Viele Unternehmen arbeiten mit starren, langen Schichten. Dabei sind solche Modelle längst überholt. Die Umstellung auf ein neues Schichtsystem ist aufwändig, lohnt sich aber.
Beim Metalltuben-Hersteller Linhardt im niederbayerischen Viechtach lief eigentlich alles bestens. Die Auftragsbücher waren voll, fast schon zu voll. Das Produktionsvolumen stieg stetig an. „Wir haben immer mehr Zusatzschichten eingeführt, bis wir nicht mehr fünf, sondern durchgehend sechs Tage in der Woche produziert haben“, sagt Stefan Feldmeier, Betriebsleiter bei Linhardt.
Mit dem etablierten Schichtplan, in dem Mitarbeiter wochenweise entweder in der Früh-, Spät- oder Nachtschicht arbeiteten, ließ sich die Auftragsflut aber irgendwann kaum mehr stemmen. „Fast alle Mitarbeiter waren überbelastet“, sagt Feldmeier. Mit Folgen für die Produktion: Die Konzentration der Angestellten sank, der Krankheitsstand stieg an, Mitarbeiter achteten darauf, Überstunden möglichst direkt abzubauen – selbst wenn viele Aufträge anstanden.
Anstrengende Schichtdienste gehören in Deutschland für immer mehr Angestellte zum Alltag. Im Jahr 2011 arbeitete bereits jeder vierte Erwerbstätige auch abends, nachts oder an Wochenenden. Im Jahr 2001 waren es noch 30 Prozent weniger gewesen. Das ergeben aktuelle Zahlen der Bundesregierung. „Die hohen Anforderungen an den Kundenservice oder an die Effizienz in den Produktionen haben dazu geführt, dass in immer mehr Unternehmen in Schichten gearbeitet wird“, sagt Burkhard Scherf, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Dr. Scherf, Schütt & Zander aus München. Scherf und seine Kollegen beraten Firmen unter anderem bei der Arbeitszeitplanung. Er ist überzeugt: Der Schichtdienst muss nicht zum Problem werden. „Moderne Schichtsysteme erlauben es, die Arbeit für Unternehmen gewinnbringend zu organisieren und gleichzeitig auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter abzustimmen“, sagt Scherf.
In vielen Unternehmen wird allerdings immer noch nach traditionellen Schichtmodellen gearbeitet. Mitarbeiter kommen wochenweise für eine Früh-, Spät- oder Nachtschicht in die Firma. Manche machen auch jahrelang dauerhaft Nachtarbeit. „Dabei weiß man seit 20 Jahren, dass solche Schichtsysteme schädlich für die Gesundheit der Beschäftigten sind“, sagt Scherf. Dennoch habe sich in deutschen Unternehmen wenig verändert. Das liegt nicht zwingend an der Geschäftsführung.
Häufig scheitert die Umstellung eines Schichtsystems am Widerstand der Mitarbeiter. „Sie haben sich über Jahre an ihre Schichtpläne gewöhnt und befürchten, ihr Leben umstellen zu müssen.“ Es sei häufig schwer, Mitarbeitern zu verdeutlichen, welche Vorteile ein veränderter Schichtplan bringen würde. Häufig stehen aber auch Führungskräfte einer Umstellung skeptisch gegenüber. „Sie befürchten, dass die Planung komplizierter wird“, sagt Scherf. „Außerdem wollen sie keinen Ärger im Team verursachen.“ Solange das alte System also halbwegs funktioniert, wird weitergemacht.
Einfluss auf die Gesundheit
Halten Unternehmen allerdings an einem überholten Schichtmodell fest, setzen sie die Gesundheit ihrer Mitarbeiter aufs Spiel. Darüber sind sich Wissenschaftler einig, gerade wenn Unternehmen mit Nachtschichten arbeiten. Medizinische Untersuchungen haben ergeben: Wer oft nachts arbeitet, leidet mit höherer Wahrscheinlichkeit unter Schlafstörungen als andere Menschen. Krankheiten im Magen- und Darmtrakt treten häufiger auf, ebenso Herz-Rhythmusprobleme. „Das hängt mit dem fehlenden Lebensrhythmus und der damit häufig verbundenen falschen Ernährung zusammen“, sagt Olaf Struck, Professor für Arbeitswissenschaft an der Universität Bamberg.
