„ESG darf kein Bürokratie­monster werden“

Interview

Herr Kilian, in dem von Ihnen kürzlich herausgegebenen Buch berichten Experten aus Industrie, Beratung und Wissenschaft über ihre Erfahrungen mit nachhaltigem HR-Management und die Priorität, dem „Social“ in ESG neues Leben einzuhauchen. Was bedeutet nachhaltige Personalarbeit für Volkswagen?

Gunnar Kilian: Volkswagen ist auf dem Gebiet sozialer Nachhaltigkeit ein Vorreiter. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges haben wir uns zu einem demokratisch mitbestimmten Unternehmen entwickelt. Ein Unternehmen, bei dem Wirtschaftlichkeit und Beschäftigungssicherheit gleichrangige Ziele sind. Das ist der Ausgangspunkt unserer Erfolgsgeschichte. Jetzt gilt es, die Stärken dieses Ansatzes zu halten, denn sichere Arbeitsplätze und nachhaltige Teilhabe sind die Basis für Spitzenprodukte. Gleichzeitig müssen wir schneller und effektiver werden, um im neuen, schärferen Wettbewerb mit vielen neuen Playern zu bestehen.

Wie lassen sich wirtschaftliche Ziele mit Nachhaltigkeitszielen in Einklang bringen?

Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit schließen sich nicht aus. Im Gegenteil, sie bedingen einander. Nicht umsonst nimmt der ESG-Faktor eine immer zentralere Rolle bei der Unternehmensbewertung internationaler Rating-Agenturen ein. Volkswagen hat sich zum Ziel gesetzt, das „E“ für Environment durch sein Bekenntnis zum Pariser Klimaschutzabkommen voranzutreiben. Bis 2050 wollen wir als Konzern mit rund 670.000 Menschen bilanziell CO2-neutral sein. Doch das darf kein Lippenbekenntnis sein. Mit Programmen wie „Project1Hour“, wo unsere Mitarbeitenden einmal im Jahr weltweit synchronisiert ein Symbol gegen den Klimawandel setzen, nehmen wir unsere Beschäftigten auf diesem Weg mit und binden sie mit ihrem Know-how aktiv ein. Das ist ein Beispiel von vielen, welches zeigt, dass wir bei Volkswagen Nachhaltigkeit in seiner Gesamtheit verstehen.

Inwiefern bietet ESG eine Chance, neue HR-Policies zu entwickeln?

ESG muss jetzt und in Zukunft die feste Basis nachhaltiger Personalarbeit sein. Das beginnt beim Recruiting über die Weiterentwicklung einer erfolgreichen Unternehmenskultur bis hin zu einem gemeinsamen Werteverständnis. Unser People Profile macht das haptisch. Es beschreibt mit seinen Werten unsere persönliche Haltung, mit der wir bei Volkswagen gemeinsam erfolgreich sind. Verantwortungsvolles und nachhaltiges Handeln steht dabei im Zentrum.

Neue und sinnvolle ESG-Ansätze werden oft von zusätzlichen Dokumentations- und Berichtspflichten begleitet. Wie beurteilen Sie das?

ESG darf kein Bürokratiemonster werden. Denn die Bedeutung und Wirkung von Nachhaltigkeit ist für unser globales Dasein viel zu wichtig, um durch überbordende Komplexität ad absurdum geführt zu werden. Was jedoch außer Frage steht: Dokumentations- und Berichtspflichten sind eine „Conditio sine qua non“. Ohne sie geht es nicht. Doch wir müssen Maß halten. Es braucht in Zukunft eindeutigere und stärker standardisierte Normen für die Berichterstattung, wenn ESG langfristig ein Erfolg werden soll. Die deutsche Wirtschaft setzt auf die Formulierung des European Sustainability Reporting Standards (ESRS), die von der European Financial Reporting Advisory Group als Entwurf vorgelegt worden ist. Und dahinter stehe auch ich.

Wie viel Raum nimmt die Bürokratie für den HR-Bereich inzwischen ein und zu wessen Lasten geht das?

Für mich steht außer Frage, dass das gesetzlich geforderte Reporting mit dem bereits vorhandenen Personal zu stemmen sein muss. Anders wird es schwer. Hier rede ich nicht nur aus der Perspektive eines Vertreters eines der größten Automobilindustrieunternehmen der Welt, sondern das gilt auch für mittelständische Unternehmen. Es kann nicht sein, dass wir uns durch die ESG-Prozesse selbst lähmen. Viel zu wichtig ist eine gute Unternehmensführung, viel zu wichtig sind unsere Beschäftigten, viel zu wichtig ist unsere Umwelt, als dass sie an bürokratischen Hürden scheitern dürfen.

Was ist Ihnen wichtig für den Aufbruch in eine neue HR-Zeit bei Volkswagen?

