Brauchen wir noch Leader?

Leadership

Eine Firma mit 60 Beschäftigten, in der Projektpalette ist von kleinsten bis hin zu großen Aufträgen für Unternehmen und Hotelketten alles dabei. Führungskräfte? Gibt es nicht, lediglich einen Geschäftsführer, den braucht es allein aus rechtlichen Gründen. Die Rede ist nicht von einem Start-up in Berlin-Friedrichshain, sondern von einer Glasbau-Manufaktur in Waghäusel, Baden-Württemberg. Das Kerngeschäft der Firma Heiler: Glasduschen, Raumteiler aus Glas, echtes Handwerk. Seit 2014 treffen bei Heiler die Mitarbeitenden alle Entscheidungen, auch die großen strategischen. „Je wichtiger die Entscheidung, desto mehr Menschen sind daran beteiligt“, sagt Stephan Heiler, Geschäftsführer des Familienbetriebs und die einzige formale Führungskraft. Wobei das „klassisch” sich allein auf den Titel nach außen beschränkt – nach innen lebt Heiler das Versprechen, dass alle in sämtliche Entschlüsse eingebunden werden und er seine formale Macht nicht anwendet.

Immer mehr Unternehmen hinterfragen klassische Hie­rarchiegefälle und versuchen sich in neuen Arbeitsmethoden und -strukturen. Doch wie viel Führungsverantwortung lässt sich tatsächlich auf jeden einzelnen Menschen übertragen? Und kommt die neue Arbeitswelt wirklich ganz ohne Führungskraft aus?

Die Antwort: Ganz ohne geht es nicht – aber es geht ganz anders als gewohnt. Stephan Heiler kennt beide Seiten. Er hat die Entstehung vom Einmannbetrieb unter seinem Vater Alois bis hin zum heutigen Unternehmen erlebt. Heiler junior stieg 1997 in den Familienbetrieb ein, damals im Marketing. Zu dieser Zeit gab es auch bei dem Mittelständler noch Hierarchien. Der Betrieb entwickelte sich weiter, Stephan Heiler baute den Vertrieb mit auf, übernahm die Leitung – und merkte schnell, dass klassische Führung für ihn nicht richtig funktioniert. Nach langer, teils verzweifelter Suche nach alternativen Führungsmethoden stieß er auf New-Work-Konzepte, selbstorganisierte und selbstverantwortliche Teams, agiles Arbeiten. 2010 kam sein Vater auf ihn zu: Im kommenden Jahr, zum 60. Geburtstag, wolle er den Staffelstab an seinen Sohn übergeben. Für Stephan Heiler war klar: „Es ist ungesund, alles auf eine Führungskraft zuzuschneiden – egal wie gut sie ist.“ Als neuer Geschäftsführer wollte er deshalb sein gewonnenes Wissen ins Unternehmen einbringen.

Alles andere als einfach

Ein erster Versuch, eine Arbeitsgruppe mit den damals noch bestehenden Führungskräften im Unternehmen zu gründen, scheiterte – fünf der sieben Beschäftigten in Leitungspositionen hatten daran kein Interesse. Stephan Heiler jedoch gab nicht auf und machte einen Schritt auf die gesamte Belegschaft zu. „Ich habe meine Vision erklärt und gesagt, dass ich die Firma Heiler zu einem selbstgesteuerten Unternehmen entwickeln möchte, gemeinsam mit allen Beteiligten – und mich selbst als Geschäftsführer entsprechend zurücknehme“, sagt er. Damit war das Eis gebrochen und aus der Belegschaft kam viel Zuspruch – die Motivation, neue Konzepte zu entwickeln und umzusetzen, war da. Von den Führungskräften aus dem ersten Arbeitskreis verließen schließlich fünf das Unternehmen. Heute arbeitet man bei Heiler mit selbst entwickelten Entscheidungsprozessen. Führungsaufgaben fallen auch weiterhin an – allerdings werden sie mittlerweile von allen mitgetragen. Klassische HRler und Personalerinnen gibt es bei Heiler nicht. Allerdings gibt es eine Person, die sich um einen kontinuierlichen Recruiting-Prozess bis zur Bewerbung kümmert. Danach entscheiden die Teams eigenverantwortlich, wer zum Gespräch und zu Schnuppertagen eingeladen wird. Auch die Entscheidung für oder gegen eine Einstellung verantworten die Teams.

Konzerne brauchen Führung

Nun ist das Glasbau-Unternehmen ein kleiner Betrieb, weit entfernt vom großen Dax-Konzern mit mehreren Tausend Angestellten. „Ob es Führungskräfte braucht, hängt stark von der Unternehmensgröße ab“, sagt Lara Keromosemito, Unternehmensberaterin aus Köln. Sie berät vor allem Konzerne – und weiß: „Hier braucht man Führungskräfte definitiv, und zwar immer dann, wenn es schwierig wird oder schnell gehen muss.“ Ihr Fazit: Je größer der Konzern oder sein Angebot, je stärker der Druck, desto wichtiger ist es, dass es Menschen gibt, die die Fäden in der Hand halten. „Das schließt allerdings nicht aus, dass auf Team-ebene viel in Selbstverantwortung gearbeitet wird“, ergänzt Keromosemito.

