Was kann HR gegen Ausbeutung am Arbeitsplatz tun?

Verantwortung

Es braucht wohl einen großen Künstler, um ein Werk zu schaffen, das gleichzeitig anachronistisch und zeitlos ist. Genau dies gelang der Comedy-Ikone Charlie Chaplin 1936 mit dem Film Moderne Zeiten. Als Stummfilm war der Streifen bereits aus der Zeit gefallen, in Hollywood dominierten längst die Tonfilme. Gleichzeitig hat das Schicksal des von Chaplin verkörperten Arbeiters bis heute Gültigkeit. Denn der wird, im wahrsten Sinne des Wortes, durch die Maschine gedreht: Alles in der Fabrik, in der er arbeitet, ist auf Effizienz ausgelegt, Menschen sind nur austauschbares Humankapital.

Seien es diejenigen, die in den dreißiger Jahren am Fließband standen, die Bergmänner der Wirtschaftswunderjahre oder aktuell die Tausenden Fahrradkuriere und Clickarbeiterinnen der digitalen Wirtschaft: In diesen Branchen gibt es immer wieder Berichte von Fällen der Ausbeutung. Das soll nicht heißen, dass sich seit den Zeiten Chaplins nichts getan hätte. Das Arbeitsrecht wurde mit der Zeit immer rigider und damit arbeitnehmerfreundlicher. Es gibt heute unter anderem Vorschriften zur Arbeitszeit, zur Sicherheit am Arbeitsplatz und zum Mindestlohn. Unbegrenzte Dauerschichten, durch die lediglich eine Handvoll Geld verdient wurde, gehören zumindest in Deutschland der Vergangenheit an.

Das Thema Ausbeutung in der Arbeitswelt ist aber nicht verschwunden, genauso wenig wie der Kampf dagegen. Diesen führen Ermittlungsbehörden wie der Zoll, Gewerkschaften, aber auch ambitionierte Managerinnen und Führungskräfte. Und das Personalwesen? Welche Verantwortung hat die HR-Abteilung, wenn es um die Einhaltung von Standards geht und darum, zu verhindern, dass Menschen unter unangemessenen Bedingungen arbeiten? Die Antwort darauf ist komplex, hat sowohl rechtliche als auch ethische Dimensionen. Ein Annäherungsversuch.

Formen von Ausbeutung

Unter Ausbeutung sind oftmals lange Arbeitszeiten in körperlich fordernden Jobs mit schlechter Bezahlung zu verstehen. Sie ist heute vielleicht nicht mehr so weit verbreitet, aber sie existiert in gewissen Nischen weiter. Das Bundeskriminalamt erhebt jährlich die Opfer von Arbeitsausbeutung, seit geraumer Zeit schwankt die jährlich erhobene Zahl meist zwischen 40 und 70 Fällen, ausgenommen vom Jahr 2017, als es mit 180 Fällen einen Ausreißer nach oben gab. Doch längst nicht alle Fälle werden an Kriminalämter und Bundespolizei herangetragen. Die Dunkelziffer dürfte also weitaus höher sein. „Man denke an die Fleisch verarbeitende Industrie, das Bauwesen, den landwirtschaftlichen Sektor, den Hotel- und Gastronomiebereich oder den Pflegesektor“, sagt Bernd Irlenbusch. Er ist Professor für Unternehmensentwicklung und Wirtschaftsethik an der Universität Köln, außerdem ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Berufsverbandes der Compliance Manager. Wer in diesen Sektoren arbeite, der halte sich häufig nur kurz zur Verrichtung der Arbeit in Deutschland auf. Dies sei ein Ausbeutungsaspekt, der durch die Globalisierung getrieben werde. Bekannt ist etwa der Tönnies-Skandal aus der Fleischindustrie. 2020 wurde aufgedeckt, dass Arbeitskräfte aus dem Ausland unter anderem oft in überteuerten Unterkünften untergebracht wurden.

