Das System Arbeit neu denken

Arbeitsrecht

Siegfried Baumeister gehört zu den führenden Köpfen im Personalmanagement. Nun, nach 40 Jahren in diesem Beruf, hat er sich aus der operativen Rolle zurückgezogen. Im Gespräch blickt der neue Vorsitzende der Selbst GmbH auf seine Karriere, auf die eigene Zunft und was sich seiner Meinung nach ändern müsste.

Herr Baumeister, würden Sie jungen Leuten heute empfehlen, in den Personalbereich zu gehen und dort eine Karriere anzustreben?
Den ersten Teil Ihrer Frage beantworte ich mit einem klaren: ja. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass der Faktor Mensch in der Führung von Unternehmen immer wichtiger wird, ich sehe ihn sogar als den erfolgskritischsten Faktor der Zukunft überhaupt. Aus diesem Grund werden diejenigen, die sich sozusagen von Berufs wegen mit dieser Thematik beschäftigen, in Zukunft sehr gefragt sein.
Sie haben aber auch den Begriff der „Karriere“ erwähnt. Dazu habe ich ein eher gespaltenes Verhältnis. Dieses Denken, dass alles immer nach oben gehen muss, immer weiter auf der Hierarchieleiter, das kann und darf nicht mehr der allein entscheidende Wertmaßstab für ein gelungenes Berufsleben sein. Was Menschen wirklich wollen, ist Entwicklung. Die erreiche ich vor allem durch interessante fachliche Projekte, Aufgaben und Herausforderungen, und das ist etwas ganz anderes als immer nur zu schauen, wie und wann ich im Organigramm wieder ein Kästchen mehr nach oben wandern kann, und wann womöglich die Zeit für die berühmte „Personalverantwortung“ gekommen ist.

Wenn jemand ins Human Resources Management geht, kommt er in einen Bereich, der immer wieder Prügel bezieht.
Sehr viele Kolleginnen und Kollegen leisten auf vielen Gebieten eine sehr gute Arbeit. Aber andererseits ist die Kritik zum Teil schon berechtigt. Ich persönlich bin heute noch dafür dankbar, dass ich das Personalgeschäft in fortschrittlichen amerikanischen Unternehmen lernen durfte. Das, was ich dort mitnehmen konnte, hat meine Arbeit bis heute geprägt.

Sie waren in den 70er Jahren unter anderem bei der Mars-Gruppe. Was war dort das Besondere für Sie damals?
Das Unternehmen ist und war schon damals sehr progressiv, gerade im HR-Bereich. Für das zum Beispiel Ende der 70er Jahre entstandene Werk in Viersen wurde ein neuartiges Gruppenarbeitsmodell entworfen, woran ich mitarbeiten durfte. Dieses Modell ist nach wie vor erfolgreich und auch für heutige Verhältnisse immer noch wegweisend.

Hatten Sie damals einen Betriebsrat?
Ja, klar. Aber die Amerikaner haben eine andere Kultur. Dort überlässt man es nicht den Gewerkschaften – Betriebsräte gibt es dort keine –, die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten, sondern man verlangt es von den Personalleuten, eine Rolle zu übernehmen, wie sie hierzulande teilweise die Betriebsräte haben. Und diese Schule hat mich schon sehr geprägt.

Der Personaler als Kümmerer?
Genau. Es ist ein konstruktives Gestalten im Spannungsfeld zwischen den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen.

Wie ist es mit dem Verständnis für das Business gewesen?
Gerade da gibt es in amerikanischen Unternehmen eine sehr große Erwartung und Anforderung an alle Führungskräfte, also auch an die Personaler. Dementsprechend ist man auch eingebunden. So lag zum Beispiel einer meiner Arbeitsschwerpunkte bei Parker, wo ich nach meiner Zeit bei Mars fast zehn Jahre war, in der Mitwirkung an verschiedenen Merger and Acquisitions-Projekten. Viermal wurden in meiner Zeit in Deutschland Unternehmen übernommen und ich war mittendrin in den damit zusammenhängenden Integrationsprozessen. Unter anderem mussten neue Management-Teams aufgebaut und Organisationsstrukturen angepasst werden.
Mit dem Thema Organisation habe ich mich in meiner Laufbahn übrigens sehr oft und intensiv beschäftigt. Bei Rexam, einem britischen Konzern, war ich in den 90er Jahren mitverantwortlich für den Aufbau mehrerer osteuropäischer Standorte. Und auch später bei Voss kamen immer wieder neue Standorte dazu – in Polen, China oder in Mexiko. Das waren schon Highlights für mich.

