Burn-on: Wenn die Erschöpfung chronisch wird

Psychologie

Herr Schiele, was unterscheidet den Burn-on vom Burn-out?
Timo Schiele: Burn-out kann als eine akute Erschöpfungsdepression verstanden werden. Die Betroffenen haben den Eindruck, dass nichts mehr geht; häufig erleiden sie eine Art Zusammenbruch. Bei Burn-on hingegen sprechen wir mehr von einer chronischen Form der Erschöpfungsdepression: Die Menschen funktionieren nach außen, fühlen sich jedoch innerlich leer – und das seit Jahren. Eine weitere Unterscheidung ist, dass Menschen im Burn-out ihrem Job, zumindest per Definition, sehr zynisch gegenüberstehen. Sie entwickeln eine Abneigung gegenüber ihrer Arbeit, betrachten sie als sinnlos. Menschen mit Burn-on indes sehen ihren Job nicht negativ. Häufig denken sie, dass es ihnen doch gut gehen müsste – eben weil sie einen guten Job haben. Aber sie fühlen das nicht mehr.

Wie unterscheidet sich dieser Zustand vom klassischen Workaholic?
Auch hier gibt es Überschneidungen. Sowohl Workaholics, also Menschen, die unter Arbeitssucht leiden, als auch Betroffene eines Burn-ons werden von Arbeit und Leistung beherrscht. Während aber Betroffene des Burn-ons Freizeitaktivitäten, denen sie sonst aus einem freudvollen Erleben heraus zum Ausgleich ihrer Arbeit nachgegangen sind, mit der gleichen Leistungsmotivation und der gleichen Strukturiertheit wie ihre Arbeit angehen, streicht ein Workaholic solche ausgleichenden Tätigkeiten schnell komplett aus seinem Leben.

Timo Schiele und Dießen Bert te Wildt: Burn On: Immer kurz vorm Burn Out. Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft von
© Droemer Verlag

2021 erschien das Sachbuch Burn On: Immer kurz vorm Burn Out. Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft von Timo Schiele und dem Chef­arzt der Psychosomatischen Klinik im Kloster Dießen Bert te Wildt.

Welche Menschen sind am anfälligsten für einen Burn-on?
Häufig handelt es sich um Menschen mit einer hohen Leistungsbereitschaft beziehungsweise einem starken Leistungsstreben. Sie haben oft von früher Kindheit an gelernt, dass es ein hohes Gut ist, immer zur Verfügung zu stehen, Verantwortung zu übernehmen und selten Nein zu sagen. Es sind also Menschen, die immer parat stehen und bereit sind – salopp ausgedrückt –, sich mit dem Kopf unterm Arm zur Arbeit zu schleppen. Aufgrund ihres Leistungsanspruches und ihres Perfektionismus neigen sie dazu, sich sehr stark unter Druck zu setzen. Deshalb finden wir solche Menschen auch häufig in Jobs mit viel Zeit- und Leistungsdruck. Das heißt, individuelle Faktoren und äußere Faktoren wirken letztlich zusammen.

Speziell Leistungsträgerinnen und High Performer sind also prädestiniert für einen Burn-on?
Ja, aber den Begriff „Leistungsträger“ kann man aus meiner Sicht weiter fassen, als ihn bloß auf den Arbeitsbereich zu beziehen. Er schließt zum Beispiel auch Menschen ein, die Angehörige pflegen. Oder Eltern kleiner Kinder, die allesamt sehr viel leisten – sie können sich ihrer Betreuungsaufgaben nicht einfach entziehen.

Welche Personen im Arbeitskontext sind besonders gefährdet?
Generell sind Menschen, die aufgrund ihrer Position oder auch wegen ihrer Arbeitsplatzgestaltung viel Selbstverantwortung und Entscheidungsfreiheit haben, eher gefährdet. Das Gleiche gilt für Menschen, die mobil arbeiten. Viele können ihren Job heutzutage überall mit hinnehmen. Die Gefahr dabei ist, dass sie sich nie richtig von der Arbeit lösen, keine richtigen Auszeiten mehr nehmen. Es ist daher hilfreich, wenn wir uns durch einen Ortswechsel von der Arbeit distanzieren können.

Warnsignale für ein Burn-on-Syndrom:

  • Körperliche Verspannungen wie Rücken- oder Nackenschmerzen
  • Kopfschmerzen
  • Bluthochdruck und Gefäßerkrankungen
  • Schlafstörungen
  • Fehlende Lebensfreude und Begeisterung; Dinge, mit denen man früher glücklich und zufrieden war, lösen keine Empfindungen mehr aus, über Erreichtes kann man sich nicht mehr freuen.
  • Fehlende Zufriedenheit
  • Betroffene fühlen sich häufig von ihren persönlichen Werten und Zielen entfremdet.
  • Auch Freizeitaktivitäten werden der Leistung untergeordnet, zum Beispiel stehen beim Wandern nur noch Strecke und Höhenmeter im Vordergrund statt die Natur zu genießen.
  • Verzweiflung und ein Gefühl der Sinnlosigkeit

In der Pandemie war das für viele Menschen nicht möglich, das Arbeiten im Homeoffice hat seitdem stark zugenommen. Stecken deswegen immer mehr Berufstätige im Burn-on?
Die Coronapandemie samt der enormen Zunahme des mobilen Arbeitens hat sicherlich dafür gesorgt, einige Menschen in einen Burn-on zu führen. Wissenschaftlich untermauert ist dies jedoch nicht. Auch insgesamt gibt es keine Erhebungen zum Phänomen Burn-on. Durch die Rückmeldungen zu unserem Buch haben wir jedoch den Eindruck, dass sich viele Menschen in dem, was darin beschrieben ist, wiederfinden. Für sie ist es ein Dauerzustand im roten Drehzahlbereich zu leben und zu arbeiten. Es stellt sich die Frage, wie stark das Ausmaß jeweils ist. Wir stehen mit der Diagnostik noch ganz am Anfang, können das also noch nicht endgültig erfassen.

