Gender-Diversity: Revolution im Reallabor

The Big Shift

In den IT-Berufen in Deutschland arbeiten nur knapp ein Fünftel Frauen. Das Forschungsprojekt #WomenDigit will herausfinden, woran es liegt – und wie man diesen Anteil signifikant steigern kann. Ein wichtiger Weg sind Praxislaboratorien in Unternehmen wie Bosch, Siemens, Volkswagen, Ratepay und Atruvia.

Bulgarien hat uns einiges voraus, Rumänien auch. Auch Malta, Island, Finnland, Litauen, Serbien, Dänemark, Estland und ein Dutzend weitere europäische Länder stehen besser da als Deutschland, wenn es darum geht, Frauen in IT-Berufe zu bringen. Gerade einmal 19 Prozent Frauen arbeiten hierzulande in einem IT-Beruf. An den Universitäten sind lediglich 22 Prozent der IT-Studierenden weiblich. Das wirft ein düsteres Licht auf das notorische Kompetenz-Gap, an dem Deutschland leidet: Umfassende IT-Skills werden künftig in sehr vielen Jobs zu den Basis-Kompetenzen gehören und laut Eurostat 2022 liegt Deutschland im europäischen Vergleich bei den digitalen Basis-Fähigkeiten der Erwachsenenbevölkerung auf den hintersten Rängen. Bis 2030 könnten hier rund eine Million Fachkräfte fehlen.

In einer solchen Situation können wir es uns nicht leisten, so wenige Frauen in Zukunftsberufen zu sehen. Wir müssen in den Unternehmen erkennen, woran diese althergebrachte und überkommene Spaltung liegt. Wenn wir eine bessere und gerechtere Arbeitswelt wollen, müssen wir die digitale Transformation konsequent mit Geschlechtergerechtigkeit zusammendenken. Deshalb haben wir bei Atruvia ein betriebliches Praxislaboratorium eröffnet: „Agile Organisation als Chance für Frauen nutzen“.

In Praxislabs die Zukunft testen

Das Lab ist Teil des groß angelegten Projekts #WomenDigit, in dem mehr als 800 Unternehmen ergebnisoffene Experimentierräume eingerichtet haben, um den digitalen Umbruch als Booster für Frauen zu gestalten. Angesiedelt am Münchener Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung und dem Lehrstuhl für Soziologie der Universität Erlangen-Nürnberg, setzen die Macherinnen um die promovierten Arbeits- und Sozialwissenschaftlerin Kira Marrs auf betriebliche Praxislaboratorien.

In diesen Labs gelten die crossfunktionalen und bereichsübergreifend besetzten Teams aus Beschäftigten als wichtigste Fachleute. In den Labs erproben sie eigenständig neue Gestaltungslösungen für die digitale Arbeitswelt. In Anlehnung an agile Konzepte wie Scrum werden Lösungen direkt in Sprints in der Praxis verprobt. Gefördert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, basiert #WomenDigit auf der Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten. Nach jedem Sprint stellen die Teams einem Kreis aus Führungskräften und Betriebsräten ihre Zwischenergebnisse vor, damit der Transformationsprozess nachhaltig bleibt.

Mehr Frauen für IT begeistern

Solche Zukunftslabore haben eine hohe strategische Relevanz. Atruvia konkurriert als IT-Unternehmen im Bankensektor sowohl mit aufstrebenden Fintechs als auch großen Tech-Unternehmen um IT-Talente. Gleichzeit verlangt die Kundschaft aus der Finanzbranche zunehmend nach digitalen, plattformgesteuerten Services. Daher ist der Fachkräftemangel im IT-Bereich eine der größten Herausforderungen für unser Unternehmen. Frauen sind dabei eine entscheidende Zielgruppe. Und gerade hier haben Unternehmen noch eine Menge Hausaufgaben zu erledigen.

