Urlaubsansprüche tilgen: Auf die Reihenfolge kommt es an

Urlaubstage

Hintergrund

Die Gewährung zusätzlicher Urlaubstage ist ein gängiges Mittel, um einen Arbeitsplatz für einen Arbeitnehmenden attraktiver zu machen. Diese Urlaubstage können aus dem Arbeitsvertrag oder einem Tarifvertrag herrühren und an unterschiedliche Bedingungen geknüpft sein. Da der übergesetzliche Urlaub im Gegensatz zum gesetzlichen Mindesturlaub nicht von Schutzvorschriften des Bundesurlaubsgesetzes flankiert ist, kann es zu großen Abweichungen bei den Regelungen des Verfalls, der Abgeltung und der Mitnahme in das neue Kalenderjahr kommen. Dabei stellt sich die Frage, wie mit übriggebliebenen Urlaubstagen zu verfahren ist, aus welchem Anspruch sie erwachsen und welche Regelungen folglich anzuwenden sind.

Sachverhalt

Der Kläger war bei der Beklagten als stellvertretender Regionalleiter in einer 5-Tage-Woche angestellt. Er hatte den gesetzlichen Anspruch auf 20 Tage Mindesturlaub und weitere fünf Tage Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen. Diese Ansprüche wurden im anwendbaren Tarifvertrag wiederholt und der Mindesturlaub auf 30 beziehungsweise 32 Tage verlängert. Weiter war tarifvertraglich geregelt, dass übergesetzliche Urlaubsansprüche, die im Folgejahr nicht bis zum 30. Juni genommen wurden, verfallen. Im Jahr 2016 nahm der Kläger 26 der insgesamt 37 Urlaubstage. Dabei wurde nicht bestimmt, welcher Urlaubsanspruch getilgt werden soll. Vom 8. September 2016 bis 30. Juni 2017 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Daraufhin war er vom 1. Juli 2017 bis 31. August 2020 aufgrund einer Vorruhestandvereinbarung freigestellt. Im Anschluss endete das Arbeitsverhältnis.

In seiner Klage vor dem Arbeitsgericht Bielefeld hat der Kläger auf Abgeltung der restlichen elf Urlaubstage geklagt, zusammengesetzt aus sechs Tagen gesetzlichem Mindesturlaub und fünf Tagen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen. Das Gericht hat der Klage bezüglich des Zusatzurlaubs stattgegeben und sie bezogen auf den Mindesturlaub abgewiesen. Somit war nur noch der Zusatzurlaub Streitgegenstand des Verfahrens vor dem Bundesarbeitsgericht.

Entscheidung

Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 1. März 2022 entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Tilgung der fünf Tage Zusatzurlaub hat. Grundsätzlich gelte § 366 des Bürgerlichen Gesetzbuches, wenn keine anderen Bestimmungen getroffen wurden. Jedoch müsse die Tilgungsreihenfolge dahingehend modifiziert werden, dass der hypothetische Parteiwille die im § 366 II vorgeschriebene Reihenfolge ersetzt. Deshalb werden zuerst die gesetzlichen Urlaubsansprüche und dann erst diejenigen Ansprüche getilgt, die ihn übersteigen.

Den Tarifparteien stehe es frei, einen Urlaub zu vereinbaren, der den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigt. Wird dabei nicht zwischen den beiden Anspruchsgründen unterschieden, gelte in Bezug auf den Bestandteil, der mit dem gesetzlichen Mindesturlaub deckungsgleich ist, die unabdingbaren gesetzlichen Vorschriften. Etwaige tarifvertragliche Regelungen seien nur auf die überschießenden Tage anwendbar.

366 II des Bürgerlichen Gesetzbuches lautet: „Trifft der Schuldner keine Bestimmung, so wird zunächst die fällige Schuld, unter mehreren fälligen Schulden diejenige, welche dem Gläubiger geringere Sicherheit bietet, unter mehreren gleich sicheren die dem Schuldner lästigere, unter mehreren gleich lästigen die ältere Schuld und bei gleichem Alter jede Schuld verhältnismäßig getilgt.“

Nach der Tilgungsreihenfolge des genannten Paragrafens müsste somit zuerst der Anspruch aus dem Tarifvertrag und danach erst der unabdingbare gesetzliche Anspruch getilgt werden, da der Anspruch, der die geringere Sicherheit bietet, zuerst getilgt wird. Bei der Erfüllung der Urlaubsansprüche sei die Tilgungsreihenfolge aber unter Berücksichtigung der Besonderheiten des gesetzlichen Mindestlohns und zur Vermeidung systemwidriger Ergebnisse zu modifizieren. Die Tilgungsreihenfolge des § 366 II entspreche dem vermuteten Willen vernünftiger und redlicher Vertragsparteien. Widerspricht jedoch ausnahmsweise die gesetzlich normierte Reihenfolge offensichtlich dem hypothetischen Parteiwillen, sei allein dieser maßgebend. Gleiches gelte, wenn die Reihenfolge wegen der besonderen Eigenarten des Schuldverhältnisses von vornherein zu sinnwidrigen Ergebnissen führt. Der gesetzliche Mindesturlaub und auch der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen stellten das unabdingbare Erholungsbedürfnis des Arbeitnehmenden dar. Folglich sei es systemwidrig, wenn zahlenmäßig der Mindesturlaub gewährt und das Erholungsbedürfnis erfüllt wurde, rechtlich jedoch noch nicht.

Folglich wurden der gesetzliche Urlaubsanspruch und der Zusatzurlaubsanspruch, insgesamt 25 Tage, durch die Gewährung von 26 Tagen Erholungsurlaub erfüllt. Die restlichen Urlaubstage unterliegen den Regelungen des Tarifvertrags, da sie übergesetzlicher Urlaub sind. Laut diesem verfällt der Urlaubsanspruch spätestens am 30. Juni des Folgejahres. Vorliegend ist dieser Fall gegeben.

Praxishinweis

Dieses Urteil schützt den Arbeitgeber vor Nachteilen, die ihm durch das Gewähren von übergesetzlichen Mehrurlaub entstehen können. Dies ist insbesondere angezeigt, da der gesetzliche Mindesturlaub unabdingbar ist. Sollte der Arbeitgeber trotzdem zuerst den übergesetzlichen Urlaub tilgen wollen, kann er dies laut § 366 durch eine einfache Erklärung machen. Die Regelung, die das Gericht getroffen hat, ist nur anwendbar, wenn der Schuldner sein Bestimmungsrecht nicht ausnutzt.

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Dr. Dietmar Olsen Foto: Michael Westermann

Dietmar Olsen

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht
Dr. Huber Dr. Olsen Kanzlei für Arbeitsrecht
Dr. Dietmar Olsen ist Fachanwalt für Arbeitsrecht in der Kanzlei Dr. Huber Dr. Olsen in München.

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