Recruiting muss heute agil sein, um den Herausforderungen durch Volatilität und Ambiguität begegnen zu können. Für Großunternehmen ist das besonders schwer – aber nicht unmöglich. Ihnen stehen einige Stellhebel zur Verfügung, um schnell und flexibel in der Personalbeschaffung zu agieren.
Agilität ist in aller Munde: digitaler Wandel, hierarchieübergreifende Zusammenarbeit, positive Fehlerkultur. Ein wesentlicher Aspekt der Agilität erfährt dabei jedoch recht wenig Beachtung. Nämlich: Wie können HR-Organisationen agil mit Volumenschwankungen umgehen? Denn rasante Wechsel zwischen Vollgas und Bremsen sowie eine immer schwierigere Planbarkeit stellen Organisation, Prozesse und Instrumente in vielen Personalabteilungen auf die Probe. Besonders für Recruiting-Abteilungen sind Mehrdeutigkeit und Schwankungen des Geschäfts eine immer größere Herausforderung.
Recruiting-Teams müssen in der Lage sein auf diese Volatilität des Recruiting-Volumens sehr schnell und flexibel reagieren zu können. Ressourcen für Aktivitäten wie zum Beispiel Anzeigenschaltung oder Vorauswahl müssen je nach Bedarf flexibel zur Verfügung gestellt werden. Die Ambiguität als weiterer Komplexitätsfaktor wird da spürbar, wo Recruiting-Situationen nicht eindeutig für das Gesamtunternehmen sind. Auch in einer Sparphase wird in Teilbereichen mit aller Kraft nach Mitarbeitern gesucht. Ebenso werden in intensiven Recruiting-Phasen bestimmte Profile weiterhin nicht intensiv nachgefragt. Das macht es sowohl nach innen als auch nach außen erklärungsbedürftig, ob gerade „Fachkräftemangel“ oder „Bewerberflut“ angesagt ist – oder beides gleichzeitig.
Wir haben kürzlich untersucht, welche Antworten einige Unternehmen auf diese Herausforderung bereits gefunden und wie sie ihre Recruiting-Organisation aufgestellt haben, um in der Lage zu sein, flexibel auf Schwankungen und Veränderungen in der Art des Bedarfs zu reagieren. Die Silver Bullet, die alle Probleme direkt und mühelos löst, haben wir nicht gefunden – jedoch einen guten Überblick, welche Werkzeuge zur Verfügung stehen.
Flexibilität versus Spezialisierung
Die Art und Weise, wie Recruiting organisatorisch aufgestellt ist, hat großen Einfluss auf die resultierende Flexibilität und Agilität einer Recruiting-Abteilung. Ohne dass dabei zwangsläufig Flexibilisierungs-Gedanken im Vordergrund stehen, lassen sich im Markt drei typische Modelle oder auch Entwicklungsstufen von Dezentralität versus Zentralität und Spezialisierung erkennen: Recruiting als Teilaufgabe des Personalreferenten, Recruiting als Shared Service Center (SSC) und Recruiting als Full-Service-Center.
Bei der auch heute noch vielfach üblichen Aufstellung des Recruitings als Teilaufgabe des Personalreferenten bietet sich unter dem Aspekt der Flexibilität und Reaktionsfähigkeit auf Marktschwankungen der klare Vorteil, dass der Personalreferent durch seinen Generalistenstatus deutlich besser in der Lage ist, Schwankungen abzufedern als alle Varianten mit dedizierten Recruiting-Verantwortlichen. Dennoch haben sich viele Unternehmen mittlerweile gegen diesen Ansatz entschieden, denn in diesem Modell, bei dem Recruiting nur eine von vielen Teilaufgaben des Personalreferenten darstellt, ist es nur schwer möglich Synergien zu schaffen, Kompetenz zu bündeln und Spezialistenwissen aufzubauen.
Die Organisationsform des Recruitings als Shared Service Center, bei dem die administrativen Anteile des Recruitings wie zum Beispiel Korrespondenz und Datenerfassung vom Generalisten auf ein Service Center verlagert werden, erfreute sich in den letzten Jahren großer Popularität. Allerdings führte die Zunahme von Prozessschnittstellen in vielen Fällen dazu, dass sich die Hoffnung einer Effizienz- und Geschwindigkeitssteigerung nicht einlöste. Auch unter dem Aspekt der Flexibilität erwies sich diese Organisationsform als nachteilig: Dedizierte Recruiting-Ressourcen sind per se anfälliger für Volumenschwankungen als Generalisten.
