Shared Leadership – mehr Power im Team

The Big Shift

Haben Weltklasse-Bands eigentlich einen Bandleader oder leitet sich so eine Band quasi wie von selbst, indem sie allein dem Können ihrer Mitglieder folgt? Nehmen wir das John Coltrane Quartett, das Anfang der 1960er Jahre unter der Leitung von Miles Davis‘ Saxophonisten John Coltrane den Jazz revolutionierte. Hatte diese Supergroup einen Leader? Natürlich. Coltrane suchte die wechselnden Musiker aus und gab die Richtung vor. Gleichzeitig aber gab „Trane“ im Quartett viel Führung ab – wie hätte es auch sonst funktionieren sollen im Zusammenspiel mit so agilen und grenzgenialen Musikern wie McCoy Tyner am Klavier, Jimmy Garrison am Kontrabass oder Elvin Jones am Schlagzeug?

Was in der Musik funktioniert, ist auch in der Wirtschaft möglich. In stark wissensverarbeitenden Industrien funktioniert es nicht mehr, alles Wissen, Skills und Fähigkeiten zur Führung in einer Person zu vereinen. Wir sprechen hier heute von Shared Leadership. Geteilte Führung funktioniert ähnlich wie in einer guten Jazzband und kann zu ebenso großartigen Resultaten führen – allerdings nur, wenn das Mindset und die Rahmenbedingungen stimmen.

Um Missverständnisse gleich auszuräumen: Mit Shared Leadership meine ich keine doppelte Führungsspitze, bei der sich zwei Menschen einen Chefsessel teilen. Wie mein musikalisches Beispiel zeigt, geht es mir um die gemeinschaftlich verteilte Führung: Teammitglieder übernehmen Führungsaufgaben, die sonst nur bei einer Führungskraft konzentriert liegen. Das kann die Informationsfunktion im Team sein, die Aufgabenverteilung an die Mitglieder oder das Management der Beziehungen im Team untereinander. Auch Transformationsaufgaben eignen sich hervorragend für diesen Ansatz, etwa wenn es darum geht, auf eine agilere Arbeitsweise umzusteigen. Der Grundgedanke muss dabei stets sein, dass die Person, die im Team am besten für die Lösung der Aufgabe geeignet ist, in diesem Bereich die Führungsrolle übernimmt. Dabei ist mir der Begriff Rolle wichtig, da diese wieder wechseln kann und kein Statussymbol ist. Zu wem welche Rolle am besten passt, stellt sich manchmal erst mit der Zeit heraus und muss geübt werden. Damit dabei kein Chaos entsteht, braucht auch eine Shared Leadership-Band einen John Coltrane, der ein gewisses Maß an vertikaler Führung vorgibt. Denn: Geteilte Führung ersetzt vertikale Führung nicht sondern ergänzt sie.

Teilen heißt mehr schaffen

Doch warum sollten sich Unternehmen und Führungskräfte auf solch tiefgreifende Veränderungen einlassen? Ganz einfach: Weil mehr Teilen mehr Schaffen bedeutet. Eine Vielzahl empirischer Studien zeigt, dass Shared Leadership nicht nur den Informationsfluss und die Zusammenarbeit im Team verbessern kann, sondern auch Vertrauen und Zusammenhalt stärkt. Teams werden so leistungsfähiger und resilienter. „Unternehmen mit einem hohen Level an Shared Leadership sind deutlich innovativer und effektiver, weil sie mit signifikant mehr Herzblut und Energie arbeiten“, bestätigte erst letztes Jahr wieder Heike Bruch, die als Leadership-Professorin an der Universität St. Gallen die Daten von mehr als 26.000 Befragten aus 160 Unternehmen untersucht hat.

