Die Illusion der Neutralität

Interview mit Frank Kohl-Boas

Herr Kohl-Boas, wann riskieren Sie, vorschnell zu werten?

Unbewusst wahrscheinlich ständig. Denn unser Gehirn verarbeitet ohne unser aktives Steuern in jedem Moment eine unglaubliche Anzahl an Informationen und leitet daraus intuitive Verhaltensweisen und auch Werturteile ab. Kann ich die Straße noch überqueren oder fährt das Auto aufgrund meiner Erfahrungen mit Geschwindigkeiten, ohne dass ich darüber nachdenke, zu schnell? Sieht der Joghurt lecker aus, aber meine Sehnerven sagen „Achtung!“ komische Farbe, ist der Joghurt überhaupt noch essbar? Genauso schnell urteilen wir auch im Umgang mit anderen Menschen. Wenn wir jemandem in einem Bewerberinterview begegnen, nehmen wir den Händedruck, die Größe, den Dialekt, den Gang, die Kleidung, den Studien- oder Wohnort etc. wahr. Daraus bilden wir uns bewusst und unbewusst ein Werturteil, obwohl keines dieser Merkmale etwas über das Können oder das Potenzial der Person aussagt. Daher rührt der Spruch „Es gibt keine zweite Chance für den ersten Eindruck“ – und genau hier müssen wir ansetzen. Da wo wir zulassen, dass uns automatische Denkmuster, in unserem Werturteil beeinflussen können, müssen wir uns Unbewusstes bewusst machen, um Entscheidungen zu treffen, die unserem Anspruch an Diversity, Equity und Inklusion gerecht werden.

Was können wir gegen solche Denkmuster tun?

Erst wenn ich mir meines voreingenommenen Denkens bewusst werde, kann ich dieses in Frage stellen und darauf etwaig fußende Werturteile korrigieren. Die unbewussten Werturteile sind nicht per se negativ. Ein unconscious bias kann auch für die beurteilte Person positiv sein.

Zum Beispiel?

Großgewachsenen, schlanken Menschen wird zumeist mehr zugetraut als kleinen Menschen, so dass man ersteren häufig schneller Macht anvertraut. Wir assoziieren vorschnell Herkunft, Aussehen oder Kleidung mit Erfolg. Eine Studie hat die Vornamen von DAX-Vorständen untersucht. Wenn Sie die Ergebnisse sehen, müssen wir uns fragen, ob diese Namen, die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln oder aus einem sozialen Milieu kommen, dass sich selbst be- und verstärkt. Mit dem Hinterfragen derartiger Denkmuster können wir, gerade wenn wir über Diversity und Inklusion sprechen, dafür sorgen, dass wir unsere Annahmen überprüfen und anhand von konkreten Anhaltspunkten bestätigen oder revidieren. Anhand dieser eigenen Wahrnehmung kann ich dann auch hinterfragen, von welchen Biases ich selbst profitiere und durch welche ich unter Umständen benachteiligt werde.

Welche Rolle spielt diese Art von Voreingenommenheit im Personalmanagement?

Unser Wertungsprozess beginnt mit dem ersten Eindruck von einer Situation oder eines Menschen, und beeinflusst oftmals auch unbewusst unser Folgehandeln. Gerade im Recruiting kann dies zu voreiligen oder gar unfairen Entscheidungen führen. Es mag sein, dass mir eine Person sympathischer ist, weil wir unseren Abschluss an derselben Universität gemacht haben. Oder mein erster Eindruck ist negativ, weil jemand einem Ex-Partner oder einer Ex-Partnerin ähnlichsieht. Wertungen auf solchen Wahrnehmungen sind oberflächlich, diskriminierend und dürfen nicht Teil der Entscheidungsgrundlage werden, das wäre unprofessionell. Daher ist es hilfreich, den ersten Eindruck zu überprüfen, um sein Werturteil zu bestätigen oder aber zu revidieren.

Sind wir weniger voreilig, können wir unconscious biases entdecken und durch das Suchen von konkreten Anhaltspunkten oder dem Einholen vieler verschiedener Meinungen und Perspektiven eine bessere Entscheidung treffen. Im Bewerbungsverfahren bedeutet das, auf Details zu achten, die für die Besetzung einer Stelle wirklich wichtig sind.

