Koalitionsvertrag: Modernes Arbeiten oder Etiketten­schwindel?

Future of Work

Seit Anfang Dezember 2021 ist die neue Bundesregierung im Amt, gebildet aus einer Koalition der Parteien SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP. Die neue Regierung hat in der bevorstehenden Wahlperiode die Möglichkeit und die Verantwortung, wichtige Weichen für die Weiterentwicklung der Arbeitswelt zu stellen. Themen wie neues Arbeiten, lebenslanges Lernen, Plattformökonomie und vieles mehr sind zwar in der Fachwelt längst angekommen. Initiativen aus Regierung und Parlament ließen aber bisher auf sich warten.

Was dürfen wir insoweit von der neuen Regierung erwarten? Welches Verständnis von Arbeit wird den Gesetzes­initiativen zugrunde liegen? Einen ersten Anhaltspunkt liefert der im Oktober verhandelte Koalitionsvertrag. Dort steht verheißungsvoll: „Wir wollen die moderne Arbeitswelt gestalten“. Doch wie viel Gestaltung und moderne Arbeitswelt steckt darin tatsächlich? Der nachfolgende Überblick zentraler Punkte zeichnet ein eher verhaltenes Bild.

Förderung der Aus- und Weiterbildung

Bemerkenswerterweise steht an erster Stelle des Kapitels „Arbeit“ die Förderung der Aus- und Weiterbildung. Der Koalitionsvertrag nimmt dort unter anderem das Konzept des lebenslangen Lernens auf. Weiterbildungsmöglichkeiten parallel zu einer laufenden Beschäftigung sollen ausgebaut und durch neue Varianten des Bundesausbildungsförderungsgesetzes gefördert werden. Vorgesehen ist zudem eine Bildungs(teil)zeit. Schließlich will die Koalition die Rolle der Bundesagentur für Arbeit bei Qualifizierungsmaßnahmen stärken und den bisherigen Vorrang der Arbeitsvermittlung explizit beseitigen.

Ausweitung des Arbeitnehmerschutzes

Wenig überraschend will die SPD-geführte Regierung den Schutz von Beschäftigen ausweiten. Ein wesentlicher Baustein ist das zentrale Wahlversprechen der SPD, den Mindestlohn auf zwölf Euro anzuheben. Die Umsetzung der Mindestlohnerhöhung ist für Oktober 2022 angekündigt.

Das System der befristeten Arbeitsverträge wird nicht grundlegend reformiert. Insbesondere bleiben sachgrundlose Befristungen zulässig. Begrenzt wird jedoch die Möglichkeit, Befristungen mit einem gesetzlichen Sachgrund fast nach Belieben aneinanderzureihen – also Kettenbefristungen zu vermeiden. Zudem will der Koalitionsvertrag dem oft geäußerten Einwand begegnen, die öffentliche Hand profitiere selbst am meisten von Befristungen. Der Sachgrund der sogenannten Haushaltsbefristung, der faktisch nur der öffentlichen Hand zugutekommt, soll dafür abgeschafft werden und sachgrundlose Befristungen für den Bund als Arbeitgeber sollen reduziert werden.

Stärkung der Sozialpartnerschaften

Der Koalitionsvertrag legt die Grundlage für eine Stärkung der Rolle von Gewerkschaften und Betriebsräten. Die Bedeutung von Tarifverträgen soll steigen, indem insbesondere die Tarifflucht erschwert und bei der Vergabe öffentlicher Aufträge auf eine Tarifbindung geachtet wird. Besondere Beachtung findet eine Ankündigung, Gewerkschaften ein digitales Zugangsrecht zu den Betrieben zu gewährleisten. Dieses Thema verfolgten die Gewerkschaften spätestens seit dem Lockdown und der Homeoffice-Pflicht mit Hochdruck, um den Kontakt zur Belegschaft nicht zu verlieren.

Auch die betriebliche Mitbestimmung will die neue Regierung weiterentwickeln. Als ein Mittel der Wahl stellt der Koalitionsvertrag erfreulicherweise eine selbstbestimmte Entscheidung der Betriebsräte heraus, ob sie analog oder digital arbeiten. Ob das die zeitlich unbefristete Gestattung von digital durchgeführten Einigungsstellen einschließt, wird sich zeigen. Die aktuelle gesetzliche Regelung ist bis Ende März befristet. Arbeitgeber und Betriebsräte gleichermaßen sprechen sich weitgehend einhellig für eine Fortsetzung der Regelung aus.