Manche dieser Branchen sind alte Bekannte, wenn es um fragwürdige Arbeitsbedingungen geht. Hier liegen seit Langem Dinge im Argen: Schwarzarbeit auf dem Bau und in der Gastronomie oder brutale Akkordarbeit in der Schlachtung. Überraschender ist, wenn auch junge, hippe Start-ups ins Visier geraten. Doch auch hier gibt es zahlreiche schwarze Schafe, die nur kurzfristig Menschen für ungelernte Tätigkeiten einstellen. Diese bekommen dann bestenfalls ein Gehalt knapp über dem Mindestlohn, oft werden sie außerdem in fragwürdige Arbeitsverhältnisse gedrängt, bei denen der Verdacht auf Scheinselbstständigkeit naheliegt. Die EU-Kommission schätzt, dass europaweit in etwa 5,5 Millionen Fällen Digitalplattformen – wie etwa Essens- und Lebensmittellieferdienste – Arbeitsverhältnisse falsch klassifizieren, etwa Mitarbeitende als Selbstständige einordnen. Dies führe dazu, dass viele von ihnen ihre Rechte nicht wahrnehmen würden oder könnten. Bei dem Berliner Lieferdienst Gorillas beispielsweise gingen im vergangenen Jahr Mitarbeitende auf die Barrikaden: Verträge seien unsicher, die Bezahlung schlecht und nicht einheitlich, die Ausrüstung mangelhaft, die Rucksäcke zu schwer, die Pausen zu kurz.

In der modernen Arbeitswelt schleichen sich neue und versteckte Formen der Ausbeutung ein, nicht zuletzt durch den technologischen Fortschritt. Die digitale Welt entgrenzt immer mehr Berufliches und Privates voneinander und öffnet dem Ende fester Arbeitszeiten Tür und Tor. Durch die Globalisierung sind die Beschäftigten eines Unternehmens in der ganzen Welt verteilt, was eine wirksame Kontrolle der Arbeitsbedingungen oftmals erschwert. Arbeitszeitbeschränkungen sind im Homeoffice etwa kaum zu überblicken. Hier spielen aber nicht nur zu hohe Ansprüche von Vorgesetzten oder Arbeitgebern eine Rolle. „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zu Hause arbeiten, möchten keinesfalls in den Verdacht kommen, zu wenig zu arbeiten“, meint Irlenbusch. Manch einer arbeite daher besonders viel, vielleicht zu viel.

Der rechtliche Rahmen

Was aber können, ja müssen Personalverantwortliche tun? Rechtlich ist das Thema nicht immer direkt bei ihnen angesiedelt. „Grundsätzlich liegt die Verantwortung für solche Fragen vor allem bei der Compliance-Abteilung“, sagt Nathalie Oberthür. Sie ist Vorsitzende des Ausschusses Arbeitsrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) und beschäftigt sich unter anderem mit den rechtlichen Aspekten der Ausbeutung. Die Tatsache, dass manche Themen nicht zum Kernaufgabenbereich der Personalabteilung gehören, heißt aber nicht, dass sie diese ignorieren darf, wenn sie auf Ausbeutung aufmerksam wird. „Die Personalabteilung ist dafür verantwortlich, dass rechtliche Bedingungen in Arbeitsverträgen eingehalten werden“, erklärt die Anwältin. Grundsätzlich gelte für die Personalverantwortlichen das, was für jede Führungskraft eines Unternehmens gilt: „Wenn sie Missstände in ihrem Verantwortungsbereich sehen, müssen sie dies dem Unternehmen mitteilen“, sagt Oberthür. Das Arbeitsschutzgesetz kennt zudem ein Beschwerderecht, Beschäftigte dürfen also beklagen, wenn etwas im Argen liegt, aber auch Führungskräfte, denen etwas auffällt, dürfen dieses in Anspruch nehmen. Entsprechende Stellen sollte es im Unternehmen geben.

Ohnehin rollt gerade eine ganze Reihe von Regulierungen auf Unternehmen zu, die weitere Melde- und Aufsichtspflichten mit sich bringen. Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz tritt am 1. Januar 2023 in Kraft. Es verpflichtet Unternehmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten, sich auch um die Zustände bei ihren Zulieferern zu sorgen. Zudem werkelt die Bundesregierung an der – verspäteten – Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie der Europäischen Union, die neue Beschwerdekanäle öffnen wird.

