Harald Welzer: Die Kunst des Aufhörens

Rezension

Ende April 2020 gab Harald Welzer in Sternstunde Philosophie ein Interview. Rund eine Stunde nach der Videoaufzeichnung hatte er einen akuten Herzinfarkt, den er mit viel Glück überlebte. Harald Welzer ist Sozialpsychologe, Transformationsdesigner und ein häufig geladener Interviewgast. Zur Zeit des Sternstunde-Gesprächs war gerade Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen erschienen. In dem Buch skizziert er Zukunftsszenarien für Bereiche wie Arbeit, Mobilität oder auch die Digitalisierung. Er möchte aus der Zukunft ein Versprechen machen, ihr das Bedrohliche entziehen. Viele kennen vielleicht auch seine Publikationen Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand oder Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. Harald Welzer ist Bestsellerautor, Vielschreiber und ein virtuoser Denker. Eine Stimme der Intervention in Zeiten des Hyperkonsums, der Ozeanvermüllung und Entwaldung, des Artensterbens und wahnhaften Vergrößerns der sogenannten Weltreichweite durch Personen wie Elon Musk und seine Raketenprojekte.

Veränderte Werte

Durch den Herzinfarkt wurde der Publizist von der Möglichkeit des eigenen Todes, und damit der Endlichkeit, brüskiert. Ein Ereignis, das ihm seine „Unsterblichkeitsillusion“ nahm. Doch das sei nichts Trauriges, schreibt Welzer, vielmehr habe es seine Werte verändert. Ihn beschäftigt die Zukunft schon lange, aber nun stellt er sich auch die Frage: Wer will ich gewesen sein?

Das ist ein Satz im Futur II. Diese Zeitform beschreibt die sogenannte vollendete Zukunft. Die Frage, was für eine Art Mensch er sein möchte, beantwortet Harald Welzer durch einen ungewöhnlichen Ansatz: Er verfasst einen Nachruf auf sich selbst. Dieser Nachruf ist kein Produkt von Eitelkeit, sondern ein Anliegen, das sich auf das noch zu lebende Leben bezieht. Es ist Denken in Futur II – so heißt übrigens auch die Stiftung, die er gegründet hat.

Die Begrenzung unserer Wachstumsversessenheit

Transferierten wir diese Denkhaltung auf unsere Gesellschaft, könnte sie sich laut Welzer in eine gedachte Zukunft hineinentwickeln – und dadurch das Aufhören erlernen und ihre Wachstumsversessenheit begrenzen. Doch wir vermeiden Vergänglichkeitsdenken. Im Zuge der Aufklärung wurde der Tod allmählich aus dem Alltag verbannt. Er sei Privatsache geworden, schreibt Welzer. Genauso unsichtbar wie der Tod sei auch der wirtschaftliche Stoffwechsel unserer Wohlstandsgesellschaft. Unsere Produkte sind geschichts- und herkunftslos. Durch die Coronapandemie wurden wir uns dieses Umstands kurz gewahr, als Gesichtsmasken, Schutzkleidung, Medikamente und Impfstoffe nicht einfach auftauchten, sondern tatsächlich von irgendwoher beschafft werden mussten. Wir mussten warten. Und das Warten haben wir verlernt auf vielen Ebenen unseres Alltags. Es gibt in diesem Zusammenhang eine schöne Wortneuschöpfung, die Welzer anbringt: das Verb sinnlosen. Es ist ein Gegenentwurf zum Fleißigsein und Optimieren und bezieht sich auf Tätigkeiten, wie den Sternenhimmel zu betrachten. „Sinnlosen“ stammt vom Kabarettist Gerhard Polt. Harald Welzer versteht es, in seinem gesamten Schreiben und Sprechen die Gedanken kluger Menschen elegant in seine eigenen Beobachtungen einzubinden. Und so ist auch dieses Buch eine Montage aus Befunden aus der Wissenschaft, autobiografischen Anekdoten, tiefgehenden Interviews mit Menschen, die Welzer etwas über das Wesen des Aufhörens nahebringen, und pointierten Kommentierungen von Politik, Medien und Wirtschaft. Seine Empörung sitzt mitunter zwischen den Zeilen, doch sie kann der Leichtigkeit seiner Formulierungen nichts anhaben.

Die Komplexität des Aufhörens

Aufhören ist etwas sehr Komplexes, es heißt nicht einfach nur, etwas zu stoppen. Es geht dabei auch um rituelle Abschiede, um das Bewusstsein darüber: Auf welche Frage suche ich eine Antwort? Und wo hat mich das bislang hingeführt? Vor allem Handelnde aus der Wirtschaft ersinnen laut Welzer keine offenen Konzepte für eine Zukunft, sondern liefern hermetische Wirklichkeitsdefinitionen im Sinne von Das war schon immer so. Das bleibt so. Statt es für möglich zu halten, Mobilität ohne Autos zu kreieren, werden E-Autos produziert. Im Sinne des Aufhörens sollten wir nicht fragen: Wie machen wir das Auto klimaneutral? Sondern: Wie bewegen wir uns fort? Im Jahr 2020 hat die tote Masse, also Häuser, Maschinen, Asphalt und Plastik, die Biomasse überragt. Es gibt also mehr tote Dinge auf der Welt als Lebendiges. Wo soll dieser Wachstum hinführen?

Am Schluss wird es persönlich: Harald Welzer skizziert in 15 Stichpunkten seinen Nachruf. Dort steht unter anderem: Ich möchte, dass in meinem Nachruf steht: Er fand gar nichts dabei, zu sagen, was er dachte. Das ist ihm gelungen. Zur Freude aller, die nach Lernprovokationen suchen.

© S. Fischer Verlag
© S Fischer Verlag

Harald Welzer, Nachruf auf mich selbst. S. Fischer Verlag, 22 Euro, 288 Seiten. Erschienen im Oktober 2021.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Selbstverständnis. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Jeanne Wellnitz (c) Mirella Frangella Photography

Jeanne Wellnitz

Redakteurin
Quadriga
Jeanne Wellnitz ist Senior-Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert. Zuvor war sie von Februar 2015 an für den Human Resources Manager tätig, zuletzt als interimistische leitende Redakteurin. Die gebürtige Berlinerin arbeitet zusätzlich als freie Rezensentin für das Büchermagazin und die Psychologie Heute und ist Autorin des Kompendiums „Gendersensible Sprache. Strategien zum fairen Formulieren“ (2020) und der Journalistenwerkstatt „Gendersensible Sprache. Faires Formulieren im Journalismus“ (2022). Sie hat Literatur- und Sprachwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und beim Magazin KOM volontiert.

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