Daher gehen aktuell viele Unternehmen den Schritt zu einem Full-Service Recruiting-Center, in dem spezialisierte Recruiter End-to-End-verantwortlich für den Recruiting-Prozess sind und ein Spezialwissen einfacher aufgebaut werden kann. Doch gleichzeitig ist gerade diese Organisationsform besonders anfällig für Volumenschwankungen.
Möglichkeiten der Arbeitsorganisation
Innerhalb von spezialisierten Recruiting-Abteilungen gibt es zudem unterschiedliche Varianten der Arbeitsorganisation – mit entsprechenden Konsequenzen für deren Reaktionsfähigkeit in Bezug auf Volumenschwankungen.
Das Herzstück einer Recruiting-Abteilung stellen die Kundenbeziehungen zum Fachbereich dar. Wie diese Kundenbeziehungen gestaltet werden, hat jedoch auch Auswirkungen auf die Flexibilität der Recruiting-Abteilung. Ein Beispiel für eine vollkommen flexible Strukturierung der Aufgaben wäre ein Pool aus Recruitern, der eingehende Anfragen der Fachbereiche unabhängig vom Geschäftsbereich und der Berufsgruppe bearbeitet. Für das andere Extrem der fixen Kundenbeziehungen, wäre eine starre persönliche 1:1-Zuteilung denkbar, bei der ein Recruiter nur einen festen Geschäftsbereich betreut. Beide Extremausprägungen finden in ihrer Reinform kaum Anwendung. Stattdessen kristallisieren sich zwei Organisationsansätze heraus, die in der Praxis angewendet werden.
Die Mehrheit der Unternehmen mit einem Full-Service Recruiting-Center setzt auf dauerhafte Kundenbeziehungen. Ein Recruiter betreut dabei einen Geschäfts- oder Funktionsbereich, bei dem er als Ansprechpartner für alle Besetzungen dient. Vor dem Hintergrund von Volumenschwankungen zwischen den Betreuungsbereichen haben sich viele Recruiting-Abteilungen mit einer bereichsorientierten Arbeitsorganisation dazu entschieden, ihre grundsätzlich auf Dauer angelegten Kundenbeziehungen bei extremen Schwankungen stärker zu flexibilisieren. Dazu unterstützen Recruiter mit niedrigem Arbeitsvolumen die Kollegen aus Bereichen, in denen das Arbeitsvolumen stark zugenommen hat.
Ein zweiter Organisationsansatz setzt von Beginn an auf flexiblere Kundenbeziehungen und strukturiert die Zuordnung der Recruiter zum Fachbereich nach Jobfamilien beziehungsweise Berufsgruppen. So rekrutieren ein oder mehrere Recruiter beispielsweise alle Ingenieure, ein weiteres Recruiter-Team gewinnt Mitarbeiter im IT-Bereich etc. Dadurch verteilt sich das Arbeitsvolumen gleichmäßiger auf die verschiedenen Recruiter und Schwankungen der Geschäftsbereiche werden besser aufgefangen.
Agile Formen des Personaleinsatzes
Einen weiteren Bereich zur Flexibilisierung stellen personalwirtschaftliche Instrumente dar. Dazu zählen unter anderem befristete Recruiter-Verträge und die Unterstützung durch Zeitarbeitnehmer in der Personalgewinnung.
Befristete Verträge stellen einerseits eine effektive Maßnahme zur flexiblen Gestaltung der personellen Ressourcen des Personalbereichs dar. Mit Ablauf der Verträge eröffnet sich dem Unternehmen die Chance, die Zahl der Mitarbeiter an das prognostizierte oder tatsächlich anfallende Arbeitsvolumen anzupassen. Zudem bietet sich bereits im Vorfeld von erwarteten Volumenschwankungen die Möglichkeit zur Anpassung der Arbeitskapazitäten. Andererseits ist die damit verbundene Unsicherheit eine Belastung sowohl für die betroffenen Mitarbeiter wie auch für die Kollegen. Auch der Arbeitgeber zahlt einen Preis in Form von Einarbeitungsaufwand, Know-how-Verlust und weniger guten internen Kundenbeziehungen durch häufigere Wechsel.
Der Einsatz von Zeitarbeitnehmern ermöglicht Recruiting-Abteilungen zum einen kurzfristig externes Personal auf- oder abzubauen, um auf Spitzen im Arbeitsvolumen zu reagieren. Zum anderen können zumindest in begrenztem Maße auch benötigte Qualifikationen und Fähigkeiten „angebaut“ werden. Hinzu kommt, dass der bewusste Einsatz von Zeitarbeitnehmern einen aktiven Flexibilitätspuffer für zukünftige Volumenschwankungen bildet. Aber auch hier gilt wie bei befristeten Verträgen: die Flexibilität hat ihren Preis.
