Deutschland kennt sie aus den Tagesthemen: Pinar Atalay moderierte sieben Jahre lang die Nachrichtensendung in der ARD und wechselte kürzlich zu RTL. Lange stand in ihrem türkischen Pass: „Status: Arbeiterkind“. Nun hat die 43-Jährige ein Buch über ihren Aufstieg zur bekanntesten deutschen Fernsehjournalistin geschrieben.
Wenn der Gong der Tagesschau ertönte, war es ruhig in Pinar Atalays Elternhaus. Ihr Vater saß auf der gemusterten Couch und lauschte den Nachrichten. Damals ahnte er nicht, dass seine zweite Tochter einmal zur besten Sendezeit vor der Kamera stehen würde.
Er kam 1972 von Istanbul ins nordrhein-westfälische Lippe. Ein 26-jähriger türkischer Arbeitsmigrant, ein sogenannter Gastarbeiter. Später reiste auch seine Frau nach. Sein Handwerk: Tischler. Das der Mutter: Schneiderin. Sie haben sich ein Leben aufgebaut, geschuftet und wurden dennoch immer wieder gefragt: Wann geht ihr wieder zurück? Wie das Wort „Gast“ impliziert, war der Aufenthalt der Fachkräfte, die für die harten Jobs ins Land geholt wurden, begrenzt angelegt. Doch so einfach ist es nicht. „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“, mahnte der Schriftsteller Max Frisch damals – ein Fingerzeig auf die vielschichtigen Lebensrealitäten, die hinter dem unfreundlichen Wort „Gastarbeiter“ stehen. Welches Land außer Deutschland lässt schon Gäste arbeiten?, fragt sich Pinar Atalay in ihrem Debüt Schwimmen muss man selbst. Die renommierte Journalistin hat das Buch einerseits biografisch angelegt, um die Frage zu beantworten, wie sie es vom Arbeiterkind ins erste deutsche Fernsehen schaffte. Andererseits möchte sie mehr über den Zustand der Chancengerechtigkeit hierzulande herausfinden.
Pinar Atalay erzählt von ihrer Kindheit und wegweisenden Entscheidungen ihrer Eltern. Beispielsweise die, ihr kleines Mädchen in die Obhut einer deutschsprachigen Tagesmutter zu geben. Diese lebte nicht im Sozialbau, sondern in einem Haus mit Garten, sie buk für ihren Schützling Weihnachtskekse und las ihr die Märchen der Brüder Grimm vor. Atalay erhielt Zugang zu einer Welt, die vielen Kindern aus Arbeiterfamilien verwehrt bleibt. Wie wichtig Wegbegleiterinnen und Förderer sind, zeigen die Gespräche, die Atalay für ihr Buch geführt hat und die als Wortlautinterviews zwischen ihre biografischen Erzählungen gefügt sind. Sie hat aber auch mit Personen aus ihrem persönlichen Leben gesprochen wie ihrer Reitlehrerin, ihrem Klassenlehrer und auch ihrem ehemaligen Vorgesetzten, dem Chefredakteur NDR-Fernsehen Zeitgeschehen Andreas Cichowicz. Um den Blick vom Persönlichen auf das Politische zu wenden, traf sie außerdem Menschen aus der Politik. Ihre Lebensentwürfe zeigen, wie sie ihre Wege nach oben bestritten haben: unter ihnen die Grünen-Politikerin Aminata Touré, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern Manuela Schwesig, der CDU-Bundesvorsitzende Armin Laschet und die Juristin und Deutschlands First Lady Elke Büdenbender. Sie sprach auch mit Menschen aus dem Kulturbereich, die gegen Vorurteile kämpfen mussten, wie der Schauspielerin Sibel Kekilli, der Schriftstellerin Deniz Ohde oder dem Filmregisseur Andreas Dresen. Sie alle sprechen recht offen über ihre Biografien und politischen oder gesellschaftlichen Bemühungen für mehr Gerechtigkeit. Die Rahmenerzählung ist jedoch Atalays eigener Bildungs- und Karriereweg. Sie erzählt, wie sie sich mit 19 als Praktikantin beim Radio Lippe bewarb. Sie wurde gefordert und ins kalte Wasser geworfen. Und sie begann zu schwimmen. So wie es ihr künftiger NDR-Chef ihr später geraten hat: „Ich kann dir nur eine Chance bieten und sagen: Spring rein. Und dann muss man in der Tat selber schwimmen und muss gut sein.“ Auch die NDR-Studioleiterin half ihr, indem sie Atalay zur Moderationsweiterbildung schickte. Sie erkannte, dass die junge Frau fürs Fernsehen gemacht war.
Ihre Geschichte soll anderen Mut machen. Am schönsten wäre es, schreibt Atalay im Fazit, würde die Tatsache, dass sie als Arbeiterkind Karriere machte, fraglos hingenommen. So wie wir es auch bei Akademikerkindern selbstverständlich finden, dass sie es geschafft haben – eben durch Talent, Fleiß und Glück. Arbeiterkinder brauchen jedoch mehr als das: Eltern, die es ermöglichen können, dass ihr Kind über sie hinauswächst. Und Hilfe von außen, also vorurteilsfreie Lehrkräfte und Menschen, die in den Schulen und Unternehmen Talente fördern unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Zeugnisnote. Pinar Atalay hat nie studiert. Der NDR-Chefredakteur, Andreas Cichowicz, übrigens auch nicht.
Pinar Atalay: Schwimmen muss man selbst. Wie ich als Arbeiterkind den Weg ins deutsche Fernsehen fand, Penguin Verlag, 20 Euro, 336 Seiten. Erschienen im Mai 2021.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Ideale. Das Heft können Sie hier bestellen.