Mittagspause. Während seine Teammitglieder bereits in den Pausenraum vorgegangen sind, holt sich Janosch Franke, Leiter der Verbandskommunikation und Pressesprecher des Berliner Fußballverbandes, sein vorgekochtes Essen aus dem Kühlschrank. Am Platz zückt er sein Smartphone und eine Notiz-App. Sieben Broteinheiten. Er stellt den Wert in seinem Insulinpen ein und spritzt sich die entsprechende Menge des lebensnotwendigen Wirkstoffes in den Bauch. Dann steht er auf und geht zu seinem Team. Endlich kann er Mittagessen.
Alles auf den Kopf gestellt
Janosch Franke erhielt die lebensverändernde Diagnose Diabetes Typ 1 im Alter von 29 Jahren. „Als mir meine Ärztin das mitteilte, wusste ich noch gar nicht, welche Konsequenzen das schlussendlich haben wird“, erinnert er sich. Ein Leben lang muss er sich nun vor jeder Mahlzeit Insulin spritzen, sonst sammelt sich Zucker im Blut an. Eine zu hohe Zuckerkonzentration führt zu einer Reihe von Beschwerden, an deren Ende das lebensgefährliche diabetische Koma steht. „Kognitiv ist man sehr gefordert“, sagt Franke. Denn: Die Insulindosis und den Zeitpunkt der Injektion rechnet er basierend auf der Kohlenhydratmenge und abhängig von anderen Faktoren wie der Zusammensetzung der Nahrung aus Eiweiß und Fetten, Stress und körperlicher Belastung aus. Mittlerweile ist er gut eingestellt und trägt einen Sensor unter der Haut. Dieser sendet ihm alle fünf Minuten einen aktuellen Gewebezuckerwert auf eine App – im Alltag eine große Erleichterung. Seinem Arbeitsalltag kann er inzwischen grundsätzlich fast wie zuvor nachgehen.
Diabetes ist nicht gleich Diabetes
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) geht in ihrem Gesundheitsbericht 2022 davon aus, dass jährlich 565.000 Menschen in Deutschland an Diabetes mellitus erkranken. Die Tendenz ist weltweit steigend. Derzeit leben in Deutschland um die 8,5 Millionen Diabeteserkrankte, dies entspricht in etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Und auch hier steigen die Zahlen: Diabetes ist eine Volkskrankheit. Dieser Status birgt jedoch einige Fallstricke, wie die Neigung zur Verallgemeinerung. Um die 95 Prozent der Erkrankten leiden an Diabetes Typ 2. Neben einer genetischen Veranlagung begünstigen Risikofaktoren die Erkrankung, dazu zählen beispielsweise Bewegungsmangel, eine unausgewogene Ernährung oder psychische Belastungen. Anders ist es beim Typ-1-Diabetes, hier handelt es sich um eine unheilbare Autoimmunerkrankung. Sie kann im Verlauf des Lebens jederzeit und unvermittelt ausbrechen. Die Diagnose ist in den meisten Fällen für die Erkrankten ein Schock, verbunden mit vielen Zukunftsfragen.
