Auf dem Weg in die Sommerferien hat es viele erwischt. Nein, gemeint ist nicht Corona. Die Rede ist vom Personalmangel: Weil Fach- und Aushilfskräfte fehlen, herrschte auf den deutschen Flughäfen in diesem Sommer reinstes Chaos. Reisende standen stundenlang für die Sicherheitskontrolle an, Berge von nicht transportiertem Gepäck türmten sich in den Hallen, viele Flüge wurden kurzfristig gestrichen. Um die drastische Lage rund um den Luftverkehr in den Griff zu bekommen, erließ die Bundesregierung schließlich eine dreimonatige Ausnahmeregelung für die Arbeitsaufnahme von Arbeitskräften aus Drittländern – und warb Tausende Personen aus der Türkei für Tätigkeiten wie Check-in, Boarding und Gepäcktransport an. Im Laufe des Sommers sprangen manche Flughäfen wieder ab: „Mit Blick auf den befristeten Einsatz dieser Beschäftigten, stehen der Aufwand für umfangreiche Schulungen, Deutschkurse et cetera und Nutzen hier leider in keinem sinnvollen Verhältnis“, hieß es vonseiten des Arbeitgeberverbands der Bodenabfertigungsdienstleister im Luftverkehr.
Bilaterale Abkommen in Zusammenhang mit Arbeitskräftenot gab es in der jüngeren Vergangenheit auch schon in anderen Branchen, etwa in der Pflege. Immer dann, wenn es besonders brenzlig wird, werden auf diese Weise Personallücken kurzfristig gestopft. Doch langfristig ist damit weder den Flughafenbetrieben noch dem Pflegebereich oder anderen Branchen geholfen.
1,7 Millionen offene Stellen im Jahr 2021
Fast zwei Drittel der Unternehmen in Deutschland haben Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen. Dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge summierte sich die Zahl fehlender Arbeitskräfte hierzulande Ende 2021 bereits auf 1,7 Millionen. Laut der Bundesagentur für Arbeit braucht es 400.000 zugewanderte Arbeitskräfte pro Jahr, um den Personalmangel kompensieren zu können. Der Stepstone-Geschäftsführer für den deutschen Markt, Sebastian Dettmers, hält diese Zahl noch für zu gering. „Mitte der 2030er Jahre, wenn die meisten Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, werden wir sogar eine Nettozuwanderung von 700.000 Menschen benötigen“, prognostiziert er in seinem Buch Die große Arbeiterlosigkeit. Warum eine schrumpfende Bevölkerung unseren Wohlstand bedroht und was wir dagegen tun können.
Die Notwendigkeit, Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuheuern, ist vielen Unternehmen durchaus bewusst. „Auslandsrecruiting ist eines unserer Hauptthemen für die nächsten Jahre“, sagt etwa Gerd Zanker, geschäftsführender Gesellschafter bei Elektro Saegmüller mit Sitz in Starnberg. Das Unternehmen stattet Privat- sowie Gewerbeimmobilien mit Kommunikations- und Elektrotechnik aus. Zanker würde für seinen Betrieb gern mehr Personal aus dem Ausland gewinnen, ähnlich geht es vielen anderen aus der Branche. Das Problem: Es mangelt an Aufklärung darüber, welche Strategien sich eignen, etwa um Betriebselektrikerinnen oder Elektromeister für Energie- und Gebäudetechnik aus anderen Ländern anzuwerben. „Anlaufstellen wie Jobbörsen fürs Auslandsrecruiting wären hilfreich“, sagt Zanker.
Jene Handwerker aus dem Ausland, die Zanker jetzt schon einstellt, kommen über Personaldienstleistungsunternehmen oder haben durch Empfehlungen aus bereits rekrutierten Kräften erfahren, dass das Unternehmen Personal sucht. „Ein viel genutzter Rekrutierungskanal für ausländische Fachkräfte ist der Kontakt über Kollegen“, sagt Verena Maisch, Referentin im Projekt Unternehmen Berufsanerkennung des DIHK Service, einer Projektgesellschaft des Deutschen Industrie- und Handelskammertags. Ansonsten gebe es nicht die eine Vorgehensweise, aber verschiedene niedrigschwellige Ansatzpunkte, über die sich Unternehmen herantasten könnten. So bestehe die Möglichkeit, es über Business-Netzwerke zu versuchen, die Auslandshandelskammern zu kontaktieren, sich an das Virtuelle Welcome Center der Bundesagentur für Arbeit zu wenden oder direkt bei der Jobbörse der Arbeitsagentur eine Stellenanzeige zu schalten und dort der Veröffentlichung auf Make it in Germany zuzustimmen.