Allerdings: Shared Leadership ist anspruchsvoll, herausfordernd in der Implementierung und sicher nicht für jedes Team oder jede Organisation geeignet. Die wissenschaftlichen Untersuchungen, unter denen sich auch Meta-Analysen zahlreicher Studien finden, zeigen die Herausforderungen:

  • Hierarchiestufe: Shared Leadership passt besser zu mittleren und niedrigeren Stufen in der Organisation und ist daher im höchsten Management eher nicht geeignet.
  • Führungsrolle: Es muss klar kommuniziert werden, dass die klassische Führungsrolle nicht zugunsten einer neuen Anarchie aufgegeben wird, sondern weiterbesteht – und um neue Aspekte erweitert wird. Zu viel Führung abzugeben ist sogar schädlich, weil in einem Team ohne klare Verantwortungen die Innovationskraft schwindet.
  • Zeit: Da dieser Führungsstil viel Vertrauen erfordert braucht es Zeit für die Implementierung; eine Übergangsphase in den neuen Führungsstil von mindestens einem Jahr scheint praktikabel.
  • Werte: Geteilte Führung ist nur möglich, wenn sich das Team auf gemeinsame Ziele und Werte einigt.

Teile und transformiere

Shared Leadership funktioniert also nicht immer. Besonders spannend finde ich jedoch, dass geteilte Führung offensichtlich besonders dann gute Resultate liefert, wenn es um komplexe, disruptive Situationen geht. Die digitale Transformation zählt genauso dazu wie die Umstellung auf agiles Arbeiten und der Übergang zu hybriden Teams, die sowohl virtuell als auch physisch zusammenarbeiten. Shared Leadership kann also speziell in komplexen Settings für mehr Kreativität, Schnelligkeit und Innovation sorgen. Divide et impera – teile und herrsche – hieß es früher.
Heute muss es heißen: Divide et transform – teile und transformiere.

In solchen Umbrüchen befinden sich heute viele Unternehmen. Das enorme Tempo digitaler Innovationen und eine Vielzahl von Kundenanforderungen stellen sie vor große Herausforderungen. Eine Reaktion darauf ist die Einführung agiler Methoden. Die gewünschte Dynamik wird jedoch stellenweise durch alte hierarchische Muster in den Abteilungen ausgebremst. Mit der Verpflichtung eines Design-Thinking-Coaches oder Scrum Masters ist es oft nicht getan. Hier kann das neue Führungskonzept helfen. Heute stehen in vielen Projekten oftmals die Kundenanforderungen zu Beginn noch nicht genau fest. Dies gilt insbesondere für Digitalisierungsprojekte, aber auch wenn eine komplizierte Regulatorik mit hineinspielt, wie wir es etwa aus dem Finanzdienstleistungssektor kennen. Hier müssen Unternehmen agil genug sein, Lösungen zu entwickeln, die erst im Verlauf des Projekts entstehen können. Dazu eignen sich agile, iterative Modelle besser als lineare Top-down-Modelle. So erhalten Teams mehr Autonomie, ihre Zeit selbst einzuteilen, ihren Arbeitsort- und rhythmus zu wählen und ihre Aufgaben eigenverantwortlicher zu lösen. In einer eingespielten Band macht es eben Sinn, jeden so virtuos wirken zu lassen wie möglich.

Anders denken, agil arbeiten

In den letzten Jahren wandelt sich Atruvia radikal – vom IT-Provider zum Digitalisierungspartner der genossenschaftlichen Finanzgruppe. Als Vorstand People & Business Services durfte ich diese Transformation mitgestalten. Wir haben ein neues agiles Zusammenarbeitsmodell eingeführt, das radikal mit alten Strukturen bricht und die traditionelle, funktionale Organisationsform hinter sich lässt. Wir haben Hierarchieebenen abgebaut, Silos eingerissen und im selben Atemzug den Teams mehr Eigenverantwortung gegeben. Diese sind nun für eigene Lösungen oder Services verantwortlich, crossfunktional aufgestellt und arbeiten in Sprints unter Anwendung agiler Methoden und mit zunehmender Unterstützung moderner IT-Systeme.

