Berufe der Zukunft: Irgendwas mit Computern

The Big Shift

Was willst du denn werden, wenn du groß bist? Diese Frage an die Enkelkinder ist wohl nach wie vor der Renner unter den Lieblingsfragen der Großeltern-Generation. Tierärztin, Polizist, Fußballprofi und Lehrerin stehen ganz oben auf der Wunschliste der Traumberufe. Das sind alles ehrenwerte Aufgaben – Jobs, die auf absehbare Zeit wohl nicht wegdigitalisiert werden. Doch viele Berufe, die diese Generation in Zukunft ausüben wird, stehen heute noch nicht einmal zur Auswahl. Es gibt sie schlicht und einfach noch nicht.

„Die Hälfte der Berufe, die es im Jahr 2030 geben wird, ist noch nicht erfunden.“
Gerd Leonhard, Zukunftsforscher

Die Digitalisierung der Arbeitswelt verändert die Anforderungen an die Kompetenzen der Fachkräfte schneller als jemals zuvor. Wir befinden uns mitten in einem digitalen Strukturwandel, in dem Arbeitsprozesse und Geschäftsmodelle umfassend digitalisiert und vernetzt werden und der noch lange nicht abgeschlossen ist – wahrscheinlich wird er das nie sein. Der Report des Weltwirtschaftsforums „The Future of Jobs 2020“ sieht hier große Umwälzungen voraus: Bis 2025, so die Schätzung, werden weltweit etwa 85 Millionen Arbeitsplätze durch eine Verschiebung der Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine verdrängt, dafür entstehen 97 Millionen neue Rollen, die besser an die Arbeitsteilung zwischen Menschen, Maschinen und Algorithmen angepasst sind.

Umfassende IT-Skills werden künftig in sehr vielen Jobs zu den Basis-Kompetenzen gehören. Laut Eurostat 2022 liegt Deutschland im Vergleich in Europa bei den digitalen Basis-Fähigkeiten der Erwachsenenbevölkerung aktuell auf den hintersten Rängen! Aber auch Schlüsselqualifikationen wie Kreativität, Empathie und nicht-lineares Denken werden stärker gefragt sein, genauso wie Analyse- und Problemlösungskompetenz sowie Fähigkeiten zum Selbstmanagement wie eigenständiges Lernen und Verständniskompetenz, Belastbarkeit und Flexibilität.

Besonders in IT-Kernberufen klafft eine riesige Kompetenzlücke, nicht nur in Deutschland. Laut einer Untersuchung von Cloudreach, einem der führenden Anbieter von Multi-Cloud-Services, sehen mehr als 70 Prozent der befragten internationalen IT-Führungskräfte im Skills-Gap ein bedrohliches Problem. Die IT-Branche braucht mehr qualifizierte Fachkräfte denn je – und das in einer Zeit, in der genau diese Fachkräfte ohnehin heute schon Mangelware sind. In Deutschland zählt Bitkom aktuell ca. 100.000 offene Stellen, Prognosen von Beratungshäusern gehen sogar von etwa einer Million fehlenden IT-Fachkräften bis zum Jahr 2030 in Deutschland aus.

Bewerbungshürden werden fallen: Skills-Based Hiring

Durch neue Technologien und zunehmende Digitalisierung steigen die (IT-) Anforderungen an die Arbeitskräfte weiter. Stete Veränderung wird die einzige Konstante in der Arbeitswelt von morgen sein. Das führt dazu, dass permanente Fort- und Weiterbildung sowie Umschulungen immer mehr zum Alltag gehören. Karrieren werden künftig nur noch sehr selten linear verlaufen. Für Unternehmen wird es immer wichtiger werden, zukünftig notwendige Kompetenzen frühzeitig aus den unternehmerischen Anforderungen abzuleiten. Um mögliche Kompetenzlücke zu schließen, müssen neue Wege gefunden werden, um Talente zu rekrutieren, einzustellen und weiterzubilden. Ein Weg könnte sein, die Eintrittsbarrieren in Unternehmen im Bewerbungsprozess zu reduzieren und mehr Vielfalt zuzulassen.

