Inklusion schreiben sich heute viele Unternehmen auf die Fahne – die ganz im Sinne der Vielfalt bunt vom Dach der Firmensitze weht. Sprechen wir von Diversity, ist auch Behinderung gemeint. Der Wunsch nach Inklusion ist sichtbar, aber wie sieht die Realität aus?
In Deutschland haben 9,5 Prozent der Menschen eine Schwerbehinderung, also 7,9 Millionen oder jede:r Zehnte. „Die Erwerbsquote bei Menschen mit Behinderung zwischen 15 und 64 Jahren liegt bei knapp 57 Prozent, bei nichtbehinderten Menschen dieser Altersgruppe bei 82 Prozent“, so Silke Georgi, Projektleiterin des Projekts Job Inklusive des Vereins Sozialhelden e.V. „Warum ist das so? In vielen Unternehmen höre ich: Wir wollen ja, aber wir kommen nicht voran. Meiner Erfahrung nach gibt es zu viele Berührungsängste – häufig auch unbewusste. Diese lassen sich nur abbauen, wenn Menschen mit und ohne Behinderung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens miteinander in Berührung kommen – auch im Arbeitsleben. “
Mehr Berührungspunkte – weniger Barrieren
Rund die Hälfte aller Deutschen (47 Prozent) hat im Berufsleben jedoch noch nie mit einem Menschen mit Behinderung zusammengearbeitet, ergab eine repräsentative Umfrage des Karriereportals Monster in Zusammenarbeit mit Raul Krauthausen, Aktivist und Mitgründer von Sozialhelden, und Yougov im Juni 2021. Hinzu kommt, dass hierzulande derzeit nur rund ein Viertel (26 Prozent) der Arbeitsplätze vollständig und 22 Prozent nur teilweise barrierefrei sind. Keine guten Voraussetzungen, um Inklusion zu fördern. Damit es voran geht, müssen auch die gängigsten Vorurteile aus dem Weg geräumt werden:
Vorurteil 1: „Wir können keine Menschen mit Behinderung beschäftigen, wir haben zu viele Treppen.“
Denken wir an Menschen mit Behinderung, haben wir schnell das Bild eines Rollstuhls vor Augen. Dabei gibt es viel mehr Behinderungsarten, von Autismus über Seh- oder Hörbehinderung bis zu psychischen Erkrankungen oder Krebs. Silke Georgi formuliert es so: „Behinderungen sind vielfältig, Arbeitsplätze auch. Ist das Büro im vierten Stock und ohne Fahrstuhl, wird es für eine Person mit Gehbehinderung kompliziert – aber warum sollte ein Mensch mit verminderter Hörfähigkeit schlecht hinaufkommen?“
Vorurteil 2: „Menschen mit Behinderung sind nicht kündbar“
Silke Georgi weiß: „Schwerbehinderte sind besonders geschützt. Arbeitgeber:innen müssen sich an das zuständige Integrationsamt wenden, wenn einem oder einer schwerbehinderten Arbeitnehmer:in gekündigt werden soll. Bei betriebsbedingten Kündigungen oder Entlassungen aufgrund von Fehlverhalten, unterscheidet das Arbeitsrecht jedoch nicht zwischen Menschen mit oder ohne Behinderung.“
Vorurteil 3: „Menschen mit Behinderung brauchen so viel Unterstützung, das können wir uns nicht leisten.“
Eine Behinderung bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Arbeitsplatz komplett verändert oder Kolleg:innen viel mehr unterstützen müssen. Sind spezielle Maßnahmen nötig, gibt es zahlreiche Möglichkeiten der Bezuschussung, weiß Silke Georgi: „Zum Beispiel das Budget für Arbeit für Personen, die einen Anspruch auf Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung haben. Bei einem Job auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt können sie mit einem Lohnkostenzuschuss bis zu 75 Prozent und einer Arbeitsassistenz unterstützt werden. Finanzielle Hilfe bietet auch die Agentur für Arbeit – bei Aus- und Weiterbildung, der Kosten für Hilfsmittel, sowie der Umgestaltung des Arbeitsplatzes.“ Eine weitere Möglichkeit: Job Coaching und Arbeitsassistenz helfen bei der Einarbeitung und im Tagesgeschäft.
Alles auf bunt – darum lohnt sich Inklusion für Unternehmen
Steven Hawking, Frida Kahlo, Stevie Wonder, Franklin Roosevelt, Heather Mills – die Liste der Beispiele für erfolgreiche Menschen mit Behinderung ist lang. „Leistung im Job hat nichts mit Behinderung zu tun“, so Silke Georgi. Und auch wenn das Unternehmen gerade kein Physik-Ass sucht, muss man kein Genie sein, um weitere Vorteile der gelebten Inklusion für das Unternehmen zu sehen. „Menschen mit Behinderung leben in derselben Welt, wie Menschen ohne Behinderung. Sie erleben sie jedoch anders. Ihre Perspektive ist wertvoll für Unternehmen, zum Beispiel bei der Gestaltung einer modernen Unternehmenskultur und bei der Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen “, führt Silke Georgi aus.
Ein Beispiel: Das Blindenleitsystem am Bahnhof Wiesbaden. Hier wurden für Sehbehinderte Taststreifen auf den Böden angelegt, damit sie mittels Taststock den Weg finden. Allerdings endeten diese teilweise vor Hindernissen, wie Hinweistafeln – die Personen mit eingeschränkter Sehkraft natürlich nicht sehen und sich verletzen können. Vermutlich waren bei der Planung keine Menschen mit Behinderung involviert, die das System von Anfang an passend für alle mitgestaltet hätten. „Viele Produktinnovationen, wie das E-Book oder Videotelefonie wurden entwickelt, um möglichst allen Menschen Zugang oder Verwendung ermöglichen zu können,“ so Silke Georgi. „Je vielfältiger also die Mitarbeitenden, desto mehr Wissen hat das gesamte Unternehmen – und desto besser werden Produkte und Dienstleistungen.“
Inklusion von Anfang an: Stellenausschreibungen richtig schreiben
Unternehmen, die attraktiv für Menschen mit Behinderung sind – oder sein wollen – sollten auch einen Blick auf ihre Stellenausschreibungen und Bewerbungsprozesse werfen. Sind Stellenanzeigen barrierefrei und so einladend formuliert, dass Kandidat:innen mit Behinderung sich willkommen fühlen? Gibt es vielleicht schon spezielle Ansprechpartner:innen im Unternehmen? „Gehen Sie über Floskeln hinaus ins Praktische”, rät Silke Georgi. „Was tun Sie, um Inklusion zu unterstützen? Sind Sie bereit, Lösungen zusammen mit Menschen mit Behinderung zu finden und was tut Ihr Unternehmen, um Menschen aus marginalisierten Gruppen zu fördern?“ Inklusion ist ein Gemeinschaftsprojekt – je deutlicher Unternehmen praktischen Umsetzungswillen zeigen, desto schneller gehören alle ganz natürlich dazu. Und profitieren gemeinsam von Unterschieden.