Also ist der Personaler oder die HRlerin nur eine Person unter vielen, ohne besondere Pflichten? Ganz so einfach ist es auch nicht. „Man muss auch über die rechtlichen Aspekte hinausgehen“, sagt Christoph Lütge. Der Philosoph und Wirtschaftsinformatiker besetzt den Lehrstuhl für Wirtschaftsethik an der Technischen Universität München. Er sieht die HR-Verantwortlichen sogar in einer besonderen Position, wenn es darum geht, vernünftige Bedingungen für alle zu ermöglichen. Jeder Mensch habe in einem Arbeitsverhältnis Interessen: Angestellte – sowohl beruflich als auch privat – der Unternehmer, die Managerin und die Teamleitung. „Dafür, dass Arbeitsverträge all dem Rechnung tragen und die Interessen so ausgeglichen werden, dass das Unternehmen funktioniert, tragen die Personalmanager eine besondere Verantwortung“, sagt Lütge.

HR falle die Aufgabe zu, nach Win-win-Möglichkeiten zu suchen. „Wir sollten nicht davon ausgehen, dass die Wünsche von Arbeitgeber und Arbeitnehmer Gegensätze sind“, meint Lütge. Durch clevere Gestaltung von Prozessen und Verträgen könnten Personalabteilungen dafür sorgen, dass die Wünsche der Vorgesetzten nach Produktivität erfüllt werden, aber gleichzeitig auch die Wünsche der Beschäftigten, etwa nach ausreichend Freizeit. Der Vorteil, wenn HR das Ruder übernimmt: Die Personalabteilung ist nicht in der Funktion einer direkten Vorgesetzten, hat deshalb einen externen Blick auf die Bedürfnisse beider Seiten.

Hier einen vernünftigen Ausgleich zu schaffen, erfordert ein hohes Maß an Flexibilität. Und zwar in einem Umfang, der in Deutschland schwer zu vermitteln ist. „Bei uns gibt es immer noch die Mentalität, dass Arbeitszeiten sich in das klassische Nine-to-Five-Modell einpassen müssen“, sagt Lütge, trotz der Pandemie sei das nach wie vor so. Und auch wenn Homeoffice und flexible Arbeitszeiten mitunter um Problem werden: Richtig gemanagt und kontrolliert können sie auch eine Chance sein. Der Mitarbeiter, der mittags seine Kinder betreuen kann und dafür dann von 18:00 bis 20:00 Uhr noch mal am Schreibtisch sitzt, wird das nicht als Ausbeutung empfinden, sofern die Rahmenbedingungen klar sind. „Am Ende müssen wir von dieser Idee weg, dass wir alle gleich behandeln müssen“, empfiehlt Philosoph Lütge. Sonderregelungen würden oft als Störung des Betriebsfriedens betrachtet: „Den sollten wir in Deutschland nicht immer so hoch hängen.“ Vorauseilender Gehorsam gegenüber etwaigen Protesten führe oft dazu, pragmatische Lösungen von vorneherein auszuschließen.

Bedenken im Betrieb können HR-Verantwortliche durch ganz praktische Anmerkungen auflösen. Ethisches Verhalten trägt durchaus positiv zum Betriebsergebnis bei, darauf deuten immer wieder Studien hin. Wer seine Angestellten gut behandelt, profitiert also langfristig. Gute Arbeitsbedingungen sorgen für positive Stimmung, Bindung und geringere Fluktuation. „Die Ressource Mensch ist die wichtigste für jedes Unternehmen“, ist sich Lütge sicher. „Die muss ein Arbeitgeber aber auch pfleglich behandeln.“ Das nicht zu tun, werden sich Unternehmen künftig zudem kaum noch leisten können. Fast in allen Branchen zeichnen sich gerade Personalengpässe ab, nicht nur Fachkräfte, sondern auch ungelernte Kräfte fehlen, etwa in der Gastronomie oder in der Logistik. Wer da ausbeuterische Geschäftspraktiken an den Tag legt, wird Schwierigkeiten haben, Talente zu finden und zu behalten. Auch Wirtschaftsethiker Bernd Irlenbusch glaubt, dass eine engagierte Personalabteilung ihrem Betrieb dabei helfen könne, auf einem veränderten Arbeitsmarkt Erfolg zu haben: „Fair behandelte und damit zufriedene Mitarbeiter sind eine unschätzbare Unternehmensressource, die zum nachhaltigen Unternehmenserfolg beiträgt.“ Das sollten sich Personalverantwortliche unermüdlich ins Bewusstsein rufen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Grenzen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Lars-Thorben Niggehoff ist freier Journalist und Mitgründer des Journalistenbüros Dreimaldrei in Köln.

Lars-Thorben Niggehoff

Lars-Thorben Niggehoff ist freier Journalist und Mitgründer des Journalistenbüros Dreimaldrei in Köln.

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