Diabetes – eine Erkrankung der Bauchspeicheldrüse
Diabetes Typ 1
- Autoimmunerkrankung
- häufig im Kindes- und Jugendalter beginnend
- notwendige Gabe von Insulin
- nicht heilbar
Diabetes Typ 2
- eintretende Insulinresistenz
- tritt häufig im fortgeschrittenen Alter auf
- verschiedene Therapiemöglichkeiten
- kann mittels Ernährungsumstellung, Stressreduktion und Sport oft ohne Medikamente behandelt werden
Weitere Formen:
- Schwangerschaftsdiabetes
Es gibt keine Standardlösung
„Betroffene fragen sich vor allem, ob sie ihren Beruf weiterhin ausüben können“, berichtet Eric Bayerschen, ehrenamtlicher Sozialreferent der Deutschen Diabetes Föderation (DDF). Er informiert auf Anfrage mit weiteren von der DDF qualifizierten ehrenamtlichen Sozialreferent*innen Diabeteserkrankte bei allen Fragestellungen rund um sozialrechtlichen Alltag, so auch zum Umgang mit der Erkrankung am Arbeitsplatz. Reiner Hub, Leiter des Arbeitskreises Soziales und der Sozialreferent*innen bei der DDF, erklärt: „Solange keine Folgeerkrankungen vorliegen und Betroffene gut eingestellt sind, sind die Einschränkungen im Arbeitsalltag meist sehr gering.“ Der Hauptgrund dafür liege vor allem bei dem meist sehr guten Selbstmanagement der Diabetikerinnen und Diabetiker. „Trotzdem wird dieser Punkt in der Öffentlichkeit oft falsch wahrgenommen und Vorurteile, wie der oft angeführte Dachdecker, der vom Dach fällt, halten sich hartnäckig“, schildert Hub. Fragen nach der Arbeitsfähigkeit müssen immer individuell beurteilt werden. Empfehlenswert sei es zudem für betroffene Mitarbeitende, bei einer Arbeitsmedizinerin oder beim Betriebsarzt konkret eine persönliche Gefährdungsbeurteilung für den eigenen Arbeitsplatz erstellen zu lassen. Dass Menschen, die an Typ-1-Diabetes erkrankt sind, ein erhöhtes Unfallrisiko im Job haben, konnten bisherige Studien übrigens nicht feststellen. Dazu erinnert Hub: „Es gibt auch generell keine Beschäftigten ohne Unfallrisiko.“
Es braucht ein besonderes Vertrauen
„Arbeitgeber können nicht grundsätzlich damit rechnen, dass Betroffene ihre Erkrankung offenlegen“, sagt Bayerschen. Viele Beratungsstellen würden Betroffenen davon sogar gänzlich abraten.
Insbesondere im Bewerbungsverfahren seien Fragen nach der Gesundheit der Bewerbenden sowieso unzulässig. Es sei denn, es liege eine hohe Eigen- oder Fremdgefährdung bei der angestrebten Tätigkeit vor. „Der Führungskraft oder den Teammitgliedern von der Krankheit zu erzählen, erfordert immer ein besonderes Vertrauensverhältnis und ist eine persönliche Entscheidung“, fügt er hinzu. Doch zumindest den engsten Kollegen und Kolleginnen von dem Diabetes zu erzählen, sei ratsam. So könnten sie im absoluten Notfall, wie einer Unterzuckerung, zielgerichteter helfen.
Auch Janosch Franke erzählte seinem Team von der Diabetes-Diagnose. Angst, sich vor seinen Teammitgliedern auf diese Art verletzlich zu zeigen, hatte er keine. „Ich weiß nicht, ob das anders wäre, wenn ich ein größeres Team führen würde oder wir insgesamt ein distanzierteres Verhältnis hätten“, gibt er zu bedenken. „Generell habe ich aber nicht den Eindruck, dass sich dadurch im Teamgefüge etwas verändert hat oder meine Teammitglieder denken, dass ich meine Führungsrolle nicht mehr ausüben könnte.“ Mit seiner direkten Kommunikation wollte er Sorgen und Irritationen vorbeugen: „Bevor ich jedes Mal heimlich auf der Toilette verschwinde, um Blutzucker zu messen oder Insulin zu spritzen, habe ich es lieber vorweggegriffen und meine Teammitglieder offen gefragt, ob es für sie beispielsweise in Ordnung wäre, wenn ich mich auch mal im Büro spritze.“
Wie Arbeitgeber unterstützen können
„Sobald an Diabetes erkrankte Menschen von ihrer Krankheit erzählen, ist es für Arbeitgeber oder Vorgesetzte das Beste, die Betroffenen direkt zu fragen, ob sie Unterstützung benötigen – etwa bei Arbeitsmitteln oder einer flexibleren Pausengestaltung“, sagt Reiner Hub. „Dies trifft aber auf alle chronischen Krankheiten zu.“ Hilfreich seien zudem Rückzugsorte, wo sich Betroffene in Ruhe Insulin spritzen oder ihren Blutzucker messen könnten, sowie kühle Lagermöglichkeiten für das Insulin, wenn die Raumtemperatur für einen längeren Zeitraum über 25 Grad liegt. Während das Injizieren von Insulin für Diabetes-Typ-1-Erkrankte lebensnotwendig ist, stellt sie bei der Variante Diabetes Typ 2 häufig nur die allerletzte Behandlungsmöglichkeit dar. Mit einer Anpassung des Lebensstils kann diese Form der Krankheit sogar in Remission gehen. Durch die Risikofaktoren wie ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel liegt hier ein hohes Präventionspotenzial, auch am Arbeitsplatz. So empfiehlt zum Beispiel die Krankenkasse IKK Arbeitgebern die Einführung betrieblicher Gesundheitstage, ein ausgewogenes Ernährungsangebot in der Kantine, Betriebssport sowie regelmäßige Gesundheitschecks.
