Der Herzschlag der Transformation

The Big Shift

Sie gehört zu fast jedem Arztbesuch – egal ob akut oder präventiv: Die Pulsmessung ist eine bewährte Standardmethode der Allgemeinmedizin. Auch ohne sichtbare Symptome liefern Schlagvolumen, Rhythmus und Frequenz wichtige Hinweise, etwa auf Durchblutung oder Herztätigkeit, Fitnesszustand oder (psychische) Belastung.

Übertragen auf dynamische, agile Arbeitsumfelder und Transformationen spielt der Puls eines Unternehmens und der Mitarbeitenden bei Veränderungsprozessen eine bedeutende Rolle. Wie ein Mediziner oder eine Medizinerin müssen wir im People-Management genau hinsehen und gute Fragen stellen, wenn wir unsere Mitarbeitenden wachsen und sich entfalten sehen wollen. Nach den Belastungen der nie enden wollenden Corona-Zeit befinden wir uns im Great Reshuffle, dem größten Umbruch der Arbeitswelt seit Jahrzehnten. Noch nie haben so viele Menschen hybrid gearbeitet und wollten ihren Job wechseln. Mitten in diesem Big Shift müssen wir als Chief Human Resources Officer (CHRO) genau hinsehen – auch wenn auf den ersten, oberflächlichen Blick alles in Ordnung zu sein scheint.

Erstaunliche Ergebnisse

Was dabei herauskommen kann, wenn man die richtigen Fragen stellt, ist erstaunlich. Ein Beispiel aus der Praxis: Das People Analytics Team von Microsoft ist bekanntlich besonders gut darin, die Verbindung der Mitarbeitenden zu ihrem Unternehmen zu messen, das sogenannte Employee Engagement. Die Zahlen, die dabei in den vergangenen Jahren herauskamen, waren gut. Im Vergleich schienen sie zumindest gut zu sein. Denn sobald die Fragen ein wenig tiefer gingen, förderten sie vielerorts neue Erkenntnisse zutage: Es gab weitaus mehr Mitarbeitende, die mit Aspekten ihres Berufslebens nicht klarkamen, als zuvor angenommen.

Microsoft kam zu dem Schluss, dass eine jährliche Zufriedenheitsmessung nicht mehr ausreichte. Stattdessen begannen die Analytikerinnen und Analytiker, halbjährlich Fragen zu stellen, die nicht nur viel detaillierter und abwechslungsreicher waren, sondern das Kollegium auch dort abholten, wo es sich gerade tatsächlich befand. Ab jetzt sollte es nicht mehr nur um Zufriedenheit und Unternehmensbindung gehen, sondern auch darum, wie sich jede einzelne Person bei der Arbeit entfalten kann („thriving at work“). Dabei stellte sich zum Beispiel heraus, dass es (noch) nicht die eine, durchgehende Unternehmenskultur gab: Während viele befragte Personen von Inklusion und Teamwork schwärmten, gab es auch andere, die noch immer frustriert in Silos und Sinnlosigkeit feststeckten. Andere Fragen stellten erstmals einen Zusammenhang zwischen der beruflichen Entfaltung und der Work-Life-Balance her. Dabei kam heraus, dass die Befragten mit den besten Ergebnissen in beiden Gebieten wöchentlich weniger Teamwork-Stunden hatten – ein klarer Hinweis darauf, dass auch die grundsätzlich positiv eingestufte Zusammenarbeit an ihre Grenzen stößt, wenn der Kalender mit zu vielen Meetings vollläuft. Diese feinkörnigen Ergebnisse hätte es ohne die genauere Messung nicht gegeben.

Thriving: Wachsen und Entfalten

Diese neue Kultur des Wachsens und Entfaltens streben wir auch bei Atruvia an. Sie basiert unter anderem auf der Forschung der Management- und Organisations-Professorin Gretchen Spreitzer an der US-amerikanischen Ross School of Business in Ann Arbor, Michigan. Spreitzer definiert Thriving at work als „den psychologischen Zustand, in dem Individuen gleichzeitig das Gefühl haben, voller Lebenskraft zu sein und bei der Arbeit etwas zu lernen“. Dieser Zustand, in dem die eigene Tätigkeit Sinn ergibt und es keine Dichotomie zwischen Beruf und Berufung gibt, nennen wir Purpose.

Spreitzer zeigt in ihrer jahrelangen Forschung, dass Thriving at work wichtige Auswirkungen auf die Mitarbeitenden und das Unternehmen hat. Sie reichen von der eigenen Weiterentwicklung über Gesundheits- und Leistungsparameter bis hin zu positiv „ansteckenden“ Effekten bei der Arbeit und sogar zuhause. Thriving at work bedeutet demnach, wachsen und zur persönlichen Entfaltung zu kommen, statt auf der Stelle zu treten.