War die Zeit bei Voss die spannendste für Sie?
Es war die Zeit, die am meisten Spaß gemacht hat, insofern ja. Warum? Weil ich in dieser unabhängigen und mittelständisch geprägten Unternehmensgruppe all das ungestört umsetzen konnte, was ich zuvor bei den internationalen Unternehmen gelernt hatte und was ich für wichtig hielt. Natürlich musste man die Leute überzeugen und mitnehmen, aber es gab keinerlei politische Widerstände und Konflikte der Art, wie man sie öfter in Konzernwelten erlebt.

Lastete, als Sie 1973 anfingen, auch schon dieser Rechtfertigungsdruck auf der HR-Profession wie heute?
Das ging etwas später los. Bis Anfang der 70er Jahre gab es die Welt des guten alten Personalbüros. Lohn- und Gehaltsabrechnung, Aktenverwaltung, Krankenscheine ausstellen – das war es dann. Vielleicht noch ein wenig Arbeitsrecht. Personal- oder HR-Management, wie wir es heute kennen, gab es damals in Deutschland nicht, anders als in den USA, wo sich diese Disziplin schon seit den 40er und 50er Jahren erfolgreich etablieren konnte. Bei uns kam das erst in den beginnenden 70er Jahren in Gang. Da haben wir dann alles das nachholen müssen, was die angloamerikanische Arbeitskultur schon längst kannte und beherrschte.
Doch die Personalfunktion – jedenfalls ein großer Teil ihrer damaligen jungen Vertreter – beschritt hierzulande leider erst einmal einen Irrweg. Das hatte auch mit dem damals noch spürbaren Geist der 68er-Bewegung in Deutschland zu tun. Viele ambitionierte Personalleute waren stark von humanistischen Idealen beeinflusst. Man wollte als Personaler damals mehr die Welt verbessern als dem eigenen – und sie bezahlenden – Unternehmen zum wirtschaftlichen Erfolg zu verhelfen. Das war ein Fehler. Ich weiß das, weil ich von Anfang an selber mit dabei war. Weite Teile der Personaler-Gilde sind so mit wehenden Fahnen in die falsche Richtung gelaufen. Man brauchte sich also auch nicht zu wundern, wenn es an Akzeptanz gerade dort fehlte, wo das Geld verdient wurde.

In den USA gibt es heute noch eine ähnliche Debatte wie in Deutschland über den Platz von HR am „Tisch der Entscheidungen“.
Ja, natürlich. Jedoch mit einem anderen Selbstverständnis der Personaler, die sich dort sehr wohl als Teil des Geschäfts verstehen, also keine andere Agenda verfolgen.

Hat denn vielleicht auch die starke Rolle der Betriebsräte und Gewerkschaften den Personalern in Deutschland geschadet, weil sie ihnen Aufgaben weggenommen haben?
Starke Arbeitnehmervertreter schaden nur solchen Personalern, die dem Irrtum unterliegen, nicht sie, sondern die Betriebsräte seien zuständig, wenn es um die Vertretung der Belegschaftsinteressen geht. Würde man einem solchen Rollenverständnis folgen, müsste man auf der einen Seite nur mit den Betriebsräten verhandeln, für die andere Seite hätte man ja die Vorgesetzten. Bodenhaftung und die Nähe zur Basis bleiben auf der Strecke, und das sehe ich als eine generelle Gefahr für die deutschen Personaler.
Genau darum geht es mir – jenseits aller fachlich-inhaltlichen Themen. Ich sehe es als meine ureigene Aufgabe, eine Belegschaft hinter mich zu bringen und in ihr verankert zu sein. Das Faszinierende daran ist übrigens, dass ich dann auch vom Top Management viel ernster genommen werde. Auf diese Weise habe ich meine Rolle immer als die eines Mediators gesehen, der sich mitten im Spannungsfeld zwischen den Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer bewegt und konstruktiv vermittelt.