Dabei handelt es sich um ein von der Bundesregierung initiiertes Portal für Fachkräfte aus dem Ausland, das auch eine Seite für Arbeitgeber bereithält, auf der diese sich über Rekrutierungswege informieren können. Doch Geduld ist angebracht. So wird auf der Seite unter anderem wiederum auf das Virtuelle Welcome Center der Bundesagentur für Arbeit verwiesen. Wer dem Link folgt, wird aufgefordert, eine E-Mail zu schreiben – und liest zugleich, dass es aktuell zu längeren Bearbeitungszeiten kommt.
Lange Wartezeiten wegen fehlender Ressourcen und mangelnder digitaler Strukturen sowie bürokratische Verfahren erschweren das Auslandsrecruiting enorm, erklärt Sarah Pierenkemper. Sie ist Referentin Fachkräftesicherung beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen schrecke dies ab. Ist erst einmal ein Jobinteressent oder eine Kandidatin gefunden, wird es beim Thema „Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten“ komplex. Wie Verena Maisch erläutert, gibt es auch hier keine einheitlich geregelte Vorgehensweise. Viel hänge vom Beruf und der Art der formalen Qualifikation ab, über die jemand verfüge. So müssten etwa Elektrofachkräfte und jene mit einem anderen Beruf, der mit einem dualen Ausbildungsberuf vergleichbar ist, ein Berufsanerkennungsverfahren durchlaufen. Denn: Ohne anerkannten Berufsabschluss gibt es kein Visum! Diese Regelung beruht auf dem seit März 2020 geltenden Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Ausgenommen von der verpflichtenden Berufsanerkennung sind unter anderem Berufskraftfahrerinnen und -fahrer sowie IT-Fachkräfte. Hier sind andere Anforderungen wichtig. So müssen etwa IT-Fachkräfte laut Maisch mindestens drei Jahre einschlägige Berufserfahrung innerhalb der vergangenen sieben Jahre nachweisen und ein Mindestbruttogehalt bei ihrem künftigen Arbeitgeber verdienen.
Im Prinzip ist das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ein Fortschritt. Bis dahin war es nämlich noch sehr viel komplizierter, beruflich Qualifizierte aus Drittstaaten für eine Tätigkeit in Deutschland zu gewinnen. Nach Meinung des Personalvermittlers Christoph Anders jedoch – und er steht an dieser Stelle stellvertretend für viele – sind die Hürden der Berufsanerkennung nach wie vor zu hoch. „Das Problem ist die Orientierung am dualen System, das es so in keinem anderen Land gibt“, sagt der geschäftsführende Gesellschafter von Anders Consulting. Wie solle beispielsweise ein Schweißer aus Serbien, der in seinem Land eine dreimonatige Ausbildung absolviert hat, nachweisen können, dass seine Qualifikation vergleichbar mit einem in Deutschland verlangten Berufsabschluss ist? „Angesichts dieser Problematik sparen viele Unternehmen den gewerblichen Bereich aus ihrem Auslandsrecruiting aus“, sagt Anders.
Berufsanerkennung
Recruiting akademischer Fachkräfte
Wer akademische Fachkräfte aus dem Ausland rekrutieren will, hat es etwas einfacher. „Der Prozess der Anerkennung von Abschlüssen geht bei Akademikern oft deutlich schneller“, sagt IW-Referentin Pierenkemper. Insbesondere das Recruiting von Fachkräften aus EU-Ländern sei mit relativ wenig Regelungen verbunden. Den Daten aus dem Ausländerzentralregister zufolge kommen so auch mehr als die Hälfte der rekrutierten ausländischen Fachkräfte aus EU-Ländern. In Zukunft dürfte es laut Pierenkemper allerdings schwieriger werden, Personal aus der EU zu gewinnen, sind die demografischen Herausforderungen in vielen anderen Mitgliedsländern des Staatenverbunds doch ähnlich wie jene in Deutschland. Sie dürften daher ihrerseits versuchen, Fachkräfte im Land zu behalten.
