Führung: Eine Kultur der Verlässlichkeit

Leadership

Das Homeoffice konfrontierte viele Führungskräfte mit der Frage, welche Rolle Vertrauen für sie spielt. Das hat viel mit dem Bedürfnis nach Sicherheit und Handlungsfähigkeit zu tun. Denn insbesondere das Führen und Miteinanderarbeiten auf Distanz eröffnet ungewohnte Freiheiten und beschneidet zugleich gewohnte Kontrollstrategien. Wie wir angesichts einer solchen Situation angemessen miteinander umgehen können, ist einerseits eine kulturelle und andererseits eine strategische Frage.

Der Vertrauensbegriff fristet ein ähnliches Dasein wie der Nachhaltigkeitsbegriff. Wir begegnen ihm so gut wie täglich, doch nur selten wird er ausbuchstabiert. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied: Vertrauen ist individuell erfahrbar. In der intimen und lebenswichtigen Erfahrung von Vertrauen zeigt sich uns eine Welt, in der grundsätzlich gegeben und Verantwortung übernommen wird. Die Rede von Vertrauen erweckt Assoziationen. Wir können eine gedankliche und emotionale Verbindung zu eigenen Vertrauensbeziehungen herstellen. Auch wenn wir auf Ebene des individuellen Erlebens meist nicht darüber sprechen: Wir wissen, was diese Beziehungen so unverwechselbar macht. Vertrauen ist nichts, was man herstellen, entscheiden, vorschreiben oder einfordern kann. Es ist ein Geschenk und ein Wert an sich. Vertrauensbeziehungen sind intime Beziehungen und Teil unseres sozialen Lebens. So beschreibt es Olli Lagerspetz in Trust. The Tacit Demand. Das Besondere an Vertrauensbeziehungen ist, dass wir einander in unserem jeweils individuellen Sein anerkennen. Diese gegenseitige Anerkennung unserer Wesenskerne schenkt uns eine unvergleichliche Handlungsfreiheit, wie Philosoph Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes schreibt. Denn im Vertrauen gibt es kein Risiko und somit auch kein Kontrollerfordernis. Wer vertraut, vertraut. Daher trifft uns auch ein Vertrauensbruch persönlich und moralisch so hart – er erschüttert uns in unserem Wesenskern.

Arbeitsbeziehungen sind keine intimen Beziehungen, wie etwa Vertrauensbeziehungen, sondern persönliche Beziehungen. Diese sind laut den Kulturexperten Edgar H. Schein und Peter Schein vergleichbar mit lockeren Freundschaften, man kennt sich und ist zum Beispiel bereit, eine Verpflichtung einzugehen beziehungsweise einzuhalten. Es kommt zwar vor, dass Menschen im beruflichen Kontext eine intime Vertrauensbeziehung entwickeln, doch das sind meistens Ausnahmen. Das, was wir von einer Vertrauensbeziehung erwarten, entsteht in der Regel nicht in Arbeits- und Organisationskulturen. In beruflichen, vertraglich geregelten Kontexten geht es darum, kalkuliert mit Risiken umgehen sowie Kontrollkosten niedrig halten zu können. Darauf ist Vertrauen nicht spezialisiert. Und mehr noch: Wenn wir den Vertrauensbegriff hier ins Spiel bringen, können Assoziationen entstehen, die nicht auf diese Ebene gehören und für Verwirrung, Irritationen und Frustrationen sorgen. Denn wenn wir uns eine gute Zusammenarbeit wünschen, heißt das nicht, dass wir mit Vorgesetzten, Mitarbeitenden oder Kolleginnen von der persönlichen auf die intime Ebene wechseln wollen.

Leadership bedeutet Kulturmanagement

Wie die Autoren Schein in ihrem Werk zu Organisationskultur und Leadership zutreffend analysieren, entwickeln Menschen Strategien, die ihnen dabei helfen, ihre Bedürfnisse zu bedienen und Probleme zu lösen. Dieses akkumulierte Wissen einer sozialen Gruppe bezeichnen sie als Kultur. Dort verdichten sich etablierte Vorstellungen, Werte und Verhaltensnormen zu unbewussten Grundannahmen darüber, wie man angemessen miteinander in Beziehung treten sollte. Was in einer Situation als richtig und angemessen gilt, hängt davon ab, auf welcher Beziehungsebene man sich befindet. Schein und Schein analysieren zutreffend, dass es auf der Ebene von persönlichen Beziehungen in der Regel als angemessen gilt, gegenseitige Verpflichtungen und Versprechen eingehen und einhalten zu können. Hier geht es also um Verlässlichkeit, nicht um Vertrauen. Arbeitsbeziehungen benötigen Verlässlichkeit, Vertrauen ist ein Add-on. Leadership is the Management of Culture bedeutet: Wir müssen verstehen, wie wir – bisher und zukünftig – Verlässlichkeit sicherstellen und erhalten können.

