Ist Flexibilität und Mitbestimmung auch für Menschen in der Produktions- und Schichtarbeit möglich? Oder bleibt dieses Privileg nur dem White-Collar-Bereich vorbehalten? Ein Gespräch über New Work im Blue-Collar-Bereich und den Menschen in der Industrie 4.0
Frau Pape, Sie wollen mehr Flexibilität in den Blue-Collar-Bereich bringen. Wie kam es dazu?
Katrin Pape: Trotz Digitalisierung leben und denken leider viele Unternehmen immer noch in klassisch hierarchischen und starren Strukturen. Das wollen wir ändern. Wir wollen Arbeitgeber dafür sensibilisieren, dass sich Arbeit auch im Bereich Blue Collar und Deskless Workforce flexibler gestalten lässt. Beschäftigte, die in diesem Bereich arbeiten, wünschen sich ebenso Mitbestimmung und flexible, familienfreundliche Arbeitszeiten. Starre Schichtmodelle sind zudem heute nicht mehr tragbar, weil unsere Arbeitswelt durch zunehmende Auftragsschwankungen aufgrund von Produktvielfalt und kleinen Losgrößen deutlich volatiler geworden ist. Darauf müssen die Unternehmen kurzfristig reagieren können.
Wie können Sie das bewerkstelligen?
Wir haben ein digitales Tool entwickelt, mit dem Planerinnen und Planer ihre Mitarbeitenden in die Schichtplanung einbeziehen können, indem sie ihnen per App Einsatzanfragen zuschicken. Ein Regelwerk hilft den planenden Personen, anhand von notwendigen Qualifikationen und unter Beachtung gesetzlicher Arbeitszeitregelungen geeignete Arbeitskräfte zu finden. Eine datenbasierte Prioritätensteuerung balanciert die Arbeitsbelastung aus und stellt sicher, dass nicht immer die gleichen Personen die Mehrarbeit leisten. Die Beschäftigten können die Einsatzanfragen ohne Stress im Rahmen einer Rückmeldefrist beantworten, die für alle gleichermaßen gilt, also kein first come, first serve. Das heißt, sie können zum Beispiel in Ruhe mit der Familie absprechen, ob sie eine Wochenendschicht übernehmen. So nehmen die Angestellten unmittelbar auf die Gestaltung ihrer Arbeitszeit Einfluss.
Das klingt ein bisschen nach New Work.
Genau. Wenn sich Unternehmen für flexiblere Arbeitszeitmodelle öffnen, können sie New-Work-Elemente durchaus auch auf den Hallenboden bringen. Es kommt schließlich auch im Büro auf die richtige Abstimmung an, die Konzepte wie Homeoffice und Gleitzeit ermöglicht. Mit unserem Tool können sich auch alle im Schichtbetrieb innerhalb eines vereinbarten Gestaltungsspielraums unkompliziert und digital abstimmen. Auch dem menschlichen Bedürfnis nach Mitbestimmung kommen Arbeitgeber entgegen, indem sie ihre Belegschaft noch mal fragen, bevor sie diese für Einsätze einplant.
Wie hat sich die Arbeit im Schichtbetrieb durch die Corona-Pandemie verändert?
Wir arbeiten hauptsächlich mit größeren mittelständischen Unternehmen und Konzernen zusammen. Dort hat Corona erst einmal viele in eine Schockstarre verfallen lassen. Viele Unternehmen sind sofort in die Kurzarbeit gegangen, sodass Schichtplanung eine Zeit lang gar kein Thema war. Jetzt läuft der Betrieb wieder und Firmen haben erstmals realisiert, dass die Arbeitswelt sich an unerwartete Situationen anpassen und Arbeitsorganisation neu erfinden muss. Sie denken vermehrt über flexible Konzepte nach. Davon profitieren wir natürlich, denn viele haben gemerkt, dass sie flexibel planen müssen und dafür ein geeignetes Instrument brauchen.
Welche Branchen nutzen Ihr Tool derzeit besonders häufig?
Unsere primäre Zielgruppe ist das vearbeitende Gewerbe. Dort kommt unser Tool auch am meisten zum Einsatz. Viele nutzen es erst einmal für die Koordination von Zusatz- und Wochenendschichten oder für das Ausfallmanagement, wo sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter grundsätzlich fragen müssen, weil Einsätze außerhalb der Regelarbeitszeit auf Freiwilligkeit basieren. Andere wagen es bereits, ihre Arbeitszeitmodelle aufzubrechen. Sie planen ihre Beschäftigten nur zu einem gewissen Prozentsatz ihrer vereinbarten Arbeitszeit fest ein und lassen damit einen gewissen Raum, in dem sie sich selbst organisieren können. Grundsätzlich ist unser Tool für jede Branche mit Schichtbetrieb geeignet. So nutzen es zum Beispiel auch vereinzelt Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Wobei dort die Personalschlüssel leider oft so eng sind, dass wenig Flexibilität in der Arbeitszeitgestaltung möglich ist.
