Dienstreise mit der Bahn: Arbeitszeit oder Ruhezeit?

Arbeitszeitgesetz

Sachverhalt

Die Klägerin ist auf die Überführung von neuen und gebrauchten Nutzfahrzeugen spezialisiert. Die bei ihr fest angestellten Fahrer fahren von ihrem Wohnort mit Taxi und Bahn europaweit zum jeweiligen Abholort des Fahrzeugs, übernehmen es und fahren es dann zum Zielort. Von dort reisen die Fahrer wieder per Bahn zu ihrem Wohnort. Für die Bahn verfügen die Angestellten der Klägerin über eine Bahncard 100 in der 1. Klasse. Die Überführungspapiere, ein Firmenhandy, Schutzbezüge zur Nutzung im Überführungsfahrzeug sowie eine mobile Mautbox führen sie mit sich. Vorgaben der Klägerin, wie die Fahrer die Zeit während der Bahnfahrt einteilen und nutzen, bestehen nicht. In den Arbeitsverträgen heißt es unter anderem

„Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit werden durch die Disposition des Arbeitgebers bestimmt.[…] Ruhe-, Warte- und Bereitschaftszeiten sowie sogenannte Zeiten nicht zur freien Verfügung (zum Beispiel Beifahrer als Doppelbesetzung, wenn keine firmenrelevanten Tätigkeiten ausgeführt werden müssen), gelten nicht als Arbeitszeit. Das gleiche gilt für An- und Abreisezeiten sowie Zeiten als Mitfahrer“.

Im Ergebnis einer Prüfung bei der Klägerin hatte die Aufsichtsbehörde nach § 17 Absatz 2 Arbeitszeitgesetz mit Sofortvollzug angeordnet, Bahnreisezeiten der Fahrer als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes zu berücksichtigen und deren tägliche Arbeitszeit wie folgt wahrheitsgemäß zu dokumentieren:

  • Vor- und Nachname des Fahrers,
  • Datum, Beginn und Ende der Arbeitszeit unter zusätzlicher Nennung von Beginn und Ende von Reisezeiten zwischen Kunden, Betriebsstätten und Wohnorten innerhalb der Arbeitszeit sowie Beginn und Ende der jeweiligen Pausenzeiten und dies der Behörde vorzulegen.

Der dagegen gerichtete Widerspruch blieb ebenso erfolglos wie die Klage beim Verwaltungsgericht Lüneburg.

Rechtsprechung

Dienen Fahrzeiten einer Dienstreise lediglich der Beförderung an einen auswärtigen Ort, ohne dass der Arbeitnehmende damit konfrontiert ist, jederzeit unverzüglich die Arbeit aufnehmen zu müssen, handelt es sich arbeitszeitrechtlich nicht um Arbeitszeit. Das ist bislang Stand der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Demgemäß sind Fahrzeiten in öffentlichen Verkehrsmitteln keine Arbeits-, sondern Ruhezeit, wenn keine Arbeitsleistungen zu erbringen sind. Arbeitnehmende werden dann nicht beansprucht. Dass sie „aus […] [ihrem] familiären und sozialen Umfeld herausgerissen“ sind (Bundesarbeitsgericht), ist arbeitszeitrechtlich nicht von Bedeutung. Arbeitszeitrecht ist Arbeitsschutzrecht, das darauf zielt, den Arbeitnehmenden genügend Zeit zur Erholung, Entspannung und Schlaf zur Verfügung zu stellen, ohne dies durch Arbeit zu unterbrechen. Insoweit kommt es [nur] darauf an, ob mit der Reisetätigkeit eine dem Gesundheitsschutz zuwiderlaufende Belastung einhergeht.
Von dieser Rechtsprechung rückt das Verwaltungsgericht Lüneburg ab, wenn es auch betont, nur bezogen auf den ihm vorliegenden Sachverhalt entschieden zu haben. Bei seiner Interpretation von „Arbeitszeit“ im Sinne des Arbeitszeitgesetzes orientiert es sich eng an der EU-Arbeitszeit-Richtlinie (2003/88/EG).

Nach deren Artikel 2 Nummer 1 ist Arbeitszeit „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“.

