Fachkräftemangel: Einige Hebel und viele Haken

Personalmangel

Personal gesucht! Ein Zettel mit zwei Wörtern, wie er derzeit an vielen Fenstern und Türen von Restaurants und Cafés klebt, ist zum Symbol des allgemeinen Fachkräftemangels geworden. Der IAB-Stellenerhebung zufolge – es handelt sich um eine regelmäßige Betriebsbefragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) – gab es im ersten Quartal 2023 bundesweit 1,75 Millionen offene Stellen. „Bis 2035, wenn die Babyboomer in Rente sind, geht die Zahl der Arbeitskräfte um sieben Millionen zurück, würden wir das nicht irgendwie ausgleichen können“, sagt Enzo Weber, der beim IAB den Forschungsbereich „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ leitet.

Mismatch-Problem

Eine drastische Situation. Doch wie kann das sein? Gibt es doch trotz Arbeitskräftemangel gleichzeitig ein Überangebot an Arbeitskräften: Auf 100 von den Betrieben ausgeschriebenen offene Stellen kommen laut des IAB rund 150 arbeitslos gemeldete Personen. „Wir haben unter anderem ein Mismatch-Problem“, erklärt Anika Jansen, Economist im Projekt Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA). „Ein großer Teil der Arbeitslosen passt aufgrund ihrer Qualifikation nicht auf die offenen Stellen. Etwas über die Hälfte der 2,4 Millionen Arbeitslosen sind beispielsweise nur für ein Helferniveau qualifiziert.“ Für diese Menschen ist die Vermittlung in den meisten Berufen schwierig; nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit stehen neun arbeitslose Helfer nur einer gemeldeten offenen Helferstelle gegenüber. Und dies, obwohl fast ein Drittel der Betriebe Vakanzen für Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung nicht besetzen kann, wie der DIHK-Fachkräftereport 2022 zeigt. Ein weiterer, regional bedingter Mismatch scheint hier durchzuschlagen: Laut Jansen wohnen viele Menschen, die Arbeit suchen, nicht dort, wo es offene Stellen gibt.

Zuwanderung ist ein starker Hebel

Um Arbeits- und vor allem auch Fachkräfte gewinnen zu können, gibt es verschiedene Hebel. Der in der Öffentlichkeit am meisten diskutierte ist die Zuwanderung. Laut IAB-Experte Weber müssten in den nächsten 13 Jahren 18 Millionen Migranten und Migrantinnen nach Deutschland kommen, will man das Arbeitskräftepotenzial konstant halten. Erwerbsmigration aus Drittländern werde dabei immer wichtiger, da voraussichtlich zunehmend weniger Arbeitskräfte aus EU-Ländern wie Polen und Rumänien zuwandern werden. „Die Lebensbedingungen in diesen Ländern verbessern sich. Gleichzeitig ist die demografische Lage dort teilweise noch ungünstiger als in Deutschland.“

Langandauernde Verfahren

Das Recruiting Arbeitswilliger aus Drittstaaten wird jedoch stark ausgebremst. Schuld ist die Bürokratie, die im Übrigen bei der Fachkräftesicherung insgesamt als größtes Hemmnis gesehen wird. „Für uns sind Personen aus Drittstaaten eine wichtige und attraktive Zielgruppe, insbesondere in den Bereichen IT und Engineering. Herausfordernd sind jedoch lang andauernde Verfahren durch die Antragsstellung von Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen“, sagt etwa Ulrike Stuehmeyer-Pulfrich, Leiterin Center of Expertise beim Werkstoffhersteller Covestro. In der Regel dauert es mehrere Monate, bis jemand aus einem Drittland ein Visum erhält. Die Bundesregierung verspricht mit ihrem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz Besserung, doch Verbände einzelner Branchen sowie Arbeitsmarktexperten äußerten sich diesbezüglich bereits skeptisch. „Was weiterhin für ein effizientes Management fehlt, ist ein digitales System, welches Botschaften, Ausländerbehörden, Zuwandernde und Unternehmen integriert“, erklärt Weber.

