Büro mit Weitblick

Workation

Eine Wiese mit Pinien und Zypressen statt einer kahlen Wand mit Holzregal: Zwei Wochen lang wird Juliane Seack dieser Hintergrund begleiten. Immer wieder wird sie erklären, dass es kein virtueller Hintergrund ist, den man im Videocall sieht, sondern ein echter: Sie sitzt mit ihrem Laptop im Garten des Casale del Gallo, einem Anwesen rund 20 Kilometer südlich von Rom. Seack ist Head of People Development und eine von 30 Mitarbeitenden der PR-Agentur Piabo, die in Italien erproben, was als Trend aktuell die Arbeitswelt zu revolutionieren scheint: Workation.
Die Wortschöpfung aus „Work“ und „Vacation“ verbindet zwei Dinge, die eigentlich nicht zusammengehören: Arbeit und Urlaub. Laut Internationaler Tourismusmesse ITB ist es ein Trend des Jahres 2022. 23 Prozent der Befragten können sich laut Erhebung des Anbieters Holiday Extras vorstellen, ihre Arbeit mit dem Urlaub zu verbinden. Den Weg bereitet für diesen Trend haben die Auswirkungen des Coronalockdowns: das Arbeiten von zu Hause aus. Laut einer Umfrage des Verbands Bitkom wollen knapp neun von zehn Erwerbstätigen mindestens teilweise weiterhin im Homeoffice arbeiten. 71 Prozent sagen, mobiles Arbeiten sollte stärker genutzt werden. An diesem Punkt kommt Workation ins Spiel: Die Arbeit kommt mit an den Urlaubsort. Das kann in Deutschland sein oder im Ausland, wo immer Erholung und Abwechslung lockt.

„Aus dem Fenster geschaut: Regen, Leute mit schlechter Laune, Deutschland. Ins Internet geschaut: günstige Flüge, Kolleg:innen mit Bock, Workation gebucht. Hola, Las Palmas!“, twittert Andreas Weck im Februar. Eine Woche arbeitet der Journalist mit einem Vierer-Team auf Gran Canaria. Sie teilen sich eine Wohnung, eine Küche und einen Esstisch, den sie zum Arbeitsplatz umfunktionieren, einen Garten mit Terrasse, Pool und Hund. Es ist bereits am Morgen 18 Grad warm. Weck trinkt Kaffee im Garten, eine Kollegin pflückt Papayas und Guaven vom Baum. Jeder startet auf seine Weise in den Tag. Bis sich alle um 9:30 Uhr treffen – zur Redaktionskonferenz mit dem Team in Deutschland.

Weck ist Ressortleiter für Arbeitsthemen bei t3n, der Plattform und dem Magazin für digitale Wirtschaft. Das Konzept Workation kennt er, eine Kollegin hat es über Monate genutzt, ist durch Osteuropa gereist und über die Kanarischen Inseln. Der Verlag hinter t3n sitzt in Hannover. Um Arbeitskräfte zu gewinnen, habe er bereits vor Jahren eingeführt, dass Mitarbeitende drei Tage die Woche remote arbeiten dürfen, sagt Weck. Mit Corona fielen die letzten Büropflichttage. Heute können Mitarbeitende frei entscheiden, wo sie wohnen und wirken wollen. Der Verlag schaffe die Möglichkeit, das zu realisieren.

Wegbereiterin für Workation

Professionelle Workation-Angebote versprechen einen guten Arbeitsplatz und schnelles Internet. Diese Angebote gibt es mittlerweile bei etlichen Reiseanbietern, ob bei Aldi oder Tui, die Mitarbeitenden in den eigenen Hotels Rabatte bietet. Expedia hat mit Work from Here eine Plattform eingerichtet, die Unterkünfte vermittelt und bei der Planung helfen soll. Workation.de hat eine kleine Übersicht über Co-Working-Space und Hotels, ob in Mecklenburg-Vorpommern oder Bali. Der Shooting-Star der Branche ist aber Selina: ein Start-up aus Panama, das Co-Working-Plätze in 145 Destinationen weltweit listet und über 100 Millionen US-Dollar Startkapital eingesammelt hat.