Moderne Arbeitsformen

Die zu Beginn betonte Gestaltung der modernen Arbeitswelt findet sich im weiteren Text des Koalitionsvertrags verstreut über verschiedene Absätze. Neben den erwähnten Aspekten wie Förderung der Weiterbildung und digitale Mitbestimmung wird insbesondere die Möglichkeit flexibler Arbeitszeitmodelle adressiert. Eine grundlegende Reform des Arbeitszeitgesetzes ist allerdings nicht vorgesehen. Nur testweise und nur auf Basis von Tarifverträgen ist die Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle außerhalb der Grenzen des Arbeitszeitgesetzes möglich.

In Bezug auf den Arbeitsort will die Regierungskoalition das recht starre und wenig praxistaugliche Modell der Telearbeit wohl nicht reformieren. Entsprechend der ohnehin schon gelebten Praxis soll aber klargestellt werden, dass für Homeoffice als Ausprägung des mobilen Arbeitens diese starren Regeln nicht gelten. Zudem sollen Beschäftigte in geeigneten Tätigkeiten mobile Arbeit und Homeoffice verlangen und Arbeitgeber dies nur aus betrieblichen Gründen ablehnen dürfen. Schließlich soll mobiles Arbeiten im EU-Ausland nach dem Koalitionsvertrag unproblematisch möglich sein. Dies wäre angesichts der aktuell recht komplexen sozialversicherungs- und steuerrechtlichen Behandlung grenzüberschreitender Arbeit eine spürbare Verbesserung.

Die Bedeutung digitaler Plattformen für die Arbeitswelt erkennt der Koalitionsvertrag an. Die Koalition erwähnt die Plattformen jedoch primär im Kontext fairer Arbeitsbedingungen, suggeriert also eine Gefährdung des Arbeitnehmerschutzes. Dazu passt die angekündigte konstruktive Begleitung der Arbeit der EU-Kommission zur Plattformarbeit. Die Kommission hatte im Dezember 2021 einen Vorschlag für eine EU-Richtlinie vorgelegt, die primär den Beschäftigtenstatus reglementiert, und hierzu eine Vermutung aufstellt, die auf Plattformen arbeitenden Personen seien abhängig beschäftigt.

Der Arbeitsbegriff zwischen den Zeilen

Auf den ersten Blick entwirft der Koalitionsvertrag also ein moderneres Bild der Arbeit. Verschiedene Schlagwörter im Zusammenhang mit New Work finden sich im Text wieder. Hervorzuheben sind insbesondere flexible Arbeitszeitmodelle, mobiles Arbeiten – auch im Ausland – und Plattform­ökonomie. Auch der Ausbau von Aus- und Weiterbildungsprogrammen ist ein wichtiger Baustein für die neue Arbeitswelt, die immer häufiger wechselnde Anforderungen an die Belegschaft stellt.

Bei näherem Hinsehen offenbart sich jedoch ein anderes Bild: Die Regierungskoalition versteht Arbeit primär als Mittel zur Sicherung des Existenzminimums. Abgesehen von der deutlichen Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns, der Einschränkung befristeter Arbeitsverträge und der Ausweitung von Mini- und Midijobs ergibt sich dies vor allem aus dem Umstand, wie die modernen Arbeitsformen beschrieben werden.
Flexible Arbeitszeitmodelle sollen zwar ermöglicht werden, aber nur zeitlich begrenzt und nur unter der Kontrolle der Gewerkschaften. Für nicht tarifgebundene Arbeitgeber ist diese Öffnung nicht vorgesehen. Mobiles Arbeiten soll ausgeweitet werden, der Fokus liegt allerdings auf einem eingeschränkten Anspruch auf Homeoffice sowie der Gewährleistung des Arbeitsschutzes und guter Arbeitsbedingungen. Und die Plattformökonomie versteht die Koalition offenbar wie die EU-Kommission als Gefahr für reguläre Beschäftigungsverhältnisse und faire Arbeitsbedingungen.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Selbstverständnis. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Christoph Seidler

Osborne Clarke
Christoph Seidler ist Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Osborne Clarke in Hamburg. Sein Beratungsschwerpunkt liegt in betriebsverfassungs-rechtlichen Fragen, insbesondere im Kontext von New Work und Arbeitsrecht 4.0.

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