehung klinisch-psychologischer Kenntnisse in die professionelle Aus-, Fort- und Weiterbildung von HRlern ist dringend notwendig. Das Assessment-Center, der Einsatz diverser Testverfahren, die Delegation der Begutachtung hin zu externen Personalberatungen entlasten den Personaler in seiner Primärverantwortung wenig. In der Regel liegt die Empfehlung zur Durchführung dieser Verfahren bei den Personalern. Schon die Auswahl der externen Begutachter, die Diskussion über die verwandten Testverfahren, das Verstehen und Einordnen der Ergebnisse setzen eine tiefergehende Kenntnis der Materie voraus.
Jedes Ressort wird gemessen an seinen Erfolgen in Hinblick auf seine Verantwortung im Unternehmen. Gleiches gilt für HR. Das Thema Recruitment, Besetzung und Onboarding, besonders im Top-Management, gehört zu den machtvollsten und für das Unternehmen vital bestimmenden Bereichen. HR selbst ist also durchaus auch eine Disziplin, die machtvoll ist.