Umso spannender für People-Verantwortliche, dass diese Parameter messbar sind. Bei Atruvia wissen wir, dass es nicht damit getan ist, eine hohe Mitarbeitendenzufriedenheit zu erreichen. Wir wollen wirklich wissen, wie es den Mitarbeitenden geht, mit dem, was gerade passiert. Gerade in Zeiten permanenter Transformation ist diese Nachfrage wichtiger denn je. Daher haben wir bereits mit Beginn der Transformation vor mehreren Jahren halbjährliche Pulse Checks, eine besondere Form der Mitarbeitenden-Befragung, eingeführt.

Den Puls fühlen

Um die Entwicklung der wichtigsten Kennziffern (KPI) im Blick zu haben, fragen unsere Kolleginnen und Kollegen aus der Employee Experience in jedem Pulse Check nach den Grundparametern Zufriedenheit, dem konkreten Werteerleben, dem Status der agilen Zusammenarbeit und der physischen und psychischen Gesundheit der Beschäftigten. Um möglichst viele Strömungen unter der Oberfläche messen zu können, ergänzen wir diese KPI durch aktuelle Fokusthemen. Dabei geht es zurzeit etwa um den Umsetzungsstatus der neuen Strategie, das unternehmensweite agile Portfoliomanagement oder Elemente aus New Work. Entwickeln sich die Werte auf einer 5er- oder 6er-Skala zwischen zwei Befragungen deutlich nach oben oder unten, fragen die Leads bei ihren Mitarbeitenden genauer nach, denn natürlich kann eine Onlinebefragung niemals so tief wie ein echtes Gespräch gehen.

Dabei gilt zugleich größte Transparenz und Anonymität. Wir beziehen alle in die Transformation mit ein und stellen die durch einen externen Dienstleister durchgeführten und anonymisierten Ergebnisse des Pulse Checks allen Mitarbeitenden zur Verfügung. So können wir gemeinsam Ansätze finden, wie wir in Zukunft noch besser zusammenarbeiten, wie unsere Arbeitsplätze aussehen sollen oder was wir noch für unsere geistige und körperliche Gesundheit tun können. Thriving at work hat schließlich sehr viel damit zu tun, dass Menschen sich am Arbeitsplatz voller Schwung und Energie fühlen sollen – und wollen!

Wichtig ist, dass sich für die Ergebnisse der Pulse Checks und Folgeaktivitäten alle Menschen im Unternehmen verantwortlich fühlen. Die Funktion Employee Experience ist der Dispatcher, Impulsgeber und „Sichtbarmacher“. Wir bevorzugen daher eher dezentrale Folgemaßnahmen, die durch die jeweils fachlich verantwortlichen Teams vorangetrieben werden, als zentrale, langatmige, unternehmensweite Maßnahmen.

Fazit

Was lehrt uns die Analogie von Medizin und People Management? Es lohnt sich, tiefer zu blicken, genau hinzusehen, Hinweise zu sammeln und sich nicht zu schnell zufrieden zu geben. Erst die präzise Analyse liefert uns ein wahres Bild. Unsere Verantwortung als Unternehmen liegt somit darin, dem schönen Schein zu widerstehen. Wir dürfen nicht nur die auf den ersten Blick sichtbaren Symptome wahrnehmen, sondern müssen den Menschen helfen, sich persönlich entfalten zu können.

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Jörg Staff, Chief People Officer bei Atruvia

Jörg Staff

Jörg Staff ist Mitglied des Vorstands und Chief People Officer bei Atruvia (früher Fiducia & GAD) sowie Aufsichtsrat, Beirat und Investor von (Tech-)Start-ups. Er arbeitete vor dieser Position über 20 Jahre als Mitglied von Global Executive Leadership Teams direkt für CEOs und Vorstände führender globaler Unternehmen in der IT- Industrie (SAP, Debis Systemhaus), Logistik (Deutsche Post/DHL) und der Automobilindustrie (Daimler). In seinen globalen Positionen verantwortete er unternehmensweite Strategie-/Transformationsprogramme, Restrukturierungs- und Effizienzprogramme und unterstützte diverse Wachstumsinitiativen. Darüber hinaus sind Schwerpunkte seiner Arbeit People-Themen, wie die Ausrichtung der Unternehmensorganisation auf Human Experience, die Einführung agiler Zusammenarbeitsmodelle und die Stärkung der Innovationkraft. Staff absolvierte ein Studium der Betriebswirtschaft und einen Master of Business Administration (MBA). Über 30.000 Leserinnen und Leser haben bisher seine Kolumne Logbuch einer Transformation gelesen, die 2019/2020 monatlich auf humanresourcesmanager.de erschienen ist. 2021 ist er zum CHRO of the Year gewählt worden.

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