Was ich für die Prozessdokumentation der ESG-Kriterien gefordert habe, muss auch das Personalwesen selbst vorleben. Und das tun wir bei Volkswagen. Mit unserem neuen Betriebsmodell „One HR“ sind wir schneller, digitaler und unkomplizierter geworden. Gerade in Ausnahmesituationen, wie der Coronakrise, hat sich diese Transformation des Personalwesens bewährt. Doch wir bleiben nicht stehen.

Was heißt das konkret, Herr Kilian? Wo geht es hin?

In einer Welt, in der Krisen mittlerweile zum Daily Business geworden sind, muss das Personalwesen den Beschäftigten vor allem Stabilität geben. Mit klar strukturierten Personalprozessen, einer integrativen Unternehmenskultur, einer transparenten Kommunikation und innovativen Aus- und Weiterbildungsformaten kann uns das gelingen. Und daran arbeiten wir.

Sprich: Bei Volkswagen steht nicht das Auto, sondern der Mensch im Mittelpunkt?

Im Zentrum unserer Arbeit stehen die besten Produkte für unsere Kunden. Volkswagen tritt an, um Mobilität nachhaltig zu gestalten – heute und für die zukünftigen Generationen. Für mein HR-Team und mich stehen die Menschen im Fokus, die diese große Aufgabe stemmen: unsere Beschäftigten.

Es rumpelt aber auch im Konzern. Man liest von Einstellungsstopp und geplanten Entlassungen …

Vorweg, es gibt keine pauschalen Personal-Abbauziele. Volkswagen muss wieder dahin, wohin es hingehört. An die Spitze. Dafür haben wir ein anspruchsvolles Performance-Programm gestartet. Ziel ist es, die operative Ergebnismarge bis 2026 nachhaltig auf 6,5 Prozent zu steigern. Das ist wichtig, um die notwendigen Investitionen in die Transformation aus eigener Kraft leisten zu können und um wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Schlussendlich geht es darum, nachhaltig Beschäftigung sichern zu können. Volkswagen ist dafür bekannt, in puncto Personalmaßnahmen sozialverträglich zu handeln. Das ist auch jetzt das Ziel. Neben dem unternehmensseitigen Einstellstopp und der Stabilisierung der höheren Entgeltstufen im Tarif Plus, die weiter gelten, haben wir uns mit der Arbeitnehmervertretung deshalb darauf verständigt, nun auch allen Beschäftigten des Jahrgangs 1967 die Altersteilzeit anzubieten und damit speziell im Verwaltungsbereich der Volkswagen AG entlang der demografischen Kurve Personal abzubauen. Das unterstreicht deutlich, dass wir auch in herausfordernden Zeiten sozialverträglich vorgehen.

Fühlen Sie sich im Moment mehr als Krisenmanager, denn als Personaler? Kommen Sie noch zu Dingen, die Ihnen wirklich am Herzen liegen?

In den vergangenen Jahren war das Managen von Krisen tatsächlich dominant in meinem Arbeitsalltag, von Corona über den russischen Angriff auf die Ukraine bis zur Versorgungssituation mit Zulieferteilen und Energie in Europa. Gerade in solchen Krisenzeiten zeigt sich aber, wie wichtig stabile Personalprozesse und soziale Systeme sind, wie wir sie für unsere Beschäftigten geschaffen haben. Sie sind die Basis für kraftvolle, schnelle, pragmatische Lösungen – und das nicht nur in Krieg und Krise, sondern auch in der Transformation unserer Industrie oder dem nun vor uns liegenden Effizienzprogramm der Marke Volkswagen. Hier müssen wir klare Ziele für die Teams definieren, passgenau weiterqualifizieren, die Menschen zugleich fordern und mitnehmen.

Wie unterstützen Sie Ihre Mitarbeiter­innen und Mitarbeiter darin, gesundheitlich dafür fit zu bleiben?

Gesundheit ist eines der zentralen Fokusthemen moderner Personalarbeit. Auch bei Volkswagen haben wir uns zum Ziel gesetzt, höchste Standards medizinischer Versorgung sowohl für die psychische als auch für die physische Gesundheit zu setzen. Sei das hier in Deutschland oder in Kooperation mit modernsten Krankenhäusern zum Beispiel in China. Sei es mit Voruntersuchungen und Gesundheitsberatungen, wie es unser Gesundheits-Check-up 2.0 ermöglicht, oder mit psychologischen Präventionsprogrammen, wie unserem neu eingeführten Angebot „Psych.Navigator“.

Wie sieht zeitgemäße Mitbestimmung aus im Zeichen von Krisen, Strukturwandel und Regulierung?