Bei Atruvia haben wir traditionelle, hierarchische Strukturen durch unser agiles Modell der Zusammenarbeit abgelöst. Unser Kulturwandel führt dazu, dass wir Hierarchieebenen abbauen und den Teams mehr Eigenverantwortung geben – ein Ansatz, der gut zu den Praxislabs von #WomenDigit passt. Typische Führungsaufgaben wie die fachliche oder disziplinarische Verantwortung verteilen sich jetzt auf verschiedene Rollen. Atruvia hat, in den Worten von Kira Marrs „eine beispiellose Transformation hinter sich.“ Eine Erkenntnis von ihr lautet: „Dieses Organisationsmodell hat das Potenzial, Gendergerechtigkeit auf lange Sicht zum Durchbruch zu verhelfen und damit eines der hartnäckigsten Ungleichheitsverhältnisse in einem Unternehmen aufzubrechen.“

Eher weiblich gelesene Stärken wie Empathie, Teamfähigkeit oder Begeisterungsfähigkeit passen sehr gut zu den Prinzipien einer agilen Zusammenarbeit. Marrs‘ Forschungskollegin Antje Bultemeier berichtete mir aus dem Atruvia Praxislab: „Viele Frauen haben uns berichtet, dass sie noch nie so viel Anerkennung und Wertschätzung erfahren haben wie im agilen Team. Agilität öffnet aber auch neue Karrierewege und neue Pfade in Richtung Führungsaufgaben.“

Hindernisse finden und ausräumen

Das Kernergebnis der intensiven Lab-Arbeit zeigt, dass durch das neue agile Zusammenarbeitsmodell mit neuen Rollen ein neuer Möglichkeitsraum für Frauenkarrieren entstanden ist. Diese passen besser zu Frauen und ihren Kompetenzen. Die besondere Rolle der People Manager unterstützt eine Abkehr vom Nasenfaktor und eröffnet neue Chancen für Frauen. Hybrides und mobiles Arbeiten – beschleunigt durch Covid-19 als Katalysator – sorgt für das Aufbrechen der Präsenzkultur und damit für mehr räumlich-zeitliche Flexibilität. Der neue Tarifvertrag erhöht die Flexibilität, die es braucht, um den Einsatz für das Unternehmen und die persönliche Lebensplanung besser miteinander in Einklang zu bringen. So haben wir die Erhöhung des Frauenanteils auf allen Ebenen zum harten Unternehmensziel erklärt. Vor allem aber sehen wir, dass der weibliche Anteil im mittleren Management wächst.

Agilität wirkt. Aber auch wir können noch besser werden. Das Women-Digit-Team hilft uns dabei, noch bestehende Hindernisse zu erkennen und anzugehen. So brauchen wir geregelte Verfahren für die Rückkehr nach Elternzeit oder die Aufstockung einer Stelle nach Teilzeit. Sonst können auch in agilen Systemen Karrierebrüche entstehen, vor allem, wenn Frauen in Führungsverantwortung sind. Noch ist Führen in Teilzeit eine Seltenheit – aber muss das so bleiben? Nicht, wenn wir die Rolle von Frauen im Unternehmen, ihre Karriere und die Gestaltung der Arbeitswelt neu denken wollen. Agile Unternehmen bieten riesige Chancen für Frauenkarrieren. Sie zu gestalten, ist aber auch eine Riesenherausforderung. Gender Diversity ist kein Selbstläufer und muss aktiv gestaltet werden.

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Jörg Staff, Chief People Officer bei Atruvia

Jörg Staff

Jörg Staff ist Mitglied des Vorstands und Chief People Officer bei Atruvia (früher Fiducia & GAD) sowie Aufsichtsrat, Beirat und Investor von (Tech-)Start-ups. Er arbeitete vor dieser Position über 20 Jahre als Mitglied von Global Executive Leadership Teams direkt für CEOs und Vorstände führender globaler Unternehmen in der IT- Industrie (SAP, Debis Systemhaus), Logistik (Deutsche Post/DHL) und der Automobilindustrie (Daimler). In seinen globalen Positionen verantwortete er unternehmensweite Strategie-/Transformationsprogramme, Restrukturierungs- und Effizienzprogramme und unterstützte diverse Wachstumsinitiativen. Darüber hinaus sind Schwerpunkte seiner Arbeit People-Themen, wie die Ausrichtung der Unternehmensorganisation auf Human Experience, die Einführung agiler Zusammenarbeitsmodelle und die Stärkung der Innovationkraft. Staff absolvierte ein Studium der Betriebswirtschaft und einen Master of Business Administration (MBA). Über 30.000 Leserinnen und Leser haben bisher seine Kolumne Logbuch einer Transformation gelesen, die 2019/2020 monatlich auf humanresourcesmanager.de erschienen ist. 2021 ist er zum CHRO of the Year gewählt worden.

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