In einem Jobcoaching erzählte mir ein Privatkunde kürzlich von einem absurden Recruiting-Erlebnis. Über persönliche Kontakte wurde er für eine Position als EMEA Division Head in ein an ihm interessiertes Unternehmen weiterempfohlen. Als erfolgreicher Sales Professional mit zwanzig Jahren internationaler Berufserfahrung im Wirtschaftsraum EMEA (Europa, Naher Osten und Afrika sowie USA) deckte sich sein Profil punktgenau mit dem, was das Unternehmen händeringend suchte. Die internen Gespräche waren alle erfolgreich verlaufen. Doch dann verging die Zeit, ohne dass er etwas von dem Unternehmen hörte. Mein Kunde erkundigte sich bei der HR-Abteilung telefonisch sowie per E-Mail über den aktuellen Stand. Er informierte das Unternehmen zudem darüber, dass er in der Zwischenzeit drei alternative Job-Angebote erhalten hatte. Sechs Wochen kommunizierte er gegen eine Wand.
Schlussendlich zog er die Reißleine, versandte eine letzte E-Mail, in der er sich für die Zeit und Mühe bedankte und die Personalabteilung darüber informierte, dass er einen anderen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte. Daraufhin kam die prompte Antwort, dass sie doch mit ihm weiter machen wollten und er doch der favorisierte Kandidat sei. An der Stelle fragten wir uns im Jobcoaching amüsiert, wie das Unternehmen mit den zweit- und drittbesten Kandidaten umgegangen sei. Diese und ähnliche Geschichten teilen Fach- und Führungskräfte fast wöchentlich mit mir.
Berichte meiner Kandidatinnen und Kandidaten:
- Der gesamte Bewerbungsprozess ist weder auf Augenhöhe noch wertschätzend, oft nicht einmal respektvoll.
- Bewerbungen, die ins Leere laufen und monatelang oder nie beantwortet werden.
- monatelange Gespräche ohne Entscheidungsfindung
- von bis zu 17 Interview-Runden mit mehr als 20 verschiedenen Personen
- Bewerbungsgesprächen, in denen fundierte Fragen der Kandidatinnen und Kandidaten nicht beantwortet werden
- intern nicht abgestimmte Gesprächsrunden mit gleichbleibenden Fragen ohne Mehrwert für die Kandidaten und Kandidatinnen
- Gesprächsatmosphären in Form eines harschen Verhörs statt einem zugewandten Gespräch auf Augenhöhe
- Stress-Interviews und Fragen á la Was sind Ihre Stärken und Schwächen?
- keine zeitgemäßen Gesprächen und eine Führungskraft, die im 3. Termin immer noch durch den eigenen Lebenslauf geführt werden möchte
- lange Feedback-Zeiten oder fehlendes Feedback
- sehr kurzfristig angesetzte Gesprächstermine mit nur einem oder zwei möglichen Slots ohne Verständnis für andere Verpflichtungen der Bewerberinnen und Bewerber
- Unternehmensvertretern, die einen Bewerber zwei Stunden auf das Gespräch haben warten lassen
- Präsentationsrunden, in denen der Kandidat ein neues Business Modell oder eine Präsentation zeitintensiv vorbereiten soll. In diesem Beispiel nahm dann der Unternehmensvertreter per Telefon an der Präsentation teil, während er mit 240 km/h auf der Autobahn fuhr (berichtete mir dieser stolz)
- Führungskräfte mit 20 Jahren Berufserfahrung sollen ein Assessment Center durchlaufen oder Persönlichkeitstests durchführen. Letzterem würden manche Kandidatinnen manchmal zustimmen – wenn sie dann die Ergebnisse der Unternehmensvertreter offen miteinander besprechen. Die Ergebnisse müssen auch für die Kandidatin passen, nicht nur für das Unternehmen.
- Permanent abstürzende Career Sites, sodass der Bewerbungsprozess vom Klick auf hier bewerben bis zum Absenden auch gern mal länger als 30 Minuten dauert
Die Quintessenz ist oft: Die Kandidatin soll möglichst viel von sich Preis geben, ohne selbst konkrete Informationen vom Unternehmen zu erhalten.
Bewerber und Kandidaten sind übrigens zwei völlig verschiedene Kategorien. Kandidatinnen haben anfänglich oft keine intrinsische Motivation für ein Unternehmen oder eine Position. Sie werden angesprochen oder empfohlen. Sie wissen heute oft noch nicht, dass sie morgen gern im neuen Unternehmen arbeiten möchten. Sie müssen intensiver betreut werden. Bewerberinnen und Bewerber, auf der anderen Seite, wollen oft irgendwo weg, aber nicht zwingend ausschließlich konkret auf die offene Position und in dieses Unternehmen – das ist eine von mehreren Optionen.