Die Mitbestimmung ist ein entscheidender Faktor einer gelingenden Transformation. Mittels konstruktiver Konfliktbewältigung trägt sie dazu bei, dass wir den Wandel gemeinschaftlich gestalten, anstatt ihn direktiv vorzuschreiben. Und hierin liegt für mich der Schlüssel, mit dem wir gemeinsam neue Arbeitswelten erschließen.

Reagiert HR nur noch auf äußere Zwänge wie Strukturwandel und E-Mobilität?

Ganz im Gegenteil. HR fungiert als Treiber des Wandels, weil wir die großen personellen Entwicklungen – so zum Beispiel die Ruhestandswelle der Babyboomer-Jahrgänge und den Fachkräftemangel, neue Qualifikationsbedarfe und Anforderungsprofile – vordenken und daraus passgenaue Maßnahmen ableiten.

Ist Deutschland auf einem guten Weg oder braucht der Standort Deutschland einen Relaunch?

Das ist keine einfache Frage. Zunächst glaube ich an die Stärke des Standorts Deutschlands, unsere Industrie, unsere Innovationskraft. Wir spielen diese aber nicht hinreichend aus, weil wir langwierige, bürokratische und für die Unternehmen oft sehr teure Prozesse vorschalten. Weil wir nicht schnell genug handeln. Und weil wir als Gesellschaft unseres Wohlstands manchmal noch zu sicher erscheinen.

Hat die Politik das ausreichend im Blick?

Wir brauchen jetzt bessere und unkompliziertere Rahmenbedingungen in Deutschland, wir brauchen Fokus auf Wesentliches, Mut und Veränderungsbereitschaft im Wandel. Ob dies schon überall in der Politik angekommen ist, bezweifle ich. Wir als Autoindustrie arbeiten mit aller Kraft dran, den Übergang in eine CO-2-freie Mobilität zu gestalten. Doch letztendlich ist die Dekarbonisierung eine Gemeinschaftsaufgabe von Wirtschaft, Gesellschaft und eben auch Politik. Der Aufbau einer passenden Ladeinfrastruktur für die Elektromobilität in Europa oder verkehrstechnisch innovative Maßnahmen zum Einsatz automatisierter Schwerlasttransporte, die spätestens 2030 beispielsweise durch unser Tochterunternehmen MAN technologisch verfügbar sind, sind dafür Beispiele. Hier ist die Politik in der Verantwortung, den Bürgerinnen und Bürgern nachhaltige Mobilität flächendeckend zu ermöglichen.

Welche Arbeitswelt wünscht sich Gunnar Kilian für seine Kinder und die nächsten Generationen und wie sehr sieht er sich hierfür in seiner Funktion verpflichtet?

Unsere hohen Standards und unsere soziale Sicherheit haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten hart erarbeitet. Es muss allen bewusst sein, dass wir weiter hart arbeiten müssen, um Wohlstand und Industrieführerschaft zu sichern. Meinen Kindern – und allen Kindern aus ihrer Generation – wünsche ich, dass sie sich in einem solch stabilen Umfeld entfalten können, Engagement und Expertise in den von ihnen gewählten Themen und Bereichen einbringen. Dass sie eine gute Balance zwischen Flexibilität in der mobilen Arbeit und gemeinsamer Präsenz in einer guten Teamstruktur erleben. Vor allem aber, dass sie die Welt Schritt für Schritt noch nachhaltiger und klimafreundlicher gestalten und – am wichtigsten – friedlicher.

Über den Gesprächspartner:

Gunnar Kilian ist Personalvorstand und Arbeits­direktor bei der Volkswagen AG. Der 48-Jährige ist als profilierter CHRO ein gefragter Meinungs- und Impulsgeber in der HR-Community. Zusammen mit Joachim Gutmann ist er Herausgeber des Buchs People ­Sustainability. Partizipation, Wertschätzung, Purpose (Haufe, 2023).

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Miteinander. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Sabine Schritt ist leitende Redakteurin beim Human Resources Manager.

Sabine Schritt

Sabine Schritt ist leitende Redakteurin des Magazins Human Resources Manager. Sie war zuvor 25 Jahre als freie Journalistin tätig. Nach verschiedenen Stationen im Tagesjournalismus und bei Ratgeber- und Lifestyle-Publikationen, beschäftigt sie sich seit über 15 Jahren intensiv mit Themen rund um die Arbeitswelt, HR und Führung. Die gebürtige Kölnerin war zudem bis 2012 stellvertretende Chefredakteurin des Schweizer Fachmagazins HR Today in Zürich. Anschließend war sie zehn Jahre als freie Redakteurin für das Fachmagazin Personalführung tätig. Sabines besonderes Interesse gilt den Aspekten:  Zusammenarbeit, Kommunikation, digitale Transformation, Kulturwandel in Unternehmen, Rollenverständnis von HR, Persönlichkeitsentwicklung.

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