Hinzu kommt: Schichtarbeiter beugen sich häufig dem sozialen Druck und halten in ihrer Freizeit nicht die nötigen Ruhephasen ein. Trotz Nachtschicht frühstücken sie zum Beispiel mit ihrer Familie. Oder sie bleiben lange wach, obwohl sie am nächsten Morgen zur Frühschicht müssen. „Die Übermüdung macht sie langfristig krank, führt kurzfristig bereits zu Unkonzentriertheit, zu einem hohen Unfallrisiko und häufigen Krankheitsausfällen“, sagt Struck. „Das wirkt sich deutlich auf die Produktivität von Unternehmen aus.“ Starre Schichtsysteme sind zudem wegen ihrer geringen Flexibilität nicht mehr zeitgemäß. Ändern sich Kundenanforderungen, steigen kurzfristig Bestellungen oder häufen sich Krankheitsausfälle, haben Unternehmen Problem, die Produktion und die Arbeitspläne darauf abzustimmen.
Moderne Schichtsysteme lassen sich besser an Kundenwünsche anpassen. Die Grundlage intelligenter Arbeitszeitmodelle ist eine sogenannte kurze Vorwärtsrotation. Das bedeutet: Mitarbeiter arbeiten zwei bis drei Tage in der Frühschicht, danach ebenso lange in der Spätschicht. Darauf folgen Nachtschichten, bevor der Ablauf nach einigen freien Tagen wieder von vorn beginnt. „Schichtarbeiter sollten zudem in möglichst wenigen aufeinanderfolgenden Nächten arbeiten“, sagt Berater Scherf. „Auch sollten nicht zu viele Tage vergehen, bis Mitarbeiter mehrere Tage hintereinander frei haben.“
Zudem ist bei einer Umstellung die Einplanung von Puffern wichtig: Man kann nur etwa 80 Prozent aller Schichten fix planen. „Mit Zusatzschichten können Sie darauf reagieren, wenn Angestellte krank sind oder sich das Bestellvolumen erhöht“, sagt Scherf. Wichtig dabei: Unternehmen sollten variable Schichten und freie Tage streng voneinander trennen. „Mitarbeiter müssen sicher sein, dass sie tatsächlich frei haben, wenn das in ihrem Arbeitsplan steht“, sagt Scherf. Ebenso heilig ist den meisten Angestellten ein freies Wochenende. Das lässt sich allerdings nicht immer einplanen – gerade im produzierenden Gewerbe.
Abstimmung über drei Modelle
Über Wochenendschichten hat auch Betriebsleiter Stefan Feldmeier vom Tubenhersteller Linhardt lange mit seinen Angestellten diskutiert. Ein Jahr lang plante eine speziell ins Leben gerufene Arbeitsgruppe den neuen Schichtplan. Mit im Boot waren Personal- und Projektleiter, Mitarbeiter und Führungskräfte aus der Produktion und der Instandhaltung, zudem Vertreter des Betriebsrats. Sie informierten sich über verschiedene Schichtmodelle und entwickelten drei verschiedene Systeme, die optimal zur Produktion des Unternehmens passten.
Die Wochenendschichten waren einer der größten Diskussionspunkte. „Unsere Mitarbeiter wollten möglichst zwei Wochenenden hintereinander frei haben“, erzählt Feldmeier. Drei Modelle standen am Ende der Projektphase zur Auswahl. Die betroffenen Schichtarbeiter durften darüber abstimmen. „Diejenigen, die am meisten von der Änderung betroffen sind, sollten entscheiden“, sagt Feldmeier. Die Wahlbeteiligung lag bei fast hundert Prozent. Mehr als zwei Drittel der Mitarbeiter wählte die heutige Lösung: Jeder Angestellte arbeitet im neuen Schichtsystem zwei Früh-, zwei Spät-, und zwei Nachtschichten hintereinander. Seit Januar 2012 beginnt die Arbeitswoche bei Linhardt am Sonntag um 22 Uhr und endet am Samstag um 22 Uhr.
Mitarbeiter des Unternehmens wissen schon lange im Voraus, wann sie arbeiten müssen. Die Personalabteilung und Teamleiter planen die Arbeitszeiten am Ende eines Jahres für die folgenden zwölf Monate. Wenn Mitarbeiter kurzfristige Änderungswünsche haben, tauschen sie untereinander Schichten. „Die Planung ist jetzt viel einfacher, weil das Schichtsystem transparent ist“, sagt Feldmeier.
Die Einführung des neuen Modells war allerdings nicht einfach. „Es hat etwa acht Monate gedauert, bis die Produktion wieder rund gelaufen ist und die Kennzahlen gestimmt haben“, sagt Feldmeier. Die Firma habe das in Kauf genommen. Das neue Arbeitsmodell sorgt nämlich dafür, dass Angestellte weniger Zusatzschichten machen und sie nicht dauerhaft überbelastet sind. Um diese Situation zu lösen, hat Linhardt fast 60 neue Mitarbeiter eingestellt – bereits vor der Umstellung des Systems.
