Human First als Unternehmensprinzip

Agile Transformation

Die Beziehung zwischen Menschen und Unternehmen ist brüchig geworden. Nicht nur Kundinnen und Kunden kehren Unternehmen den Rücken. Die Hochkonjunktur von Themen wie Quiet Quitting sowie Perspektivlosigkeit am Arbeitsplatz, Überforderung und Burnout legt nahe, dass diese Tendenz auch in Belegschaften kritische Wirksamkeit erlangt hat. Und sich bei der Gewinnung neuer, junger Talente ebenso manifestiert. Recruiting-Verantwortliche können ein Lied davon singen. Gerade die Generation Y steht dem etablierten Berufsleben und den hergebrachten Karriereperspektiven und Werdegängen insbesondere in Großunternehmen skeptisch gegenüber. Sie sucht Sinn, Selbstverwirklichung und Erfüllung und ist immer schwieriger zu überzeugen.

Die alte Welt der Sicherheit ist bekanntermaßen schon lange vorbei. Doch scheinen Veränderungsdruck, Veränderungstiefe und Veränderungsgeschwindigkeit mittlerweile Dimensionen angenommen zu haben, die zu einer neuen, andersartigen Kritikalität und Dringlichkeit führen. Entsprechend sind von iterativen Veränderungen kaum Entlastungen oder wirklich zukunftsweisende Impulse zu erwarten, die Unternehmen helfen können, ihre beschädigte Beziehung zu den Menschen zu heilen, zu stärken oder neu zu etablieren.

Ein Paradigmenwechsel ist erforderlich. Notwendig ist, den Menschen in den Mittelpunkt unternehmerischen Denkens und Handelns zu stellen. Dies ist ein ethisches und ein betriebswirtschaftliches Erfordernis. Denn Unternehmen, denen dies nicht gelingt, geht die License to Operate abhanden, sie berauben sich ihrer Zukunftschancen, ihre Erfolgsaussichten sind mau. Schließlich brauchen Unternehmen Menschen, doch Menschen nicht zwangsläufig Unternehmen. Wenn dieser Groschen gefallen ist, ist klar, dass am Umbau zum menschenzentrierten Unternehmen kein Weg vorbeiführt, und zwar auch dort, wo die menschlichen Berührungspunkte nicht so offensichtlich sind, wie zum Beispiel in der Projektarbeit oder beim Kundenkontakt. Der Umbau zum menschenzentrierten Unternehmen ist nicht auf einzelne Funktionen zu begrenzen. Er betrifft das Unternehmen in Gänze. Als Herausforderung und Chance.

Die Umsetzung des Prinzips Human First läuft am Ende auf eine radikale Neuausrichtung der Unternehmensrealität hinaus. Was, einmal gestartet, ein kaum aufzuhaltendes Veränderungsmoment bedeutet. Dieser weitreichende Transformationsprozess von Aufbau- und Ablauforganisation darf die operative Tätigkeit des Unternehmens nicht gefährden. Wo und womit also anfangen? Das hängt davon ab, welche Gelegenheiten den Weg zur menschenzentrierten Unternehmensorganisation bereiten. Stellenneubesetzungen, die Zusammenlegung oder Neuausrichtung von funktionalen Einheiten oder besondere geschäftliche Herausforderungen, die grundlegende Veränderungen erfordern, sind solche Gelegenheiten, genauso wie die Realisierung von Geschäftschancen, die ohne neue Unternehmenspraktiken nicht ergriffen werden können. Ebenso können Querschnittsthemen geeignet sein, wie etwa bestimmte Prozesse oder Methoden, da diese sich oftmals als abgegrenzt und somit handhabbar darstellen und gleichzeitig in der Breite Verbesserungspotenzial mit quantifizierbarer Wertschöpfung ermöglichen.

Agilität als Startpunkt

Als ein gut geeigneter Startpunkt von Human First hat sich das Querschnittsthema agiles Arbeiten erwiesen. Zieht man in Betracht, wann agile Methoden erstmals kodifiziert wurden, sind sie ein alter Hut. Aber die Neuentdeckung lohnt sich, da Agilität das Schicksal der meisten Klassiker der Weltliteratur teilt: viel zitiert, wenig gelesen. Und so erstaunt es nicht, dass vielfach unter Agilität verstanden wird, Mitarbeitende herzhaft aufzufordern, mal aus dem Quark zu kommen und einen Zahn zuzulegen. Agiles Arbeiten zielt aber nicht auf Geschwindigkeit ab, auch wenn es zu kürzeren Umsetzungszyklen führt. Wesenskern agiler Arbeitsmethoden ist die vollkommene Ausrichtung von Tätigkeiten auf die Personen, die sie nutzen. So kann Agilität ein Vehikel der Menschenzentrierung werden.

Am Anfang der agilen Beschäftigung steht die genaue Kenntnis von Nutzerbedürfnissen und -erwartungen. Ihnen nähert sich selbstorganisiert ein Arbeitsteam auf Grundlage einer verinnerlichten Nutzerperspektive unter genauer Kenntnis der relevanten Geschäftsziele sowie der Zeit und Ressourcenausstattung. Ein wesentliches Betriebsmittel dieser Arbeitsweise ist der fortlaufende, hierarchiefreie Diskurs um die beste Zielerreichung aus Nutzersicht unter Beachtung der eigenen funktionalen Rolle im Arbeitsteam. Dies setzt fähige und befähigte Arbeitskräfte voraus sowie Vertrauen und Zutrauen in diese von Unternehmensseite. Unmittelbar berührt dies zentrale Fragen der Unternehmens- und Führungskultur.

Enormes Potenzial

Obgleich die Methoden des agilen Arbeitens ihren Anfang in der Softwareentwicklung und Programmierung haben, ist klar, dass agiles Arbeiten im Personal- und Recruiting-Bereich ein enormes Potenzial bietet. Der Wandel des HR-Bereichs, wie immer er konkret im Unternehmen aussieht, wird nur gelingen, wenn sich das Personalmanagement selbst durch die agilen Arbeitsmethoden fortentwickelt. Dergestalt neu formatierte HR-Bereiche können eine enorme Kraft für die erforderliche menschenzentrierte Weiterentwicklung von Unternehmen entwickeln, indem sie zum Zentrum für Menschenkompetenz im Unternehmen werden, anstatt sich als Kompetenzzentrum für Arbeitsrecht einhegen zu lassen. Der Weg zu Human First führt von innen nach außen und beginnt bei jedem Einzelnen oder jeder Einzelnen. Und deshalb muss genau dort, im Umgang mit den Mitarbeitenden und bei der Ausgestaltung der individuellen Arbeitsumgebung, das Prinzip Human First ansetzen. Durch den Einsatz agiler Methoden kann das Gefühl von Wertschätzung und Selbstwirksamkeit maßgeblich fördert werden. Nichts ist so schwer, wie sich selbst zu verändern. Aber der Weg ist aller Mühen wert. Weil er die Zufriedenheit aller Beteiligten erhöht und der Nutzen für alle Anspruchsgruppen unmittelbar erfahrbar und für das Unternehmen messbar ist.

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Tim Alexander, Chief Marketing Officer und Chief Experience Officer bei der Deutschen Bank

Tim Alexander

Tim Alexander ist Chief Marketing Officer und Chief Experience Officer bei der Deutschen Bank und Autor des Buchs Human first, das 2022 im Verlag Franz Vahlen erschienen ist.

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