Outsourcing als Agilitätshebel
Das Recruitment Process Outsourcing (RPO) stellt eine Form des Business Process Outsourcings dar, bei dem zwischen verschiedenen Modellen unterschieden werden kann. Beim ganzheitlichen RPO übernimmt der externe Dienstleister die gesamte Personalgewinnung eines Unternehmens. Beim projektbezogenen RPO übernimmt der externe Dienstleister in enger Absprache mit dem Unternehmen den Recruiting-Prozess für einen bestimmten, eng umrissenen Bereich.
Eine weitere Variante des Konzepts stellt das Outtasking dar, bei dem der externe Dienstleister das Unternehmen unterstützt, indem er einzelne oder mehrere Komponenten der Rekrutierungskette übernimmt (zum Beispiel die klassische Personalvermittlung durch Headhunter oder die Durchführung von Assessment Centern durch Drittanbieter).
Die verschiedenen RPO-Varianten als Flexibilitätsinstrumente ermöglichen Recruiting-Abteilungen, ihre Kapazitäten extern zu erweitern. Ganzheitliches RPO verlagert das Risiko für Schwankungen im Recruiting-Volumen durch die langfristige Zusammenarbeit sogar komplett an den externen Dienstleister, der die Anzahl und Qualifikation der Mitarbeiter je nach Bedarf und Anforderungen des Unternehmens anpassen muss. Das Projekt-RPO und das Outtasking hingegen bieten Recruiting-Abteilungen die Möglichkeit relativ kurzfristig Auftragsspitzen abzufangen. Schattenseiten des RPO sind allerdings die damit verbundenen Kosten, weniger Authentizität in der Bewerberansprache und zum Teil die Gefahr, eigene Kompetenzen langfristig zu verlieren.
Talent Relationship Management als Flexibilisierungsinstrument
Der Ansatz des Talent Relationship Management (TRM) wird aktuell viel diskutiert – wobei in aller Regel die effektivere Kandidatenansprache im Vordergrund steht und weniger der Einsatz als Flexibilisierungsinstrument. Doch gerade der Talentfokus des TRM bietet für Recruiting-Organisationen neue Flexibilitätsspielräume bei der Stellenbesetzung, denn Angebot und Nachfrage zwischen Talent und Vakanz werden auf diese Art und Weise voneinander entkoppelt.
Der Aufbau von Talentpools sowie der langfristig und systematisch betriebene Austausch zwischen Unternehmen und Kandidaten ermöglichen bei Bedarf die schnelle Rekrutierung neuer Mitarbeiter, die durch TRM-Maßnahmen weit vor der eigentlichen Vakanz auf Reserve oder im Voraus für das Unternehmen gewonnen werden.
Recruiting-Abteilungen können dadurch das Bewerbervolumen, und somit auch ihr eigenes Arbeitsvolumen, einfacher steuern. Jede aus dem Talentpool besetzte Stelle muss nicht ausgeschrieben werden. Das Recruiting-Team kann seine Arbeitskapazität durch diese interne Maßnahme besser nutzen. Zudem wird der Stellenbesetzungsprozess proaktiv gesteuert, indem Kandidaten für potenziell kritische Vakanzen bereits frühzeitig identifiziert und angesprochen werden. Speziell bei Recruiting-Abteilungen, die von Schwankungsextremen wie Einstellungsstopp und Aufbauwelle betroffen sind, kann die azyklische Nutzung von Talentpools für Flexibilität sorgen. Diesem Flexibilitätsgewinn stehen jedoch hohe Kosten für ein TRM-Programm gegenüber, das seine Wirkung erst langfristig entfalten kann.
Keine Machtlosigkeit
Anders als andere Aspekte von Agilität ist der Umgang mit Volatilität kein „Schönwetter-Thema“, sondern eine Herausforderung, für die es nicht nur gefällige Lösungen gibt – aber Lösungen braucht. Recruiting ist dennoch nicht machtlos den immer schnelleren Schwankungen, der Marktdynamik und Volatilität ausgesetzt. Es gibt eine ganze Bandbreite an Optionen, wie Unternehmen sich für diese Herausforderungen wappnen können. Der geschickte Umgang mit diesem Portfolio an Möglichkeiten und die Anpassung auf die individuellen Bedarfe des Unternehmens und seiner Kultur ist heute die Aufgabe von Recruiting-Verantwortlichen.