Verbesserte Kommunikation
Ein Thema hatten Feldmeier und sein Projektteam vollkommen unterschätzt: Im klassischen Schichtmodell hatten immer die gleichen Leute zusammengearbeitet. Heute rotieren die Mitarbeiter. „Unsere Teamleiter müssen deshalb Neuigkeiten oder besondere Hinweise für die Produktion anders kommunizieren“, sagt Feldmeier. Mittlerweile zeigen Bildschirme in den Werkshallen, welche Kundenreklamationen oder -änderungen aktuell sind. Die Informationen stehen auch im Intranet und auf neu eingeführten Teamboards. „Dort steht, was in den vergangenen zwei Schichten passiert ist“, sagt Feldmeier. Und jedes Schichtteam schreibt ein Protokoll über seine Schicht. Das Protokoll übergeben sie dem nächsten Team. Das System hat sich mittlerweile eingespielt.
Auch die Mitarbeiter sind zufrieden mit ihren neuen Arbeitsplänen. Überstunden sind jetzt kein Thema mehr. Der Krankheitsstand hat sich normalisiert. „Wir arbeiten zudem 20 Prozent produktiver als vor der Umstellung“, sagt Feldmeier. „Und wir können viel flexibler auf aktuelle Bestellungen reagieren.“
Die Flexibilität spielt auch im neuen Schichtsystem von Manfred Habig eine große Rolle. Er und seine Frau leiten bereits in zweiter Generation drei Edeka-Supermärkte im Main-Kinzig-Kreis. Das frühere Arbeitszeitmodell ähnelte noch dem aus den 1980er Jahren. Dabei hatten sich die Öffnungszeiten in den Supermärkten deutlich verändert. Deshalb wurden die Schichten immer länger – zum Unmut der Mitarbeiter. „Es gab immer wieder Diskussionen über den Schichtplan, vor allem wegen der weniger beliebten Nachmittagsschichten“, erzählt Habig. „Außerdem war die Wunschliste der Mitarbeiter lang. Und wir konnten wegen des starren Systems kaum einen Wunsch erfüllen.“
Eine zusätzliche Mittelschicht
Habig hat im Jahr 2012 mithilfe von Beratern des Rationalisierungs- und Innovationszentrums (RKW) Hessens ein neues Schichtsystem erarbeitet. Die starren Zeitblöcke hat er aufgelöst. Die Schichten dauern jetzt keine zehn, sondern fünf oder maximal sechs Stunden. Anstatt zwei Schichten pro Tag gibt es nun eine zusätzliche Mittelschicht am Mittag. Auf diese Weise lassen sich Mitarbeiter flexibel einsetzen – je nachdem wie viele Kunden in den Supermärkten sind und wann Angestellte am liebsten arbeiten wollen. Das kommt gut an: Eine Mitarbeiterin arbeitet etwa täglich morgens vier Stunden lang, hat dann drei Stunden Pause und kommt abends nochmals für vier Stunden in den Supermarkt. „Das passt ihr gut, weil sie auf diese Weise Zeit hat, um mit ihrem Hund spazieren zu gehen“, sagt Habig. „Andere Angestellte arbeiten nur abends oder am Wochenende, weil sich die Schichten mit der Kinderbetreuung besser vereinbaren lassen.“
Der Supermarktleiter sieht das Schichtsystem als großen Vorteil für sein Unternehmen – gerade mit Blick auf den Fachkräftemangel. „Ich kann mit unseren neuen Arbeitszeiten auf verschiedene Mitarbeiterwünsche eingehen“, sagt Habig. „Die Planung bleibt dennoch einfach und unkompliziert, weil sie für alle transparent ist.“ Nicht nur die bisherigen Mitarbeiter sind von dem neuen Schichtsystem überzeugt. Habig stellt es Bewerbern auch im Vorstellungsgespräch vor. „Wir müssen jetzt nicht nach flexiblen Mitarbeitern suchen, sondern können sie selbst flexibel nach deren Vorstellungen einsetzen“, sagt Habig. Das erleichtere die Suche nach Fachkräften.
Diesen Aspekt sollten Unternehmen nicht unterschätzen. In Zukunft wird es eine noch wichtigere Rolle spielen, wie gut Beschäftigte mit einem Schichtsystem klarkommen. Sind Mitarbeiter unzufrieden mit den Arbeitszeiten oder nicht mehr fit genug, um lange Nachtschichten zu stemmen, werden sie das Unternehmen verlassen oder sich von den unliebsamen Schichten befreien lassen. Das macht die Mitarbeiterplanung komplizierter. Viel bedeutender ist aber: Firmen verlieren wertvolle Fachkräfte, die mit einem gesundheitsverträglicheren Schichtsystem weiter in ihrem Job arbeiten könnten.