Weg vom Verwalten von Bewerbern hin zu einem Recruiting, das sich als Teil des Employer Brandings versteht: Das ist das Prinzip des Candidate Experience Managements.
In den USA, in Großbritannien und in Australien werden seit 2011 sogenannte Candidate-Experience-Preise verliehen. Blogger in der Personalszene, auch in Deutschland, berichten regelmäßig über das Trendthema. Und doch haben die meisten Recruiter noch nie etwas von Candidate Experience Management (CEM) gehört oder können sich wenig darunter vorstellen. Das ist kein Wunder. Denn es gibt kaum Studien oder Fachbücher im deutschsprachigen Raum, und auch in der Praxis ist die neue Methode wenig bekannt.
Schmuddelkind in neuer Kleidung?
Was ist Candidate Experience Management? CEM ist ein neuer Recruiting-Ansatz. Ziel des Candidate Experience Management ist es, jede Begegnung einer Bewerberin oder eines Bewerbers mit dem potenziellen Arbeitgeber in ein positives und motivierendes Erlebnis zu wandeln. Zu diesem Zweck werden alle Kontaktpunkte, das heißt Begegnungen der (potenziellen) Bewerber mit dem Unternehmen ganzheitlich betrachtet und der gesamte Recruitingprozess wird so angepasst, dass jeder Kontaktpunkt verbindlich und wertschätzend ist.
Kritiker sind der Meinung, dass es sich beim Candidate Experience Management um nichts anderes handelt als um die Administration von Bewerbungen. Das mag auf den ersten Blick so erscheinen, denn das CEM behält auch Grundlagen des Bewerbermanagements im Blick. Zum Beispiel will es den Zeitraum zwischen Bewerbungseingang und Einladung zum Bewerbungsgespräch verkürzen oder sicherstellen, dass jeder Kandidat eine Antwort erhält. Leider verschwinden immer noch zu viele Bewerbungen „in einem schwarzen Loch“ und Kandidaten warten vergeblich auf Rückmeldung.
Doch CEM ist viel mehr als eine Methode der zuverlässigen Administration von Bewerbungen. Es ist eine innovative und gleichzeitig pragmatische Recruiting-Philosophie, denn es versteht den Recruiting-Prozess als Employer-Branding-Methode.
Vom Marketing lernen
Der Begriff „Candidate Experience Management“ wurde von der Marketingmethode „Customer Experience Management“ abgeleitet: Alle Berührungspunkte von Kandidaten mit dem Unternehmen werden analysiert und bei Bedarf so angepasst, dass Bewerber konstant positive, gewinnende Erfahrungen mit dem Arbeitgeber machen. Das führt zunächst dazu, dass überzeugte Fach- und Führungskräfte die Jobangebote des Arbeitgebers annehmen. Doch die Wirkung reicht weiter. Ist das Candidate Experience Management optimal erfolgreich, so werden Bewerber zu „begeisterten Botschaftern“ des Arbeitgebers, unabhängig davon, ob sie ein Job-
angebot oder eine Absage erhalten. Solche Empfehlungen von „begeisterten Botschaftern“ sind im Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeiter in Zeiten des Fachkräftemangels natürlich äußerst wertvoll. Der gesamte Recruitingprozess, vom Hochschulvortrag über die Karrierewebseite bis hin zur Gehaltsverhandlung wirkt positiv auf die Employer Brand. Der Ruf als guter Arbeitgeber verbreitet sich, so dass das Unternehmen auch langfristig in einem immer engeren Arbeitsmarkt gewinnen kann. Unternehmen, die ein professionelles Candidate Experience Management betreiben, überzeugen ihre Wunschkandidaten und können offene Stellen schneller besetzen – heute und in Zukunft.
Doch das ist nicht alles. Das Recruiting bewirkt auch, dass das Unternehmen neue Kunden gewinnt – oder für immer verliert. Auch Kandidaten sind nämlich potenzielle Kunden. Und sie haben ein gutes Gedächtnis. Außerdem sind Kandidaten Freunde von Kunden. Oder ihre Eltern, Onkel, Tanten oder Kinder. Und Kandidaten erzählen von ihren Erfahrungen im Bewerbungsprozess. Ein gutes Candidate Experience Management unterstützt also die Kundengewinnung, bringt Umsatz und wirkt auf das Geschäftsergebnis.