Kündigungswelle und Wettbewerbsvorteil

Mitte November im nasskalten Berlin. Drei Piabo-Kolleginnen sitzen zusammen, seit eineinhalb Jahren arbeiten sie vorwiegend remote. Es wäre toll, sich mal wieder zu sehen, arbeiten wie vor der Pandemie. Warum nicht an einem Ort, an dem es wärmer und sonniger ist, an dem man draußen sitzen und zusammen etwas erleben kann? Aus der Idee wird ein Konzept, das Casale del Gallo der perfekte Ort: Es hat einen Garten, zwei Pools, drei Häuser, 15 Schlafzimmer. Es gibt mehrere Wohnzimmer, Esszimmer und Arbeitsplätze, drinnen und draußen. Es ist ländlich und trotzdem zentral, von Deutschland aus fährt ein Nachtzug nach Rom. 30 der 110 Angestellten wollen laut Umfrage mitfahren. Sie teilen sich in zwei Gruppen für jeweils zwei Wochen auf. Die Agentur bezahlt die Unterkunft. Den Rest tragen die Reisenden selbst. So startet Ende März das Workation-Projekt von Piabo.

„Die Pandemie hat allen viel abverlangt“, sagt Agenturpersonalchefin Seack. Mobile Arbeit sei in der Agentur längst etabliert, bis zu drei Monate können Mitarbeitende auch aus dem Ausland in Anspruch nehmen. Es habe sich durchgesetzt, dass es irrelevant sei, wo jemand arbeite, das Vertrauen sei da: „Es gibt eine intrinsische Motivation, den eigenen Job gut zu machen. Das ist unabhängig davon, ob die Person zu Hause sitzt oder in einem Landhaus in Italien.“

Knapp die Hälfte der Arbeitnehmenden in Deutschland würde gerne ab und zu von einem anderen Ort aus arbeiten. Das zeigt eine Studie von Expedia aus dem Jahr 2021. Ein Drittel sagt, es würde sie entspannter und glücklicher machen, fast ebenso viele geben an, produktiver zu sein. Laut einer Umfrage von EY würde mehr als die Hälfte der Beschäftigten kündigen, wenn ihnen nicht die nötige Flexibilität geboten wird. Das Phänomen der Great Resignation zeigt, wie signifikant die Kündigungsrate steigt: Allein in den USA haben im Jahr 2021 48 Millionen Menschen ihren Job hingeschmissen. Privates wird wichtiger, der Job muss passen. Und so entwickeln immer mehr Unternehmen Richtlinien, die flexible Arbeit ermöglichen.
Vodafone ist eines von ihnen. Es hat im Oktober 2021 das Full Flex Office eingeführt: Zeit und Ort können Angestellte in Deutschland frei wählen, solange es in den betrieblichen Ablauf passt und mit Führungskraft und Team abgestimmt ist. Mit Full Flex EU sind bis zu 20 Tage pro Jahr im EU-Ausland möglich. Es gibt klare Rahmenbedingungen und Prozesse, um Anträge zu stellen. Über 700 Personen hätten das Angebot bisher genutzt und über 5.000 Tage gebucht. Vodafone spricht von einem „Alleinstellungsmerkmal“. „Das Thema Flexibilisierung beziehungsweise Flexibilität ist für uns als Kommunikationskonzern zentral“, sagt Felicitas von Kyaw, Geschäftsführerin Personal und Arbeitsdirektorin.

Mehr Freiräume, weniger Neid

Vodafone sei am Anfang einer Reise, bei der es darum gehe, Konzepte für moderne Arbeitswelten zu entwickeln. Workation sei ein Teil davon, stehe aber nicht im Vordergrund. Von Kyaw zufolge geht es darum, Mitarbeitenden die Möglichkeit zu geben, auch außerhalb des Urlaubs einen Tapetenwechsel zu erleben oder Zeit mit der Familie zu verbringen, die im EU-Ausland lebt. „Wir wollen Menschen die Freiräume bieten, Berufliches und Privates zu verbinden, und ein moderner Arbeitgeber sein“, sagt sie.