Akademische Fachkräfte aus Drittstaaten indes dürfen zwar mit Erwerb der Blauen Karte EU ohne Auflagen in Deutschland beschäftigt werden. Das Einwanderungsverfahren sieht die Expertin für Fachkräftesicherung jedoch ähnlich kompliziert wie das der Menschen mit Ausbildungsberufen. „Die Begleitung des Visumprozesses ist alles andere als eine konforme Angelegenheit. Es ist eine sehr individuelle persönliche Betreuung der Einreisenden nötig, und man muss sich jeweils intensiv in die Materie einlesen“, bestätigt Sabrina Briesach, HR-Managerin bei Pentos. Der Cloud-Spezialist für Human-Capital-, Risiko- und Datenmanagement rekrutiert einen Teil seiner Mitarbeitenden seit mehr als 20 Jahren aus dem Ausland – wobei Empfehlungen aus dem beruflichen Netzwerk eine große Rolle spielen. Viele indische Fachkräfte sind darunter, aber zum Beispiel auch Menschen aus der Türkei, Südafrika oder Kanada. „Oftmals müssen Unterlagen nachträglich angefordert werden“, sagt Briesach. Wie etwa jüngst bei einer Mitarbeiterin aus der Türkei: Sie benötigte eine Bestätigung, dass sie keine Deutschkenntnisse für den Job bei Pentos braucht. „Hilfreich ist in solchen Fällen, aber auch generell, das Stellenprofil an den Visumsantrag anzuhängen“, sagt Briesach. Sie rät zudem zu regelmäßigen digitalen Meetings mit den künftigen Mitarbeitenden, um offene Fragen zu klären. „Das steigert nicht zuletzt die Bindung. Schließlich können auch Einreisende von der ganzen Bürokratie abgeschreckt werden“, sagt die HR-Managerin.
Anlaufstellen fürs Auslandsrecruiting
Unterstützung beim Einleben
Apropos Bindung: Unternehmen sollten sich laut Sarah Pierenkemper bereits vor dem Recruiting Gedanken zum Onboarding der Arbeitskräfte aus anderen Ländern machen. Zu überlegen wäre zudem: Was ist zu tun, damit die jeweilige Person in Deutschland gut ankommen kann und sich wohlfühlt? Sind Kapazitäten vorhanden, um bei der Wohnungssuche zu helfen und Behördengänge zu begleiten? Wie können auch die Familienmitglieder beim Einleben unterstützt werden? „Häufig gehen ausländische Fachkräfte zurück in ihre Heimat, weil der Partner beziehungsweise die Partnerin oder die Kinder sich hier nicht wohlfühlen“, sagt Pierenkemper. Den internationalen Fachkräften sollte zudem ein Mentor zur Seite gestellt werden. Um diesen für die Aufgabe einzuarbeiten, sei abermals ein Zeitbudget einzuplanen.
Laut Personalvermittler Christoph Anders ist der Zeitaufwand fürs Pre- und Onboarding von Mitarbeitenden aus dem Ausland nicht zu unterschätzen. Insbesondere große Unternehmen greifen daher auf Relocation Services wie die von Anders Consulting zurück. Das können sich kleinere Unternehmen freilich nicht leisten. Neben dem fehlenden Budget gibt es nach Meinung von Anders für sie allerdings noch eine größere Hürde: die Sprache. „In Deutschland wird viel zu wenig Englisch gesprochen, und ein Großteil der Firmen – von Start-ups und Tech-Firmen einmal abgesehen – geht davon aus, dass ausländische Mitarbeitende hier Deutsch sprechen müssen“, sagt Anders. Um Fachkräfte aus dem Ausland gewinnen und halten zu können, sollte in vielen Fällen also erst einmal die interkulturelle Einstellung überdacht werden.
Korrektur: In einer früheren Version hieß es: „So müssen etwa IT-Fachkräfte laut Maisch mindestens drei Jahre einschlägige Berufserfahrung innerhalb der vergangenen sieben Jahre nachweisen, um ein Mindestbruttogehalt bei ihrem künftigen Arbeitgeber zu verdienen.“ Es hätte heißen müssen: „So müssen etwa IT-Fachkräfte laut Maisch mindestens drei Jahre einschlägige Berufserfahrung innerhalb der vergangenen sieben Jahre nachweisen und ein Mindestbruttogehalt bei ihrem künftigen Arbeitgeber verdienen.“ Wir haben diese Stelle angepasst.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Grenzen. Das Heft können Sie hier bestellen.