Die Bahnreisen der Fahrer zum Abholort und zurück vom Zielort seien Arbeitszeit, vergleichbar zu dem vom EuGH entschiedenen Fall von Servicetechnikern, die mit Servicewagen direkt von ihrem Wohnort zur Kundschaft fahren (C 266/14, vgl. https://www.humanresourcesmanager.de/arbeitsrecht/fahrzeit-ist-arbeitszeit/). Wie diese verfügten die Fahrer über keinen festen Arbeitsplatz, ihre Einsatzorte variierten durchgängig. Zwar beginne die eigentliche Tätigkeit der Fahrer erst mit Übernahme des zu überführenden Fahrzeugs, doch seien die Bahnreisezeiten der Gesamttätigkeit immanent. Die Länge der Bahnreisezeiten, die von weniger als einer bis zu 12 Stunden täglich und mehr umfassen könne, stehe nicht zur ihrer Disposition, sondern richte sich nach den Bestimmungen der Klägerin. Die Fahrer hätten keinen Einfluss darauf, wie weit ihr Wohnort von den Start-/ und Zielorten der Überführungsfahrten entfernt ist, weshalb es der Sphäre der Klägerin zuzurechnen sei, wieviel Zeit die Bahnreise in Anspruch nehme. Die Fahrer unterlägen während der Fahrzeiten voll der Weisungsbefugnis der Klägerin, müssten sich während der Fahrzeit zur Verfügung halten, telefonisch erreichbar sein, um gegebenenfalls umzudisponieren, auch wenn dies nur selten vorkomme. Sie führten Überführungspapiere, ein Firmenhandy, Schutzbezüge zur Nutzung im Überführungsfahrzeug sowie eine mobile Mautbox mit sich. Und wenn sie auch während der Zugfahrten essen, trinken oder schlafen könnten, müssten sie sich außerhalb ihres familiären und sozialen Umfeldes aufhalten und stünden der Klägerin zur Verfügung, ohne sich dem entziehen zu können. Damit unterlägen sie aufgrund ihres Tätigkeitsbildes regelmäßig derartigen örtlichen, zeitlichen und sozialen Einschränkungen, dass die Bahnfahrzeiten der Arbeits- und nicht der Ruhezeit zuzuordnen seien.

Praxisfolgen

Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 2. Mai 2023 (3 A 146/22) ist von hoher Praxisrelevanz, nachdem das Bundesarbeitsgericht in seinem Beschluss vom 13. September 2022 die Pflicht der Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung festgestellt hat. Viele Kommentare zu jenem Beschluss haben auf die Möglichkeit behördlicher Anordnungen nach § 17 Arbeitszeitgesetz hingewiesen. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts führt plastisch vor Augen, wie es zu solchen behördlichen Anordnungen kommen kann, wie umfassend sie sein können und dass es keineswegs einfach ist, ihnen vorzubeugen beziehungsweise dagegen anzugehen. Es ist daher sehr lesenswert.

Hervorzuheben ist, dass die von der Klägerin vorgelegten Gutachten einer Fachkraft für Arbeitssicherheit sowie eines Wirtschaftspsychologen im Ergebnis nutzlos waren und das Ziel verfehlt haben, zu untermauern, dass Bahnfahrten im Vergleich zu Pkw-Fahrten in jedem Fall weniger belastend seien. Das Verwaltungsgericht konnte das jedenfalls aus diesen Gutachten nicht nachvollziehen, zumal, wie es ausführt, gerichtsbekannt Reisen in öffentlichen Verkehrsmitteln auch Belastungen durch Verspätungen, gerade im Fernreiseverkehr, erhöhte Auslastung oder Geräuschbelastungen mit sich brächten, denen sich die Fahrer nicht entziehen könnten.

Der Praxis droht damit ein permanentes Wertungsrisiko. Selbst das Bundesarbeitsgericht (Urteil vom 27.07.2021 – 9 AZR 448/20) hat bei der Abgrenzung von Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft entscheidungserheblich darauf abgestellt, ob Arbeitnehmenden Einschränkungen auferlegt werden, die sie objektiv betrachtet ganz erheblich darin beeinträchtigen, ihre Zeit frei zu gestalten und sich eigenen Interessen zu widmen, während ihre Arbeitsleistung in Anspruch genommen werden kann. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. dazu etwa Klasen, Neue Juristische Wochenschrift 2022, 236) sind dabei Einschränkungen zu berücksichtigen, die die Arbeitgeber auferlegen oder die aus Gesetz oder Tarifvertrag folgen.

Man wird die Entwicklung der Rechtsprechung weiter genau beobachten müssen. Sollte sich die Tendenz des Urteils des Verwaltungsgerichts Lüneburg verfestigen, werden sich bei Dienstreisen arbeitszeitrechtlich erhebliche Einschränkungen ergeben. Mitunter wären sie mit Blick auf Verspätungen und Ausfälle gar nicht mehr planbar. Einstweilen sollten Arbeitgeber jedenfalls bei Dienstreisen mit der Bahn klarstellen, dass während dessen kein Weisungsrecht ausgeübt wird und die Arbeitnehmenden in der Gestaltung dieser Zeit frei sind.

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Axel J Klasen, Foto: Privat

Axel J. Klasen

Axel J. Klasen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei GvW Graf von Westphalen.

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