Hilfreiches für die Arbeitsplatzgestaltung
- Rückzugsmöglichkeiten zur Blutzuckermessung oder Insulinzugabe
- kühle Lagermöglichkeit für Insulin
- Notfallset an Traubenzucker und Glukagon
- Infos für enge Teammitglieder: Symptome einer Unterzuckerung sowie Vorgehen bei einem Notfall
- Küchenausstattung: Mikrowelle, Küchenwaage, Kochstelle
- Arbeitskleidung: Diabetikersocken oder spezielle Sicherheitsschuhe
- Veranstaltung von Informations- und Präventionstagen
- Ausgewogene und gesunde Essensoptionen in der Kantine anbieten
- Angebot von Betriebssport oder Diensträdern
Verständnis für kurze Arbeitszeitunterbrechungen: Blutzuckermessen und Aufnahme von schnellwirksamen Kohlenhydraten sowie Injizieren von Insulin nimmt nur wenige Sekunden bis Minuten in Anspruch und stellt die Arbeitsfähigkeit sicher.
„Ein Diabetes kann vor allem bei längerer schlechter Blutzuckereinstellung Folgeerkrankungen mit sich ziehen. Sobald Mitarbeitende aufgrund ihrer Krankheit länger ausfallen, greift dann das betriebliche Eingliederungsmanagement“, erklärt Reiner Hub. Doch obwohl Diabetes, insbesondere Typ 1, immer noch eine lebensverändernde Diagnose ist, haben sich die Therapiemöglichkeiten in den letzten Jahren erheblich verbessert: Kontinuierlich messende Gewebezuckersensoren verringern das Risiko für Unterzuckerungen (Hypoglykämie) drastisch und lassen sich sogar mit automatischen Insulinpumpen koppeln. Daher seien manche Dienstvorschriften mittlerweile veraltet, gibt Eric Bayerschen zu Bedenken. Zum Beispiel dürfen insulinpflichtige Diabeteserkrankte in Deutschland keine Personen im Flugverkehr befördern. Doch in manch anderen Ländern, wie den USA oder Großbritannien, können Menschen den Beruf der Pilotin oder des Piloten bereits seit 2012 nach ausgiebiger medizinischer Prüfung trotz Diabetes-Typ-1-Erkrankung ausführen.
Trotz verbesserter Behandlungsmöglichkeiten liegen laut dem Gesundheitsbericht der DDG aus dem Jahr 2021 immer noch „alte Denkmuster und Vorurteile“ bei Personalentscheidungen zugrunde. „Oftmals wollen Personen, die von Typ-1-Diabetes betroffen sind, unter keinen Umständen auffallen und verstecken ihre Erkrankung“, erklärt Eric Bayerschen dazu. Sie fürchten, dass Probleme durch Unwissenheit des Gegenübers entstehen oder ihnen Vorurteile begegnen. Da gebe es noch sehr viel Aufholbedarf. Ausreichende Aufklärung über die Krankheit könnte der erste Schritt sein.
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