Wie kann man sich vor einem Burn-on schützen?
Enorm wichtig ist, immer wieder für einen Moment innezuhalten und das eigene Leben zu hinterfragen. Also: Wie lebe ich? Und hat meine Lebensweise die Qualität, dass ich, wenn ich so weiterlebe und -arbeite, in fünf oder in zehn Jahren einigermaßen zufrieden darauf zurückschauen kann? Wichtige Fragen zur Reflexion sind zudem: Was ist mir im Leben wichtig, und wie viel Raum nehmen diese Dinge ein? Wenn ich feststelle, es ist weniger, als ich es mir langfristig wünsche, dann ist es Zeit zu prüfen, ob ich etwas verändern kann. Und wenn ich merke, dass ich mir eine Irgendwann, wenn ich …-Mentalität angeeignet habe, wird es gefährlich. Weil ich das gute Leben, das mir eigentlich wichtig ist, immer wieder aufschiebe.

Was kann man tun, wenn schon Anzeichen für einen Burn-on da sind?
Es ist wichtig zu verstehen, warum die eigene Lebensführung etwas damit zu tun hat, dass man in diese Gefühlsleere hineingeraten ist. Das ist mitunter ein schmerzhafter Prozess. Wir neigen dazu, nach Gründen zu suchen: Im Job ist so viel los und so weiter. Das tun wir, weil es etwas Selbststabilisierendes hat, und es ist im Grunde auch nicht falsch. Aber viel wesentlicher ist es zu schauen, wo wir uns zusätzlich noch selbst unter Druck setzen. Und wo wir trotz des Gefühls, dass alles von außen auf uns einprasselt, innere Handlungsspielräume haben: An welcher Stelle wird etwas beispielsweise per Arbeitsvertrag von mir erwartet, und inwiefern füge ich diesen äußeren Erwartungen noch eigene hinzu? Im Kontakt mit unseren Patienten und Patientinnen fällt auf, dass etwa der Anspruch, perfekte Arbeit abzuliefern, kaum oder gar nicht von Arbeitgeberseite kommt. Hier beginnen die Spielräume: zu schauen, wo man es sich an manchen Stellen selbst etwas leichter machen darf.

Was muss sich gesellschaftlich ändern, damit Burn-on nicht weiter um sich greift?
Dass übermäßiger chronischer Stress körperlich krank machen kann, ist inzwischen hinlänglich bekannt. Dennoch werden Menschen, die sich dem Stresswahn nicht hingeben wollen, häufig stigmatisiert. Das erkennt man unter anderem daran, dass es immer noch als Makel gesehen wird, wenn jemand sich abgrenzt, weil bestimmte Aufgaben ihm oder ihr zu viel werden. Auch reagieren Menschen in der Regel irritiert, wenn jemand nicht aufsteigen beziehungsweise keine Karriere machen will, obwohl es sein oder ihr Potenzial erlaubt. Es gilt meiner Ansicht nach, sich stärker mit dieser Stigmatisierung auseinanderzusetzen. Denn Menschen, die mit solchen Mustern brechen, sollten doch eigentlich unterstützt werden, sie sollten Verstärkung erfahren.

Welche Impulse möchten Sie Personalverantwortlichen geben, um die Gefahr von Burn-on einzudämmen?
Ein Ziel für Personalverantwortliche sollte sein, Mitarbeitenden, die eine größere zeitliche Flexibilität benötigen, Druck zu nehmen. Hier lohnt es sich, über eine Form von Kern­arbeitszeit nachzudenken, die aber doch flexibel gestaltbar ist. Ferner ist die aktuelle Tendenz, viel von zu Hause zu arbeiten, mit einem kritischen Blick zu begleiten. Die Flexibilisierung der Arbeitswelt, so wichtig sie für manche Menschen und für manche Lebensphasen ist, kann für manche Beschäftigte gefährlich sein. Es braucht daher Ansätze, Menschen davor zu schützen, sich nicht zu überarbeiten, indem zum Beispiel Mitarbeitenden nach Feierabend keine E-Mails mehr auf ihre Diensthandys zugestellt werden. Solche Maßnahmen sind meiner Meinung nach wichtig – insbesondere, weil sie Signale setzen.

Ich fände es zudem sinnvoll und hilfreich, Menschen, die mobil arbeiten, mehr Möglichkeiten für analoge Treffen zu bieten, bei denen es auch um das Zwischenmenschliche geht. Das tut den Mitarbeitenden gut und hat zudem positive Auswirkungen auf ihre Arbeit. Schließlich sichert die Arbeit nicht nur die materielle Existenz, sondern auch die Teilhabe am sozialen Leben.

Timo Schiele ist leitender Psychologe einer psychosomatischen Klinik im Kloster Dießen am Ammersee sowie Dozent im Bereich kognitive Verhaltens­therapie.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Grenzen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Petra Walther ist freie Journalistin in Bonn.

Petra Walther

Petra Walther ist freie Journalistin in Bonn.

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