Das klingt alles plausibel und leicht. Doch in der Praxis scheitern viele Arbeitgeber an der Umsetzung. Um ein Beispiel zu nennen: Jedem Recruiter, jeder Führungskraft und jedem Geschäftsführer ist klar, dass Bewerber eine Antwort erhalten sollten, also eine Zu- oder eine Absage. Das ist allgemein anerkannt. Das gehört zum guten Ton. Doch wer sich auf Arbeitgeberbewertungsportalen wie Kununu oder im eigenen Freundeskreis umsieht, sieht ein ganz anderes Bild. Online häufen sich seitenweise Beschwerden über Unternehmen, die Kandidaten keine Antwort geben. Und auch im privaten Umfeld trifft man kaum jemanden, der nicht auch schon vergeblich auf die Reaktion des Wunscharbeitgebers gewartet hat. Woran das liegt? Nun, von der Einsicht zur Umsetzung ist es ein weiter Weg.
Vom Prozess- und Change-Management lernen
Ob ein Unternehmen nun klassisch Stellenanzeigen in Jobbörsen schaltet, sich für Active Sourcing oder für eine kreative Employer-Branding-Kampagne entscheidet, es reicht nicht aus, von einem perfekten Recruitingprozess zu träumen. Deswegen nutzt ein professionelles CEM Instrumente, die für die Verbesserung von Arbeitsprozessen entwickelt wurden.
Was hat Candidate Experience mit Prozessen zu tun? Eine ganze Menge. Denn aus Sicht der internen Kunden (Geschäftsführung, Fachabteilung mit zu besetzender Stelle, Personalabteilung) als auch der externen Kunden (Kandidaten) wird hier ein Service erbracht. Dieser Service hat eine enorme Reichweite über das eigentliche Recruiting hinaus, denn die Berührungspunkte mit potenziellen zukünftigen Mitarbeitern entstehen an vielen Stellen. Daher ist es enorm wichtig, die „Touchpoints“ gemeinschaftlich und bereichs- beziehungsweise abteilungsübergreifend zu betrachten.
Mit den Augen der Kandidaten schauen
Um (potenzielle) Kandidaten zu begeisterten Botschaftern des Arbeitgebers zu machen, ist es notwendig, alle Berührungspunkte mit den Augen der Kandidaten zu betrachten und bei Bedarf anzupassen. Der Erlebenszyklus, die sogenannte Candidate Journey, von der Stellenanzeige bis zur Einarbeitungsphase, wird so zu einem nachhaltigen Employer-Branding-Instrument. Jede Begegnung eines Bewerbers mit dem potenziellen Arbeitgeber wird zu einem positiven und motivierenden Erlebnis. Die Wunschkandidaten unterschreiben den Arbeitsvertrag und die Mehrheit, auch die abgelehnten Bewerber, empfehlen den Arbeitgeber weiter.
Für den Anfang reicht es sicherlich aus, mit Repräsentanten diverser Abteilungen im Rahmen eines Workshops diese Kontaktpunkte gemeinschaftlich zu sammeln und zu erkunden, ob sich das Unternehmen aus Sicht der Kandidaten einheitlich und überzeugend darstellt.
Doch dann ist es wichtig, dass konsequent gemessen wird. KPI’s („key performances indicator“) – das klingt nicht sexy, ist aber nachhaltig. Noch bevor ein Idealprozess festgelegt wird, wird gemessen und analysiert, ob es überhaupt ein Problem gibt (zum Beispiel mit einer Kandidatenbefragung). Das anvisierte Ziel wird dann auch in Kennzahlen beschrieben und die Erreichung regelmäßig überprüft.
Hier ist pragmatische und praxisnahe Herangehensweise gefragt: Es geht nicht um möglichst „hübsche“ Kennzahlen. Muss eine Antwort auf einen Bewerbungseingang wirklich am nächsten Tag versendet werden? Oder reicht es wegen der dünnen Personaldecke nicht vollkommen aus, wenn dies innerhalb einer Woche geschieht – dann jedoch zuverlässig und regelmäßig. Verlässlichkeit und Verbindlichkeit ist aus Sicht der Kandidaten deutlich wertvoller als eine punktuelle Übererfüllung der Erwartung – und eine Riesenenttäuschung am nächsten Touchpoint.
Vom Schmuddelkind zur Recruiting-Innovation
Das Candidate Experience Management ist also nicht ein Schmuddelkind in neuer Kleidung, sondern eine pragmatische und innovative Recruiting-Philosophie, die den Recruitingprozess als Employer-Branding-Instrument begreift. Unternehmen lernen, ihre HR-Kommunikation und ihre Auswahlverfahren mit den Augen der Kandidaten zu betrachten und sich wertschätzend und motivierend zu verhalten. Dadurch gewinnen sie ihre Wunschkandidaten, verbessern ihre Employer Brand und bewirken oft auch im Kundenmarkt ein positives Image.