Zu wenig Passung

Nach Erfahrung von Eckhard Giesemann, Geschäftsführer von Kältech Kälte- und Klimatechnik, sind Zuwanderungsprogramme zudem oft nach dem Gießkannenprinzip angelegt. „Es muss stärker auf den Bedarf von uns Unternehmen geachtet werden“, sagt er. Nachdem sein Betrieb an dem Projekt THAMM teilnimmt, weiß er, dass dies durchaus möglich ist: Bei dem von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) durchgeführten Programm werden Auszubildende und Fachkräfte aus Nordafrika in einem mehrstufigen Bewerbungsprozess ausgewählt und anschließend auf eine Beschäftigung in Deutschland vorbereitet. „Die marokkanischen Fachkräfte, die über THAMM zu uns kommen, sprechen Deutsch auf Sprachniveau B1, sind ausreichend qualifiziert und hochmotiviert. Von solchen Initiativen braucht es mehr“, sagt Giesemann. THAMM sticht des Weiteren hervor, weil das Projekt nicht nur kurzfristig Lücken füllen will, sondern auf Langfristigkeit angelegt ist und dabei die Potenziale der ausländischen Mitarbeitenden im Blick hat. „Zahlreiche Migranten verlassen Deutschland nach einer Zeit wieder – vor Corona jeder Zehnte –, weil sie hier unter ihren Möglichkeiten arbeiten und keine ausreichenden Perspektiven haben“, weiß Weber vom IAB.

Ältere Mitarbeitende stellen größtes ­Potenzial

Das für die Arbeitskräftesicherung in Deutschland aktuell größte Potenzial liegt laut Weber nicht in der Zuwanderung, sondern bei den älteren Mitarbeitenden – insbesondere, weil es sich bei diesen um eine wachsende Gruppe handelt. „Hätten die Über-60-Jährigen Erwerbsquoten wie die heute fünf Jahre Jüngeren, wären damit knapp 2,5 Millionen Arbeitskräfte gewonnen“, so seine Rechnung. Seit zehn Jahren stagniert das Alter, in dem Menschen in Rente gehen, jedoch bei rund 64 Jahren trotz des seit 2007 regulären Renteneintrittsalters von 67 Jahren. Dass sich dies grundlegend ändern wird, ist erst mal nicht abzusehen. Zwar zeigen Umfragen der DIHK, dass zunehmend mehr Unternehmen das Thema Silver Ager auf dem Schirm haben. „Rund ein Viertel der Unternehmen mit Stellenbesetzungsproblemen will mit der Ausweitung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer auf Engpässe reagieren“, sagt Stefan Hardege, Referatsleiter Fachkräftesicherung, Arbeitsmarkt, Zuwanderung bei der DIHK. Doch ein Viertel ist zu wenig. Wie der der CEO der Stepstone-Gruppe Sebastian Dettmers in seinem Buch Die große Arbeiterlosigkeit schreibt, setzen zu viele Unternehmen zudem Anreize für eine Frühverrentung und betreiben im Rahmen von Vorruhestandsprogrammen immer noch Personalabbau durch die Hintertür.

Fehlende betriebsübergreifende ­Weiterbildungskonzepte

Statt sie vorzeitig zu entlassen, rät Dettmers, Menschen ab Mitte 50 fit für einen altersgerechteren Beruf zu machen. Denn in vielen Berufen schaffen es die Menschen nicht, bis 67 zu arbeiten, und dank der Digitalisierung gibt es zukünftig immer mehr Berufe, die auch im Alter ausgeübt werden können. Wie Weber vom IAB bemerkt, fehle es bislang aber an entsprechenden betriebsübergreifenden Weiterbildungskonzepten für einzelne Berufsgruppen. Eine Qualifizierungswelle 50plus, wie sie erforderlich sei, finde noch nicht statt.

Trend zur Frühverrentung bei ­Babyboomern

Das aber größte Hemmnis, um ältere Mitarbeitende möglichst lange im Job zu halten, liegt darin, dass diese daran nicht interessiert sind: Eine aktuelle Studie der Bergischen Universität Wuppertal zeigt, dass fast 70 Prozent der Babyboomer spätestens mit 64 Jahren in den Ruhestand gehen wollen. Befragt wurden knapp 9.000 Menschen der geburtenstarken Jahrgänge 1959 bis 1969. Der Trend zur Frühverrentung ist unabhängig davon, wie stark die körperliche Belastung im Job ist. Auch Menschen, die keiner physisch belastenden Tätigkeit nachgegangen sind, wollen früh in Rente – selbst, wenn sie einen erfüllenden Beruf haben und finanzielle Anreize gegeben sind.

Bürokratieabbau nötig

Die Bürokratie steht den Bemühungen der Unternehmen zur Fachkräftesicherung am meisten im Weg. Das zeigt der DIHK-Fachkräftereport von 2022. Der Umfrage unter 22.000 Unternehmen zufolge würde mehr als jeder zweite Betrieb der Abbau von Bürokratiebelastungen, beispielsweise Berichts-, Dokumentations- und Meldepflichten, bei der Fachkräftesicherung helfen, weil sich das Personal dann intensiver um die eigentlichen betrieblichen Aufgaben kümmern könnte.
Die Forderung der DIHK: bei den Bemühungen der Bundes­regierung zum Bürokratieabbau die Effekte auf den Fachkräftemangel mit in den Fokus rücken. Neue Gesetze könnten zum Beispiel daraufhin geprüft werden, in welchem Umfang sie in der Umsetzung Personalressourcen im Betrieb beanspruchen. Dieser sollte so gering wie möglich sein.