Sobald wir nicht mehr von Vertrauen, sondern von Verlässlichkeit sprechen, können wir von der moralischen auf die pragmatische Ebene und von der Problemebene auf die Lösungsebene gelangen. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit lassen sich nicht herstellen – auf Verlässlichkeit kann man hingegen Einfluss nehmen. Und Verlässlichkeit ist auf den Umgang mit Risiken spezialisiert, sie geht kalkuliert und offen mit ihnen um und kann Gegenstand individueller oder strategischer Entscheidung sein. Wir können als Führungskraft begründetermaßen entscheiden, uns auf jemanden oder etwas zu verlassen. So ist es beispielsweise möglich, konkrete, explizite, transparente und nachvollziehbare Strukturen, Prozesse und Regeln zu installieren, die einen expliziten, kalkulierten und sanktionsfähigen Umgang mit Risiken und Schadensfällen erlauben. Außerdem lassen sich explizite und konkrete Konsensprozesse – zum Beispiel hinsichtlich Aufgaben, Zielen, Mitteln – sowie Maßnahmen zur internen Integration – zum Beispiel hinsichtlich Sprache, Identität, Machtverteilung, Beziehungsnormen – einführen und gemeinsam entwickeln.

Handlungs- und Entwicklungsfähigkeit

Verlässlichkeit ist eine wichtige Voraussetzung für Organisationen als Ganzes. Denn sie trägt dazu bei, Wertschöpfung zu ermöglichen und Handlungsspielräume zu eröffnen. Sie ist vor allem auch im Hinblick auf den Umgang mit Transformationserfordernissen wichtig, wie sie sich etwa im Rahmen des gegenwärtigen Wandels der Arbeitswelt aufdrängen. Hierzu gehören etwa die Umstellung auf New Work oder agiles Management, die einen veränderten Grad der Intimität von Beziehungen fordern und Komplexität erhöhen.

Auf den Ebenen von Strukturen und Prozessen, Tools und Technologien sowie Kultur und Mitarbeitenden ist es erforderlich, auch unter veränderten Bedingungen verlässlich arbeiten und produktiv sein zu können. Werden etwa flache Hierarchien, interdisziplinäre Teams, digitale Kollaborationsplattformen oder Ergebnisorientierung eingeführt, ist für die Sicherstellung verlässlicher Kollaboration vor allem Folgendes wichtig: die Expertise von Beschäftigten zu hören und einzubeziehen, eine Fehlerkultur zu etablieren, die Dienlichkeit von Maßnahmen zu hinterfragen, gezielte Personalentwicklungsmaßnahmen zu ergreifen, Verantwortlichkeiten sowie Kommunikationswege und -mittel zu definieren, Daten- und Systemsicherheit sicherzustellen und transparente Regeln zu installieren.

Leadership ist Unternehmenskulturmanagement und Führungskräfte sind selbst ein Teil dieser Unternehmenskultur. Ebenso wie alle anderen Mitglieder sind sie darüber hinaus Teil der Kultur, die sie umgibt. Die Komplexität, Intensität und Geschwindigkeit der kulturellen Wandlungsprozesse, mit denen wir alle gegenwärtig konfrontiert sind, ist atemberaubend. Wir haben jedoch die Möglichkeit, auch unter veränderten Bedingungen rational, gelassen und handlungsfähig zu bleiben – die Förderung einer Kultur der Verlässlichkeit kann uns dabei helfen. Wer in Beziehungsarbeit investiert, erhöht die Bereitschaft, Verpflichtungen und Versprechen einzugehen sowie einzuhalten – und kann vielleicht sogar ein Klima schaffen, in dem nicht nur verlässliche Kooperation, sondern sogar die eine oder andere Vertrauensbeziehung gedeihen kann.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Leadership. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Michaela Levermann

Michaela Levermann

Michaela Levermann ist promovierte Philosophin mit dem Schwerpunkt Vertrauensforschung. Auf Grundlage wissenschaftlicher Expertise berät sie Unternehmen bei der Weiterentwicklung ihrer Führungs- und Kommunikationskultur. Ihre Monografie "Die Ökonomisierung des Vertrauens" ist 2018 erschienen.

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