Der Einfluss großer Gewerkschaften ist in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Von diesem Trend profitieren Spartengewerkschaften. Das bedroht das Gleichgewicht von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern.
Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 schwindet die Macht der Arbeitnehmer. Das belegt die aktuelle Studie „Impact of the crisis on industrial relations“ des European Industrial Relations Observatory (EIRO). Demnach kam es in den vergangenen sechs Jahren in fast allen Ländern der Europäischen Union zu Lohnkürzungen oder Nullrunden. Lohnsteigerungen gab es nur vereinzelt. In Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal und Rumänien veränderte die Politik auch die Tarifvertragssysteme, damit Unternehmen mehr Spielraum zur Verfügung haben. In Spanien erhielten etwa Lohntarifverträge, die Unternehmen mit ihren Mitarbeitern schließen, Vorrang gegenüber Branchentarifverträgen.
Das Machtverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist also im Wandel. „In den vergangenen 30 Jahren haben Gewerkschaften deutlich an Einfluss verloren – auch in Deutschland“, sagt Hartmut Hirsch-Kreinsen, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Industriesoziologie der Technischen Universität Dortmund. „Ihre Verhandlungsposition ist schwächer geworden.“
Hirsch-Kreinsen sieht auch die wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahre als Ursache für den Machtverlust: „Der wirtschaftliche Druck auf Firmen ist stark gestiegen.“ Der globale Wettbewerb zwinge viele Unternehmen zu mehr Effizienz und zu einem Sparkurs. „Dagegen kommen Gewerkschaften kaum an“, sagt Hirsch-Kreinsen. Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise stiegen die Tarifgehälter in Deutschland durchschnittlich immerhin um 1,8 bis zwei Prozent. Zuvor waren allerdings Steigerungen von 2,7 Prozent jährlich die Regel gewesen. Das hängt auch mit dem Prozess zusammen, wie Tarifverträge entstehen: Laut EIRO-Studie kommt es im Vorfeld immer seltener zu Gesprächen zwischen großen Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern. Verhandlungen finden meist im kleinen Kreis zwischen Geschäftsführung und Betriebsrat statt. Die Parteien einigen sich außerdem auf immer kürzere Laufzeiten. „Gewerkschaften können bei Tarifverhandlungen für ihre Mitglieder immer weniger erreichen“, sagt Hirsch-Kreinsen.
Rückläufige Mitgliederzahlen
Hinzu kommt: Die Mitgliederzahlen der großen Gewerkschaften gehen zurück. Verdi etwa vertrat im Jahr 2001 noch rund drei Millionen Arbeitnehmer. Im vergangenen Jahr waren es nur noch rund zwei Millionen. Diese Entwicklung bestätigt auch Industriesoziologe Hirsch-Kreinsen. „Der durchschnittliche Organisationsgrad liegt in Deutschland bei maximal 20 Prozent“, sagt er. Es wird also nur jeder fünfte Arbeitnehmer von einer Gewerkschaft vertreten. Das wirkt sich auch auf die Verhandlungsmacht aus.
Gleichzeitig treten bei Tarifrunden nicht nur große Gewerkschaften an den Verhandlungstisch. Seit einigen Jahren entstehen immer mehr Spartengewerkschaften. Zum Beispiel die Vereinigung Cockpit, die exklusiv für rund 4.500 Piloten von Lufthansa und Germanwings Tarifverhandlungen führt und im April den Frankfurter Flughafen für drei Tage nahezu lahm legte. Auch Lokführer, Ärzte, Flugbegleiter und Chemie-Führungskräfte lassen sich inzwischen individuell vertreten. „Große Gewerkschaften schaffen es nicht, die Interessen verschiedener Berufe zu vereinen“, sagt Hirsch-Kreinsen. Die Folge: Die Bindung zwischen Arbeitnehmer und Gewerkschaften nimmt ab.
Und damit schwindet die Relevanz von Branchentarifverträgen abermals. „Für die Arbeitnehmervertreter ist das ein Dilemma“, sagt Hirsch-Kreinsen. „Tarifverträge werden zwar differenzierter. Die großen Gewerkschaften büßen aber an Schlagkraft gegenüber den Arbeitgebern ein.“ Dafür werden Splitter- und Berufsgewerkschaften immer mächtiger.
Angst vor Streikwellen
Das spüren nicht nur die Arbeitnehmervereinigungen, sondern auch Unternehmen. Sie fürchten sich vor regelrechten Streikwellen, wenn sie nicht nur mit einer Gewerkschaft Tarifverträge verhandeln, sondern gleich mit mehreren. Die Lufthansa etwa führt mit der Vereinigung Cockpit Gespräche, mit Vertretern von Verdi und der „Unabhängige Flugbegleiter Organisation“. Der frühere Lufthansa-Chef Christoph Franz forderte deshalb die Tarifeinheit. Das hieße: ein Unternehmen, eine Gewerkschaft.
Langfristig könnte das Ungleichgewicht zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern sogar die Tarifautonomie gefährden, warnen Experten. Schließlich setzt das voraus, dass zwischen den Tarifparteien ein Machtgleichgewicht besteht. „Und diese Balance sollte auch gewahrt bleiben“, sagt Hagen Lesch, Leiter der Themenbereiche Strukturwandel, Verteilung, Lohnfindung beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW). „Andernfalls gefährdet die ungleiche Machtverteilung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern das Gleichgewicht in der Gesellschaft.“
Die Machtbalance zwischen beiden Lagern könnte sich künftig weiter verändern. Die Bundesregierung arbeitet an einem Gesetz, das dem Wettbewerb unter den Gewerkschaften ein Ende bereiten könnte. Es soll festlegen, welcher Tarifvertrag in einem Unternehmen gilt, wenn mehrere Gewerkschaften miteinander konkurrieren. Möglicherweise wäre dies das Aus für viele Spartengewerkschaften.