Klassische Führungsaufgaben wie die fachliche oder disziplinarische Verantwortung verteilen sich jetzt auf verschiedene Rollen. Wir nennen sie Tribe Lead und People Lead: Die erste Rolle ist für das jeweilige Produkt beziehungsweise Service und Ergebnis zuständig, kümmert sich um die Budgetplanung und Qualitätssicherung und trägt die fachliche Gesamtverantwortung. Die zweite Rolle setzt die Rahmenbedingungen für erfolgreiches Arbeiten, kümmert sich um die persönliche und fachliche Weiterentwicklung und ist Coach, Feedbackgeberin und Mediator in einem. Gestärkte Fachfunktionen, wie Principal Experts beeinflussen direkt Unternehmensentscheidungen, insbesondere wenn die fachliche Expertise erforderlich ist. So werden neben klassischen Führungskarrieren auch gleichberechtigte Experten- und Projektlaufbahnen bis unter die Vorstandsebene möglich. Entscheidend sind dabei sowohl die Kompetenzen als auch die Präferenzen, welche die Menschen mitbringen. Wer eine begnadete Klavierspielerin ist, spielt am Klavier – und wer eine gute Singstimme hat, darf singen.

Die Reise in dieses neue, agile Zusammenarbeitsmodell mit geteilter Führung hat auch für uns erst vor zwei Jahren begonnen. Auf dieser Reise erleben wir immer wieder neue Herausforderungen, die wir meistern müssen, wir trainieren die neuen Rollen und wir lernen jeden Tag besser zu werden in verteilter Führung. Dabei wird geteilte Führung weiter mit vertikaler Führung koexistieren. Denn aus Heike Bruchs Forschung wissen wir schon heute, dass eine moderne, inspirierende Führungskultur diese neue Art der Selbstführung nicht konterkariert – sie ist sogar zentral für die Entstehung von Shared Leadership. Und die Wirkung ist enorm: aktuell empfehlen uns 88 Prozent unserer Mitarbeitenden als Arbeitgeber!

Am Ende ist es wie in der Musik. Beide Kulturen können fantastische Konzerterlebnisse schaffen. Ein klassischer Bandleader und Jazzsänger wie Nat King Cole mit einer Bigband, die hinter seiner schmachtenden Stimme zurücktrat, ebenso wie das perfekt eingespielte John Coltrane Quartett, in dem die einzelnen Leads auch selber Führung übernahmen. Ich vermute allerdings, dass die Musiker in John Coltranes Band nicht nur zufriedener waren, sondern auch inspirierter. Freiheit beflügelt. Nicht umsonst heißt eines ihrer legendären Alben Both directions at once. In verschiedene Richtungen auf einmal zu gehen, das gelingt nur im Team mit geteilter Führung.

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Jörg Staff, Chief People Officer bei Atruvia

Jörg Staff

Jörg Staff ist Mitglied des Vorstands und Chief People Officer bei Atruvia (früher Fiducia & GAD) sowie Aufsichtsrat, Beirat und Investor von (Tech-)Start-ups. Er arbeitete vor dieser Position über 20 Jahre als Mitglied von Global Executive Leadership Teams direkt für CEOs und Vorstände führender globaler Unternehmen in der IT- Industrie (SAP, Debis Systemhaus), Logistik (Deutsche Post/DHL) und der Automobilindustrie (Daimler). In seinen globalen Positionen verantwortete er unternehmensweite Strategie-/Transformationsprogramme, Restrukturierungs- und Effizienzprogramme und unterstützte diverse Wachstumsinitiativen. Darüber hinaus sind Schwerpunkte seiner Arbeit People-Themen, wie die Ausrichtung der Unternehmensorganisation auf Human Experience, die Einführung agiler Zusammenarbeitsmodelle und die Stärkung der Innovationkraft. Staff absolvierte ein Studium der Betriebswirtschaft und einen Master of Business Administration (MBA). Über 30.000 Leserinnen und Leser haben bisher seine Kolumne Logbuch einer Transformation gelesen, die 2019/2020 monatlich auf humanresourcesmanager.de erschienen ist. 2021 ist er zum CHRO of the Year gewählt worden.

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