Frau Ölcüm, wann ist ein Ideal für Sie radikal?
Alle drei Themen, die wir gewählt haben – Schwangerschaftsabbruch, Schulpflichtverweigerung und Psychedelika – unterliegen in Deutschland sehr restriktiven Gesetzen. Hierzulande kann man sich nicht einfach entschließen, ein Kind nicht zur Schule zu schicken, Abtreibungen sind mit vielen Auflagen reglementiert und ein Betäubungsmittelgesetz verbietet es, sich zu berauschen. Wir haben Menschen gesucht, die sich dafür einsetzen, das zu ändern. Diejenigen, die ich interviewt habe, kämpfen dafür, dass man ihre Perspektive versteht sowie bestehende Gesetze lockert, reformiert und realistischer gestaltet. Dabei war mir wichtig, keine Freakshow zu machen, sondern die Ambivalenzen aufzuzeigen, die in einer Gesellschaft existieren. Schlussendlich waren es ganz normale Menschen, die sich einfach stark mit einer Sache befasst haben.
Wo sehen Sie die Grenze zwischen ideellen und radikalen Vorstellungen?
Ein Ideal ist ein vollkommener Zustand. Das Radikale – so haben wir es für uns interpretiert – ist die Umsetzung, also wie weit ein Mensch geht, um diesen Zustand zu erreichen. Manche der Personen, die wir getroffen haben, könnten für ihre Aktionen ins Gefängnis kommen oder zu hohen Geldstrafen verurteilt werden. Die Bereitschaft, das für ein Ideal in Kauf zu nehmen, finde ich radikal.
Wer waren die radikalsten Personen, denen Sie begegnet sind?
Besonders radikal fand ich die Familien, die untergetaucht sind oder auch juristische Konsequenzen hingenommen haben, damit ihre Kinder nicht zur Schule gehen müssen. Auch ziemlich heftig fand ich eine Organisation, die Pillen zum Schwangerschaftsabbruch illegal per Post verschickt. Ich kann zwar durchaus nachvollziehen, warum es diese Organisation gibt, und habe auch mit einer Frau gesprochen, die keine andere Wahl hatte, als diesen Weg zu gehen. Aber ich frage mich dennoch, wie sicher das so ganz ohne ärztliche Begleitung ist.
Wann geht Radikalität zu weit?
Die Frage habe ich mir in den Reportagen sehr oft gestellt. Zum Beispiel bei der Folge zum Thema Freilernen, also dem Verweigern der Schulpflicht. Ich fragte mich: Kann ein siebenjähriges Kind wirklich für sich selbst entscheiden, ob es zur Schule gehen möchte, wenn es noch gar nicht den dafür notwendigen Erfahrungshorizont hat? Auf der anderen Seite hat mir die Entschlossenheit dieser Eltern auch imponiert. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich viel mit dem Thema beschäftigt haben und sehr reflektiert sind. Die Frage, wann etwas zu weit geht, kann ich wohl nie abschließend beantworten. Ein radikales Ideal passt vielleicht für eine bestimmte Zeit zum Leben, später gegebenenfalls nicht mehr.
Wie gehen Sie damit um, wenn Sie mit einer Person zu tun haben, deren Ideale Sie fragwürdig finden?
Bei diesem SWR-Projekt oder auch bei Reportagen des Y-Kollektivs versuchen wir, Haltung zu zeigen, aber gleichzeitig offen für die Position des Gegenübers zu sein. Wenn uns etwas überfordert oder wir es nicht gut finden, dann sagen wir das. Ich habe zum Beispiel noch nie Drogen genommen. Das habe ich in den Gesprächen für die Reportage über Psychedelika auch angesprochen – und offen gefragt, ob es die Substanzen denn wirklich braucht, man nicht auch auf anderem Wege sich selbst finden kann. Dann haben die Personen mir ihre Sichtweise erklärt und ich konnte sie verstehen, wenngleich ich trotzdem an so manchem zweifle.
Kam es dabei auch schon zu Auseinandersetzungen?
Ich hatte auf der Demo Marsch für das Leben ein Streitgespräch mit einer Abtreibungsgegnerin. Ich habe ihr frei raus gesagt, dass ich nicht verstehe, was ihr Problem mit Abtreibung ist, wenn jemand einfach kein Kind bekommen möchte. In so einer Situation bitte ich die Person dann darum, mir ihre Haltung zu erklären, und sage, dass ich sie wirklich verstehen möchte. Damit bin ich eigentlich noch nie angeeckt. Wenn ich meine persönliche Meinung deutlich mache und ein wirklich ehrliches Bedürfnis zeige, die andere Position zu verstehen, dann fühlen die Leute sich auch nicht angegriffen und erklären mir, warum sie so denken – so auch im Fall der Abtreibungsgegnerin.
Viele Menschen fürchten sich aktuell vor der Radikalisierung gewisser Gruppen. Können Sie den Trend bestätigen?
In den sozialen Medien findet man heute schnell eine Plattform und Gleichgesinnte, aber es ist schwierig einzuschätzen, ob die Gesellschaft dadurch unbedingt radikaler geworden ist. Ich könnte mir vorstellen, dass Leute dadurch viele Themen auch stärker hinterfragen.
In welchen Belangen sind Sie selbst radikal?
Eines meiner Ideale ist, dass ich eine gute Reporterin sein möchte, ich möchte bestimmte Themen und Missstände in die Öffentlichkeit bringen. Wenn mir ein Thema wichtig ist, bin ich bereit, lange dranzubleiben und hartnäckig zu sein. Ich glaube aber, so richtig radikal bin ich nicht: Ich versuche immer, einen Kompromiss zu finden. Radikalität bedeutet viel Konsequenz und kostet demnach viel Energie. Ich bewundere die Menschen, die diese Konsequenz aufbringen.
Zur Gesprächspartnerin:
Gülseren Ölcüm ist Journalistin und Filmemacherin. Sie hat dieses Jahr als Redaktionsleiterin und Presenterin das SWR-Format Radikale Ideale umgesetzt. Seit 2016 arbeitet sie als festes Teammitglied beim Y-Kollektiv und hat für ihre Reportagen mehrere Preise gewonnen, darunter den Juliane-Bartel-Medienpreis und den spanischen Fernsehpreis Premios Ondas. Ölcüm hat Geschichte und Kultur des Vorderen Orients in Berlin und London sowie Medienwissenschaften in Aarhus und Sydney studiert. Danach war sie unter anderem bei Migazin.de und beim Bayerischen Rundfunk tätig.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Ideale. Das Heft können Sie hier bestellen.