Für einen Konzern wie Vodafone ist das leichter: Die meisten Berufe funktionieren remote. „Es sind bei uns unter zehn Prozent, bei denen mobiles Arbeiten und Full Flex aus dem EU-Ausland nicht klappt. Das ist den betreffenden Mitarbeitenden bewusst. So wissen beispielsweise Techniker, die beim Kunden die Signalqualität messen oder ein Modem installieren, dass sie vor Ort sein müssen. Das ist diesem Beruf immanent“, sagt von Kyaw. Zu Neid innerhalb der Belegschaft führe das ihrer Erfahrung nach nicht.

Bei der Schweizer Bahn (SBB) war das anders: CEO Vincent Ducrot pfiff Angestellte im letzten Sommer zurück, die ihr Homeoffice ins Ausland verlagert hatten. Er grenzte die Option zur Telearbeit ein. Hubert Giger, Präsident des Schweizer Lokführerverbands, mahnte, dass es zu einer Spaltung führe, wenn sich ein Teil des Personals zurückziehe, während das Gros täglich ortsgebunden im Einsatz sei. Ein Argument, das mobile Arbeit per se betrifft. Workation verstärke den Konflikt, so die Kritiker. Belegen lässt sich das nicht.

Neue Wege des Arbeitens

Ivo Anderegg arbeitet in Spanien, hat sein mobiles Büro aber in der Schweiz eingerichtet, um mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Sanna Väre hat es von minus 20 Grad in Finnland nach Lanzarote verschlagen, wo sie sich um E-Commerce kümmert und mittags in den Pool springt. Andrew Neville-Davies arbeitet statt in England in Marokko, um mit seiner Frau zu verreisen, die noch mehr Resturlaub hat als er. Nur mit Workation konnten sie die Reise nach Marrakesch realisieren.

Alle drei Personen arbeiten bei Tui. Der Konzern ermöglicht mobile Arbeit ganzjährig und mit Tui Workwide an 30 Tagen im Jahr weltweit. Das Programm ist Teil der Initiative Tui Way of Working, die vor einem Jahr gestartet ist. Der Konzern habe sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie Angestellte künftig arbeiten wollen, sagt HR-Direktorin Kathrin Harteneck. Beruhend auf Vertrauen und Flexibilität habe mobile Arbeit während der Pandemie wunderbar geklappt, daran möchte Tui festhalten. Nur war vorher nicht immer bekannt, ob jemand im Ausland arbeitet oder daheim. Das Programm gibt Rechtssicherheit und Richtlinien, die für alle im Konzern gelten.

Interview

Pragmatische Lösungen

Sarah Klachin ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht bei der internationalen Wirtschaftskanzlei Pinsent Masons. Sie gibt Tipps für den sicheren Umgang mit Workation.

Sarah Klachin ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht bei der internationalen Wirtschaftskanzlei Pinsent Masons. Sie gibt Tipps für den sicheren Umgang mit Workation.
© Pinsent Masons

Zum Interview

Regeln für die Erreichbarkeit

Im Vergleich zu anderen Großunternehmen sind 30 Arbeitstage viel, erst recht weltweit. „Wir wollten mutig sein und nicht mit einer Ausschlussliste an den Start gehen“, sagt Harteneck. Da Tui global operiert und eine internationale Belegschaft hat, wäre eine Beschränkung auf Europa ohnehin sinnlos. CEO und Vorstand arbeiten seit Jahren weltweit. Das Programm ist eine gute Werbung für den Reisekonzern, der bei seinem Way of Working mit dem Slogan auftritt „Arbeit ist etwas, das wir tun, und nicht, wo wir hingehen“.

7.200 Tage wurden bisher bei Tui Workwide von 800 Mitarbeitenden in Anspruch genommen. Die meisten Anträge kommen aus Deutschland. Im Prinzip ist alles möglich, was den Kriterien entspricht und sich mit der Führungskraft und dem Team vereinbaren lässt. Dazu gehört die Erreichbarkeit auch bei großem Zeitunterschied und ein gut funktionierendes Internet. „Wir machen deutlich, was die Voraussetzungen sind, und würden im Zweifel darauf bestehen, dass jemand zurückkommt, wenn etwas nicht funktioniert“, sagt Harteneck.