Ein schwieriger Spagat.
Natürlich. Ich bin zwar vom Arbeitgeber eingesetzt und werde von ihm bezahlt, aber er erwartet von mir genau diese Rolle und übrigens auch kritisches und korrigierendes Feedback. Ein Executive eines US-Unternehmens hat es einmal sinngemäß so gesagt: „Wir brauchen Euch Personalmanager, damit Ihr auf uns aufpasst, dass wir keine unausgewogenen Entscheidungen treffen.“ Warum sagen das amerikanische Firmenchefs? Ganz einfach, weil sie nicht wollen, dass ein Nährboden entsteht, der es Gewerkschaften erlauben würde, im Unternehmen Fuß zu fassen. Das ist die Besonderheit des dortigen Systems, und von daher gibt es der Arbeit der Personalleute eine andere Bedeutung als wir sie kennen.

Haben Sie das Gefühl, dass die Verankerung in der Belegschaft von den Unternehmensleitungen in Deutschland gewollt wird?
Ich glaube, es ist ihnen in der Mehrheit nicht bewusst, wie wichtig das wäre. Es ist halt nicht Teil der deutschen Arbeitskultur. Ich weiß aber, dass es funktioniert, wenn man es so macht, und dass es zusätzlichen Nutzen bringt. Dave Ulrichs berühmtes Rollenkonzept für die HR-Profis sieht ja nicht nur die Rolle des Business Partner vor. Das wird in Deutschland oft vergessen. Hierzulande wird sehr eindimensional auf dieses Konzept geschaut und dann wundert man sich, dass es nicht so recht funktionieren will. Dave Ulrich sieht natürlich den Business Partner auf Augenhöhe mit dem Management, aber gleichzeitig beschreibt er auch die Rolle des Employee’s Advocate, also die Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer. Und diese Rolle darf man nicht nur Betriebsräten und Gewerkschaften überlassen, wenn man wirklich erfolgreiche Personalarbeit machen und nicht in neo-klassenkämpferischen Szenarien enden will.

Der Personalbereich hat eine enorme Professionalisierung durchgemacht. Wo muss HR sich noch verändern Ihrer Meinung nach? Ist es vor allem die Verankerung in der Belegschaft, von der Sie gesprochen haben?
Das ist ein Punkt. Ich denke aber auch: Wir müssen das ganze System Arbeit neu denken.

Wie meinen Sie das?
An der Art, wie wir Personalarbeit – und ganz besonders Personalentwicklung – betreiben, hat sich in den letzten Jahrzehnten nichts Wesentliches geändert. Die Begrifflichkeiten wurden ein wenig modernisiert und digitalisiert. Aber in der Substanz gleicht die Personalarbeit von heute immer noch sehr der aus den 70er und 80er Jahren. Dabei hat sich das ganze Umfeld verändert, und die Menschen dazu. Man kann ja auch nicht mehr Produkte entwickeln oder vermarkten wie vor 30 Jahren.
Die Mitarbeiter sind enorm wichtig für die Unternehmen und werden es noch mehr sein. Die Frage ist nur: Sind die Personaler diejenigen, die hier Entscheidendes beitragen können? Sind sie dafür gerüstet, Menschen zu führen und zu betreuen, und zwar auf der Grundlage heutiger und zukünftiger Werte und Bedürfnisse?