Ähnlich läuft es bei Tech-Giganten wie Google oder Spotify. Auch hier arbeiten viele der Teams selbstorganisiert und -verantwortlich. Gleichzeitig gibt es einen Überbau, der mit stärkeren Hierarchien auskommt. „Das ist nichts, was sich widerspricht“, sagt Bastian Wilhelms, Teil der operativen Geschäftsleitung des Internettelefonieanbieters Sipgate. „Es geht darum, die nötige Klarheit zu erzeugen, die es Teams ermöglicht, eigenständig und selbstverantwortlich arbeiten zu können.“ Die Umschreibung trifft auch auf Wilhelms’ eigene Rolle zu. Sipgate arbeitet seit fast zwölf Jahren als agile, dezentrale Organisation. Seine Aufgaben als Geschäftsleiter: das Kundenportfolio im Blick halten und prüfen, welche Arten der Organisation sich sinnvoll für welche Phase eines Produkts verwenden lassen. Das neue Arbeitskonzept entstand aus einer Art Selbsterhaltungstrieb heraus. Denn 2009 stellte man fest: Mit jeder neuen Arbeitskraft, die zur Organisation kam, wurde das gesamte Unternehmen unproduktiver. „Das war für uns ein ziemlich einschneidendes Erlebnis“, erinnert sich Wilhelms. Die Geschäftsleiter trommelten die damals 60 Leute zusammen und schilderten das Problem – verbunden mit der Bitte um Lösungsvorschläge.

Nach einigen gescheiterten Lösungsansätzen kam tatsächlich einer der Beschäftigten auf Wilhelms zu und wies ihn und sein Kollegium auf einen Artikel zu agilen Arbeitsweisen hin. „Wir haben uns zu dem Thema informiert und weitergebildet und mit einem ersten Team in neuer Arbeitsweise gestartet“, sagt Wilhelms. Der Erfolg zeigte sich schnell: Das Team war das einzige, das mit Freude zur Arbeit kam; schnell wollte auch der Rest des Unternehmens agil und selbstverantwortlich arbeiten.

Selbstverantwortlich glücklich

Mit dem Kultur- und Strukturwandel ist Sipgate gewachsen: Mittlerweile hat das Unternehmen 280 Beschäftigte, Tendenz steigend. „Grundprinzip bei uns ist heute, dass 98 Prozent aller Entscheidungen in einem Team selbst gefällt werden können“, erklärt Wilhelms. Eine Rücksprache mit der Geschäftsleitung ist nur selten nötig. So lässt sich das Nadel­öhr umgehen und effizienter und mit mehr Gestaltungsspiel arbeiten. Wilhelms betont, genau wie Stephan Heiler, dass natürlich nicht immer alles rundläuft und es weiterhin Mitarbeitende gibt, die den New-Work-Methoden skeptisch gegenüberstehen. „Alle müssen Führungsaufgaben übernehmen – auch unangenehme, wie Entwicklungsgespräche mit anderen führen oder sich von Personen trennen“, sagt Wilhelms. Die Aufgaben sind nicht einfach und nicht alle haben Lust darauf – aber sie gehören dazu. HR-Aufgaben übernimmt bei Sipgate das Team Nur Gutes. Hauptaufgabe: Sie unterstützen die Teams beim Peer Recruiting – die Teams stellen also grundsätzlich selbst ein. Aufgaben wie Active Recruiting und die Organisation von Vorstellungsgesprächen liegen jedoch bei Nur Gutes, allerdings immer in enger Kooperation mit den jeweiligen Teams.

Gerade wenn Beschäftigte gekündigt werden sollen, ist das ohne Führungskraft heikel. „Besonders in Fällen, wo Budget gekürzt wird und Stellen gestrichen werden müssen, ist es kaum möglich für ein Team, selbst zu entscheiden, wer gehen muss“, sagt Führungsexpertin Keromosemito. Und: Ihrer Meinung nach reicht es nicht, die Strukturen und Prozesse in einem Unternehmen zu verändern, der eigentliche Wandel muss in den Köpfen der Leute stattfinden. Entscheidungen abzugeben, ein Bedürfnis nach Sicherheit, der Wunsch, Verantwortung an eine Führungskraft abzutreten – all das ist tief in vielen Beschäftigten verankert. „Es ist wichtig, Menschen zu befähigen, einander auf Augenhöhe zu begegnen und ihre Impulse zu kontrollieren“, sagt Keromosemito. Damit meint die Expertin Bedürfnisse wie „Gib mir Sicherheit, Klarheit, sorge für Gerechtigkeit“. Nur wenn Menschen wirklich selbstwirksam denken und handeln können, verschwinden Hierarchien auch in ihren Köpfen.

Trotz aller Herausforderungen kann sich Stephan Heiler das Arbeiten nicht mehr in einem anderen Kontext vorstellen. „Für mich ist diese selbstorganisierte und -verantwortliche Art des Arbeitens die einzig gesunde Form“, sagt Heiler. Mit dieser Einstellung ist er nicht allein. Mittlerweile kommen Fachkräfte auf ihn und sein Unternehmen zu, weil sie genau diese Form der Arbeit schätzen. Einige haben kein Interesse an klassischen Führungsrollen. So hat sich eine neue Mitarbeiterin aktiv dagegen entschieden, eine Führungsposition im Vertrieb bei ihrem alten Unternehmen anzunehmen. Stattdessen bewarb sie sich bei Heiler. Der Grund: die geteilte Verantwortung und die hohe Selbstwirksamkeit, die im agilen System möglich sind.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Leadership. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Lilian Fiala, Redakteurin bei Wortwert

Lilian Fiala

Lilian Fiala ist Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert.

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