Quelle: DIHK-Report Fachkräfte 2022: Fachkräfteengpässe – weiter steigend, Deutsche Industrie- und Handelskammer.

Vollzeit für Frauen in Teilzeit oft nicht ­möglich

Eine weitere sogenannte stille Reserve für die Arbeitskräftesicherung ist ebenfalls schwierig zu aktivieren – wenngleich der Wille zu arbeiten hier durchaus vorhanden ist: Frauen in Teilzeit. Laut dem Statistischen Bundesamt übt jede zweite erwerbstätige Frau einen Teilzeitjob aus. Viele von ihnen würden gerne ihre Arbeitszeit erweitern, im Wege steht jedoch die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Es fehlt an Kitaplätzen. Wer ein Angebot hat, kann seine Arbeitszeit oft trotzdem nicht ausweiten: „Aus Gesprächen mit unseren Business-Partnern und HR-Kolleginnen und HR-Kollegen wissen wir, dass Betreuungszeiten massiv eingeschränkt werden. Das heißt oftmals, dass Mütter oder Väter nicht wieder zurück auf Vollzeit wechseln, weil es die Betreuungszeiten einfach nicht hergeben“, sagt Stuehmeyer-Pulfrich von Covestro. Man bewege sich im Teufelskreis, denn schuld an dem Dilemma sei insbesondere der massive Fachkräftemangel bei den Erzieherinnen und Erziehern.

Flexible Arbeitsmodelle

„Wir brauchen neue Regelungen zugunsten einer flexiblen Gestaltung der Arbeitszeit und des Arbeitsortes, die zur Realität, den betrieblichen Notwendigkeiten und den Wünschen der Beschäftigten passen, aber keine neuen Aufzeichnungspflichten“, fordert die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände im Zusammenhang mit der nötigen Vereinbarkeit von Familie und Beruf wie auch hinsichtlich der Arbeitskräftesicherung insgesamt in einem einschlägigen Positionspapier. Dazu müsse die Bundesregierung Experimentierräume schaffen, um gemeinsam mit den Sozialpartnern herauszufinden, welche Arbeitszeitmodelle zukünftig denkbar seien. Der Tenor: weg von der täglichen Höchstarbeitszeit, hin zu einer wöchentlichen Arbeitszeit und flexibleren Ruhezeiten. Vor diesem Hintergrund macht die Viertagewoche in den vergangenen Monaten von sich reden. Nach Meinung von Weber wäre allerdings eine X-Tagewoche, bei der die Mitarbeitenden über ihre Arbeitszeit und deren Verteilung auf die Woche frei wählen und dies im Verlauf ihres Arbeitslebens ändern können, eine bessere Lösung.

Berufliche Bildung

Während solche flexiblen Arbeitsmodelle noch als Experimentierfeld gelten, ist für einen Großteil der Unternehmen unbestritten, dass die Stärkung der beruflichen Bildung dazu beiträgt, sich Fachkräfte zu sichern. 46 Prozent der von der DIHK befragten Betriebe sehen dies so. „Insbesondere die Berufsorientierung muss weiter gestärkt werden, da es für die Unternehmen zunehmend schwierig wird, Ausbildungsstellen zu besetzen“, so Hardege. „Jugendliche sollten hinsichtlich der Ausbildungsmöglichkeiten mehr aufgeklärt und gefördert werden. Entsprechendes muss mehr in die Schulen getragen werden“, sagt auch Kältetech-Geschäftsführer Eckhard Giesemann. Seine Versuche, dies zu tun, liefen bislang allerdings ins Leere: „Keine der Schulen, denen ich angeboten habe, in die Klassen zu kommen, um über die Ausbildung im Handwerk zu berichten, hatte Interesse.“ Giesemann vermutet, dass die Schulen aufgrund der eigenen personellen Situation keine Zeit für solche Kooperationen haben. Ein Dilemma, das bei der Begegnung des Arbeitskräftemangels immer wieder auftritt: Zur Arbeitskräftesicherung fehlen die Arbeitskräfte.

Hinweis: Die Online-Version des Beitrages wurde leicht angepasst.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Investition. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Petra Walther ist freie Journalistin in Bonn.

Petra Walther

Petra Walther ist freie Journalistin in Bonn.

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