„Der Mitarbeiter steht im Mittelpunkt“ – das hört man doch von den meisten Unternehmen. Ein gewisser Bewusstseinswandel hat stattgefunden.
Ja, aber da muss sich noch viel mehr ändern. Wir brauchen ein wirkliches, also echtes partnerschaftliches Arbeiten auf Augenhöhe in der Organisation – zwischen den Mitarbeitern, den Unternehmen und seinen Führungskräften. Davon sind wir immer noch Lichtjahre entfernt.
Ich gebe dazu ein kleines Beispiel. Stellen Sie sich mal vor, ein interessanter Kandidat für eine wichtige Funktion sagt: „Bevor ich hier einen Vertrag unterschreibe, bestehe ich darauf, dass derjenige, der mein Vorgesetzter werden soll, sich einem Test nach meinen Vorgaben unterzieht. Ich muss herausfinden, ob er als Führungskraft geeignet ist, mich zu führen. Denn davon hängt ja immerhin meine berufliche Entwicklung und letztlich die Existenz meiner Familie ab.“

Klingt utopisch.
Genau. Aber dann hätten wir tatsächlich Augenhöhe. Wir erlauben uns ja auch das Gleiche umgekehrt und verlangen von Kandidaten, dass sie sich diversen, mehr oder weniger fragwürdigen Auswahlverfahren unterziehen, die herausfinden sollen, ob sie die Richtigen für uns sind oder nicht.

Ihre Idee wäre sehr aufwändig.
Das ist ja nur ein Beispiel. Aber das allein ist es nicht. Das ganze Thema Personalentwicklung gehört unter demselben Aspekt auf den Prüfstand. Eine Personalarbeit, die die Menschen letztlich zu Objekten ihres Handels macht, ist meines Erachtens nicht mehr zeitgemäß. Einseitige Diagnostik, einseitiges Entscheiden, einseitiges Bewerten: Die Leute werden das bald nicht mehr mit sich machen lassen. Ein anderes Thema ist die Hierarchie. In der Automobilzuliefererindustrie, aus der ich komme, erleben wir schon heute, dass immer mehr Arbeit in interdisziplinären und übergreifenden Projektteams erledigt wird, die teils auch mit entsprechenden Teams der Hersteller eng vernetzt sind. In diesen Prozessen wird die eigentliche Musik gespielt, hier findet also Wertschöpfung statt. Die gute alte Hierarchie erweist sich da immer mehr als Leistungsblockierer und ein Ressourcen verschlingendes und überhaupt nicht wertschöpfendes Monster.

Was bedeuten die zunehmenden Netzwerkstrukturen für die Personaler?
Personalentwicklung sieht als ihr vorderstes Spielfeld leider immer noch die Hierarchie. Das muss sich ändern. Was ist eigentlich Karriere? Sie bezieht sich letztlich immer noch auf Hierarchie. Hierarchie wird jedoch immer unwichtiger – und störender, ein echter Leistungsverhinderer.

Hierarchien sind doch per se erstmal nichts Schlechtes.
Das hängt von ihrer Bestimmung und den mit ihnen verbundenen Absichten ab. Hierarchie heißt ja wörtlich übersetzt „heilige Herrschaft“. Hierarchien sehen ihren ultimativen Zweck in ihrem eigenen Machterhalt. Deshalb stehen sie in Konkurrenz zu prozessorientierter Projektarbeit und netzwerkartigen Strukturen innerhalb eines Leistungssystems.

Welche Aufgabe hat der Projektverantwortliche?
Projektleiter sind mehr Moderatoren als fachliche Entscheider. Das ist die veränderte Führungsrolle, wie sie in jeder Form von Teamarbeit gefordert ist. Bei immer komplexer werdenden Problemstellungen und einem verschärften Wettbewerb wird man die Arbeit nur noch so ergebniswirksam und wettbewerbsfähig erledigen können. Zudem ist es genau das, was die guten Fachkräfte erwarten, wenn sie sich für den einen oder anderen Arbeitgeber entscheiden.

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Jan C. Weilbacher

Jan C. Weilbacher

Head of Communications
HRpepper
Jan C. Weilbacher ist Senior Consultant und Kommunikationsmanager bei HRpepper Management Consultants. Davor war er sieben Jahre Chefredakteur des Magazins Human Resources Manager. Vor kurzem erschien sein Buch „Human Collaboration Management. Personalmanager als Berater und Gestalter in einer vernetzten Arbeitswelt“. Twitter: @JWeilbacher

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