So wie bei t3n auf Gran Canaria: Als eine Wolke über das Haus zieht, ist plötzlich alles weg. Das Bild ruckelt, die Stimme bricht ab. Andreas Weck fliegt aus der Online-Konferenz. Er sitzt mit Laptop am Pool, eine Kollegin am Esstisch im Haus. Dann herrscht Funkstille. Mit der Wolke verlieren sie das Internet. So klappt das nicht mit dem Arbeiten im Garten. Ab sofort werden sie sich um das Haus zentrieren, am Pool nur sitzen, wenn sie kein Netz brauchen, und morgens zu viert in nur einen Laptop schauen, um an der Redaktionskonferenz teilzunehmen.

„Wir haben die Arbeitsbedingungen vor Ort zu positiv gesehen“, sagt Weck. Ein Esstisch mit Holzstühlen als provisorischer Arbeitsplatz, ein Satelliteninternet, das zusammenbricht und den Bewegungsradius eingrenzt: Beim nächsten Mal würde er in einen Co-Working-Space gehen. „Unsere Reise war eben sehr spontan. Im Nachhinein vielleicht etwas zu spontan.“

Checkliste

Produktiv statt Burnout

Wie sich Workation auf die Leistung auswirkt, hat Capgemini Ende 2020 erfragt: 63 Prozent der Führungskräfte sagt, dass mobile Arbeit die Produktivität steigere. Über die Hälfte der Mitarbeitenden befürchtet aber, durch die Entgrenzung von Beruflichem und Privatem auszubrennen. Die Geschäftsergebnisse während der zurückliegenden Lockdown-Zeit seien gut, sagt von Kyaw. Aber auch die Zufriedenheit sei durch das Full Flex Office hoch, der Krankenstand überschaubar. Das Angebot, völlig flexibel auch vom Ausland aus zu arbeiten, müsse in beide Richtungen funktionieren: „Am Ende geht es darum, Ergebnisse zu erzielen. Es ist ein Geben und Nehmen.“

Dass Andreas Weck seine Leistung bringt, zeigt sich in jeder Redaktionskonferenz. „Die Arbeitsabläufe waren ähnlich wie in Deutschland. Die Atmosphäre aber war anders“, sagt er. „Nach einer Stunde fokussierter Arbeit, bin ich glücklich aufgestanden, meinen Kaffee in der Hand, habe den Blick schweifen lassen und mir gedacht, wie toll es ist, dass ich hier arbeiten darf.“ 80 Prozent des Tages hat Weck draußen verbracht, im Garten, am Pool oder auf der Terrasse. In den Pausen konnte er sich austauschen, Strategien diskutieren oder Texte reflektieren. Etwas, das im Homeoffice so nicht funktioniert.

„Zwei Wochen ohne familiäres Grundrauschen haben mir als Mutter gutgetan“, sagt Piabo-Personalerin Seack. Die Arbeit sei genauso gut erfolgt wie daheim, nur etwas leichtfüßiger. Sie habe sich zur Gruppe gesetzt oder einen Couchtisch in den Garten gestellt, um vertrauliche Gespräche zu führen. Sie habe eine andere Beziehung zu den Kolleginnen und Kollegen aufgebaut und ihre Unterschiedlichkeit mehr kennen- und schätzen gelernt. „Das bleibt. Und die Erinnerung an das entspannte Gefühl, die ich mir ins Gedächtnis rufe, wenn es wieder stressig wird.“

Teambuilding ist nur ein Nebeneffekt der Workation. Die Arbeitsthemen und -abläufe bleiben gleich. Das unterscheidet es vom Offsite. Der soziale Aspekt ist es, was für Felicitas von Kyaw etwas anderes wiederbelebt: das Büro. „Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wir müssen Büros so denken, dass sie Begegnungen und Miteinander ermöglichen.“ Letztendlich sollen Mitarbeitende also selbst entscheiden, wo sie am besten arbeiten können. Ob zu Hause, unter Pinien oder im Büro: Bekanntlich führen viele Wege nach Rom.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Humor. Das Heft können Sie hier bestellen.

Unsere Newsletter

Abonnieren Sie die HR-Presseschau, die Personalszene oder den HRM Arbeitsmarkt und erfahren Sie als Erstes alles über die neusten HR-Themen und den HR-Arbeitsmarkt.
Newsletter abonnnieren
Mirjam Stegherr, Journalistin, Moderatorin und Beraterin

Mirjam Stegherr

Freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin
Mirjam Stegherr ist freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin.

Weitere Artikel