Recruiting ist Vertrieb, kein HR
Recruiting ist Sales. Und die Unternehmen, die das verstanden haben, monieren nicht mehr, dass sie schlechte oder keine Bewerbungen bekommen. Sie haben verstanden, dass gute neue Mitarbeitende in den meisten Fällen nicht über Bewerbungsportale und Karriereseiten kommen, sondern über das eigene Netzwerk und die aktive sowie attraktive Ansprache.
Ein Berufskollege sagte es neulich so schön: „Bewerber? Es gibt keine Bewerber mehr. Die sind alle arbeiten gegangen.“ Die besten Kandidatinnen als Fach- und Führungskräfte bewerben sich also in der Regel nicht. Denn entweder sind sie zufrieden mit ihrer aktuellen Position oder sie agieren über ihr Netzwerk und suchen sich selbst etwas Neues.
Seit 20 Jahren spreche ich mit erfahrenen Vertrieblerinnen, Technikern und Führungskräften, die sich noch nie oder höchstens zum Berufseinstieg beworben haben. Warum warten Unternehmen dann immer noch darauf, dass gute Bewerbungen über die Unternehmensseite reinkommen? Und wenn Fach- und Führungskräfte fehlen und wenn wir uns im war for talents befinden – warum behandeln wir dann diejenigen, mit denen wir unternehmensseitig in Kontakt sind, nicht wie unsere besten Vertriebskunden?
Diese Situation hat sich übrigens seit Covid-19 nicht verbessert. Fach- und Führungskräfte sind derzeit in einer enorm starken Position und ich sehe hier nicht, dass sich das in absehbarer Zeit ändert. Dies bezogen auf meine Arbeit sowohl als Headhunter als auch als Jobcoach!
Was die Zielgruppe sucht
Statista hat zu den Erwartungen von Bewerbenden bereits 2019 Ergebnisse veröffentlicht, darunter befanden sich die Anforderungen nach verständlichen und realistischen Positionsbeschreibungen, Kontakt zu echten Ansprechpersonen und Gehaltsangaben. Gehälter allerdings werden seitens der Unternehmen immer noch gern vertraulich behandelt. Wobei diese Unternehmen oft die vertrauliche Information nach der Gehaltserwartung von den Bewerbern erwarten. Dieses Ungleichgewicht kann wohl kaum unbemerkt bleiben.
Noch eine wichtige Anmerkung: Personalgewinnung ist nicht zwingend HR. Und vor allem ist Recruiting inzwischen im internationalen Kontext längst eine anerkannte und mit Seniorität behaftete Business-Partner-Rolle geworden. Hierzulande habe ich oft den Eindruck, Recruiting ist gleichzusetzen mit Jobanzeigen posten und Lebensläufe lesen. Das kann ein Teil von Recruiting sein, aber es bedarf beispielsweise auch die anschließende Interpretation und Analyse der Lebensläufe. Wir arbeiten hier in einer riesigen Spreizung bei der Qualität – übrigens wie in jedem anderen Job auch: sowohl intern in den Unternehmen als auch extern bei Personalberatern!
Wie sieht ein guter Recruiting-Prozess aus?
- Eine klare und realistische Jobbeschreibung: Was ist zu tun? Was ist das Ziel?
- Realistische Anforderungen: was sind must have– und was sind nice to have-Kriterien
- realistische Markteinschätzung des Unternehmens, wo liegen die eigenen Vorteile, wo die vergleichbarer Firmen.
- Ab Beginn eine vertrauens- und respektvolle Kommunikation sowie klar formulierte Prozess-Schritte – egal ob als Personalberater oder Unternehmensvertreter
- Strukturierte Recruiting- und Hiring-Prozesse. Drei bis vier Gespräche sollten für eine Entscheidungsfindung genügen
- Strukturierte Interviews. Dabei sind die Interview-Führenden befähigt, Bewerbungsgespräche zu führen und eine Entscheidung zu fällen. Das braucht Ausbildung und Übung.
Fazit
Wenn es um langfristige und stabile Beziehungen geht, ist es im Recruiting wie im normalen Zusammenleben – es geht um Augenhöhe, Empathie und Neugier. Es hilft, wenn wir uns in die Situation unseres Gegenübers versetzen und nicht nur unsere Bedürfnisse betrachten. Wenn ich Neugier und Einsatz vom anderen erwarte, sollte ich diese Eigenschaften ebenfalls entgegenbringen.
Ich würde mir wünschen, dass wir im Recruiting zu guten Gesprächen und einer offenen Kommunikation gelangen. Dann braucht es fürs Recruiting weder Assessment Center noch Persönlichkeitstests. Wir sollten den ersten Schritt gehen und wirklich konsequent denken. Wer erwachsene Menschen im Unternehmen haben möchte, sollte diese von Anfang an wie erwachsene Menschen behandeln – und dann auch im Onboarding und in der täglichen Arbeit. Sonst war nämlich das vorherige Recruiting für die Katz und wir fangen wieder von vorn an.