Skills-Based Hiring statt Degree-Based Hiring könnte ein Weg sein, der allerdings Mut bei Recruiting-Verantwortlichen und Führungskräften voraussetzt. Hier hilft ein Blick über den großen Teich: Um den Engpass an Talenten zu schließen, und während der Pandemie qualifizierte Arbeitskräfte zu finden, waren viele Arbeitgeber in den USA bereits bereit, auf einen Hochschulabschluss zu verzichten. In den USA reduzierten die Arbeitgeber die Anforderungen an einen Hochschulabschluss schon in den zwei Jahren vor der Pandemie für 46 Prozent der Positionen mit mittlerem, und für 31 Prozent mit hohem Qualifikationsniveau. Das heißt: Bei der Beurteilung von Bewerberinnen und Kandidaten stellen Unternehmen auf Grundlage nachgewiesener Fähigkeiten und Kompetenzen ein, statt nach Hochschulabschluss.

Nationale Skill Map Deutschland

Das offensichtliche IT-Kompetenz-Gap in Deutschland muss dringend angegangen werden: auf drei Ebenen. Auf politischer, Unternehmens- und individueller Ebene. Die Politik sollte den Menschen hinsichtlich IT-Zukunftskompetenzen mehr Orientierung geben und bessere Rahmenbedingungen schaffen, damit die Menschen und deutsche Unternehmen innovativ, wettbewerbs- und erwerbsfähig bleiben. Zum Beispiel könnte eine nationale (IT-) Kompetenz/Skill Map – siehe Beispiel Singapur – verbunden mit einer Agenda für (Skill-) Change vorausschauend IT-Kompetenzziele und damit Orientierung für BürgerInnen und Gesellschaft schaffen, die sich dann im (Hoch-)schul-/Bildungssystem und -angeboten unseres Landes wiederfinden. Gute Ansätze findet man in den Digital Skills Gap Studien der D21 Initiative.

Viele Unternehmen – so auch Atruvia – haben bereits die Kritikalität dieses Themas auch im Kontext zu den demographischen Entwicklungen in unserem Land erkannt und adressieren im Rahmen von Total Workforce Management die Ableitung von strategischen Kompetenzen aus der Unternehmensstrategie, um mögliche Skill Gaps frühzeitig zu identifizieren.

Ziel in Gesellschaft und Unternehmen muss es sein, den Menschen, insbesondere mit niedriger Bildung und hohem Alter, niederschwellig und breit digitale Weiterbildungsangebote zugänglich zu machen, diese umfangreich zu fördern und alle Beteiligten aktiv bei dieser digitalen Transformation zu begleiten. Vor allem müssen mehr Frauen für die IT gewonnen werden. Noch immer entscheiden sich junge Frauen nach ihrem Schulabschluss seltener für eine Ausbildung in der IT-Branche als Männer. Zwischen 2013 und 2020 stieg ihr Anteil in IT-Berufen lediglich um knapp einen Prozentpunkt auf 16,8 Prozent. Auch deshalb müssen schon in der schulischen Ausbildung entsprechende Fähigkeiten umfassend unterrichtet werden. Deutschland muss für „life long learning“ stehen, ansonsten verlieren wir international den Anschluss. Vielleicht lautet die Antwort auf die Frage, was Kinder später einmal werden wollen, dann zukünftig am häufigsten: „Irgendwas mit Computern.“

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Jörg Staff, Chief People Officer bei Atruvia

Jörg Staff

Jörg Staff ist Mitglied des Vorstands und Chief People Officer bei Atruvia (früher Fiducia & GAD) sowie Aufsichtsrat, Beirat und Investor von (Tech-)Start-ups. Er arbeitete vor dieser Position über 20 Jahre als Mitglied von Global Executive Leadership Teams direkt für CEOs und Vorstände führender globaler Unternehmen in der IT- Industrie (SAP, Debis Systemhaus), Logistik (Deutsche Post/DHL) und der Automobilindustrie (Daimler). In seinen globalen Positionen verantwortete er unternehmensweite Strategie-/Transformationsprogramme, Restrukturierungs- und Effizienzprogramme und unterstützte diverse Wachstumsinitiativen. Darüber hinaus sind Schwerpunkte seiner Arbeit People-Themen, wie die Ausrichtung der Unternehmensorganisation auf Human Experience, die Einführung agiler Zusammenarbeitsmodelle und die Stärkung der Innovationkraft. Staff absolvierte ein Studium der Betriebswirtschaft und einen Master of Business Administration (MBA). Über 30.000 Leserinnen und Leser haben bisher seine Kolumne Logbuch einer Transformation gelesen, die 2019/2020 monatlich auf humanresourcesmanager.de erschienen ist. 2021 ist er zum CHRO of the Year gewählt worden.

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