Ab welcher Beschäftigtenzahl lohnt sich der Einsatz der App?
Unser Angebot nutzen eher größere Unternehmen, bei denen mehr als 500 Mitarbeitende in der Produktion arbeiten. Umso mehr Beschäftigte ein Betrieb koordinieren muss, desto notwendiger ist ein digitales Planungstool – mit Excel würden sie aufgrund der hohen Komplexität gerade bei flexibler Einsatzplanung nicht weit kommen. Kleinere Unternehmen müssen natürlich abwägen, ob sich das Tool für sie lohnt. Letztlich geht es ja auch nicht ausschließlich um Effizienz, sondern auch um Wertschätzung der Mitarbeitenden, denen man Mitbestimmung bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeiten ermöglicht. Ich denke, so ab 25 Beschäftigten kann es sinnvoll sein.
Wie lässt sich die Prozessoptimierung, die Ihr Tool verspricht, in Zahlen ausdrücken?
Die Kosteneinsparungen sind vor allem bei freiwilligen Einsätzen wie Mehrarbeit, Wochenendarbeit oder Ausfalldiensten spürbar. Die Person, die den Schichtplan erstellt, spart 30 bis 40 Prozent ihrer Zeit, weil sie nicht herumtelefonieren muss, um eine Arbeitskraft für den Einsatz zu finden. Neben den reinen Effizienzkriterien ist aber auch wichtig zu bemerken, dass viele Beschäftigte durch die höhere Eigenverantwortung und das Gefühl von Augenhöhe zufriedener sind und sich so auch das Image als Arbeitgeber stärkt.
Was genau wünschen sich Beschäftigte im Produktions- und Schichtbetrieb von ihrem Arbeitgeber?
Ein essenzielles Bedürfnis ist, zunächst einmal zu wissen, wann und wo sie arbeiten müssen – und dass diese Information ihnen jederzeit online zur Verfügung steht. Das Schwarze Brett ist nicht mehr zeitgemäß. Zudem wünschen sie sich – wie wahrscheinlich alle Beschäftigten – familienfreundliche und flexible Arbeitszeiten. Diese zwei Bedürfnisse spielen zusammen.
Welche Entwicklungen und Herausforderungen sehen Sie im Blue-Collar- und Non-Desk-Bereich in den nächsten Jahren auf uns zukommen?
Die größte Herausforderung ist, dass viele Unternehmen Flexibilisierung und die entsprechenden Tools zwar an sich gut finden, sich jedoch damit schwertun, tradierte Strukturen aufzubrechen. Das erfordert eine ganz neue Haltung. Hier ist innerbetrieblich noch viel zu tun. Vor allem müssen die Unternehmen mit ihren Betriebsräten eng zusammenarbeiten, um neue Prozesse und Betriebsvereinbarungen zu entwickeln. Wir begleiten das ein Stück weit und versuchen auch, Ideenlieferant zu sein.
Wie kamen Sie als Wissensarbeiterin überhaupt darauf, sich auf den Blue-Collar- und Non-Desk-Bereich zu spezialisieren?
Ich habe Systeme für die Automatisierungsindustrie entwickelt, das heißt, ich war zwar nicht im Personalbereich tätig, hatte aber mit Projekten in der Industrie 4.0 zu tun. Hier bin ich auf ein Forschungsprojekt des Fraunhofer IAO zum Thema „Flexibilisierung von Produktionsarbeit“ aufmerksam geworden und war fasziniert, dass bei aller Technologie endlich auch mal der Mensch mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt gestellt wurde. Ich habe dann Kontakt mit dem Fraunhofer IAO aufgenommen, weil ich das Thema nach Abschluss des Forschungsprojektes weiterentwickeln wollte. So hat es sich ergeben, dass ich 2015 das Start-up Vote2Work gegründet habe.
Zur Gesprächspartnerin
Katrin Pape ist CEO und Gründerin des Start-ups Vote2Work. Nach dem Studium der Elektrotechnik an der Universität Rostock arbeitete sie als Softwareentwicklerin und später als Produktmanagerin im Bereich industrielle Bildverarbeitung. 2001 wechselte sie zu National Instruments und verantwortete den Aufbau des Business Segments Optische Inspektionssysteme. 2006 gründete sie ihr erstes eigenes Software- und Systemhaus. 2015 startete sie Vote2Work mit dem Ziel, mit innovativen Methoden und smarten Matching-Algorithmen die Flexibilisierung der Arbeitswelt im Blue-Collar-Bereich zu unterstützen und die Mitarbeiterpartizipation zu fördern. Vote2Work gewann auf dem Personalmanagementkongress 2019 den HR-Start-up-Award. Human Resources Manager ist Mitinitiator des Preises. Die diesjährige Bewerbungsphase läuft noch bis zum 30. Mai.