Frank Kohl-Boas, Personal und Recht bei der Zeit-Verlagsgruppe,
© BPM

Frank Kohl-Boas verantwortet den Bereich Personal und Recht bei der Zeit-Verlagsgruppe, die unter anderem die Wochenzeitung Die Zeit herausgibt. Zuvor war er als Personalverantwortlicher für internationale Konzerne wie Google, Coca-Cola, Shell und Unilever tätig.

Auf dem diesjährigen Personalmanagementkongress wird Frank Kohl-Boas am 29. September von 15:10 bis 16:20 einen Personal Lab mit dem Titel „Wie mache ich das? Eine Einführung in das Konzeptionieren von „unconscious bias“ – Trainings für Praktiker:innen” halten.
Weiter Informationen zum PMK finden Sie hier.

 

Wie gehen Sie mit Ihren ganz persönlichen unconscious biases um?

Im Recruitment lese ich die Bewerbungsunterlagen genau und lade auch stets ein paar Personen ein, deren Bewerbung auf den ersten Blick meine Erwartungshaltung nicht treffen, mich aber neugierig auf den Menschen machen. Zweitens stelle ich grundsätzlich erst ein, wenn wir weibliche und männliche Bewerber in den Gesprächen hatten. Drittens werden die Auswahlgespräche idealerweise von Männern und Frauen, auch aus anderen als dem eigenen Fachbereich, geführt. Viertens stelle ich offene Fragen, versuche so viel wie möglich der Antwort mitzuschreiben und die Antwort zu evaluieren, damit meine Beurteilung auf konkreten Anhaltspunkten basiert. Ich treffe Einstellungsentscheidungen niemals allein, sondern im Konsens. Es geht nicht darum jemanden zu finden, den ich mag, sondern unsere Organisation mit Talenten zu verstärken.

Kann eine ganz bewusste Wertung einer Person unter Umständen auch wünschenswert sein?

Generell würde ich mir wünschen, dass wir uns in Einstellungsverfahren stets für die Person entscheiden, von der wir glauben, dass sie unsere unsere Werte teilt, unsere Unternehmenskultur mit ihren Perspektiven, Erfahrungen und Denkweisen bereichert, die Aufgabe am besten erledigt und Kompetenzen mitbringt, die ihr und uns helfen den permanenten Wandel zu gestalten. Kurz gesagt, es braucht den cultural fit. Dabei müssen wir akzeptieren, dass wir ab und an in einigen Bereichen erst eine Chancengleichheit herstellen müssen. Das kann bedeuten, dass wir Mitarbeitende nach gewissen Kriterien bevorzugen oder uns an Quoten orientieren. Sofern wir letzteres tun, geht es nicht darum, sich als ein besonders offener Arbeitgeber zu präsentieren, sondern die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zukunft der Organisation zu schaffen.

Dennoch kann der conscious bias, also eine bewusste Wertung, auch für mehr Innovation sorgen. Habe ich die Auswahl aus vier Bewerbungen, von denen drei bereits HR-Erfahrungen haben, die vierte aber noch nie etwas mit Personalmanagement am Hut hatte, dann entscheide ich mich vielleicht bewusst dafür. Von dieser Person will ich genauer wissen, warum sie sich beworben hat und was ihre Vorstellungen von und Ideen für die Personalabteilung sind. Wenn diese mich beeindrucken und die Person die richtigen Fragen stellt, bin ich von der Einstellung überzeugt. Damit kann ich meine vorige Voreingenommenheit gegenüber der Fachfremdheit tilgen.

Von welchen Erkenntnissen sind die Teilnehmenden am meisten beeindruckt?

Sich der Wirkungsweise unseres Gehirns bewusst zu werden und damit zu akzeptieren, dass wir auch bei besten Absichten unconscious biases haben, die es zu überwinden gilt, ist das, was Teilnehmende hoffentlich mitnehmen. Wertungen beruhen unter anderem auf Erfahrungswerten. Verdeutlichen lässt sich das beispielweise an unserer Sprache. Lesen wir den Satz sDa unktiforntie biewpiesslesei chsno bie äSzten iew idesen, dann sind wir in der Lage, trotz der falsch angeordneten Buchstaben einen sinnvollen Satz zu bilden. Würden wir eine Sprache lesen, die wir nicht in der Lage sind zu sprechen, ist das Formen eines aussagekräftigen Satzes unmöglich. Dies verdeutlicht auch die Gefahr des unconscious bias. Nur weil wir etwas nicht auf Anhieb verstehen oder es uns bekannt vorkommt, ist es nicht automatisch besser oder schlechter.

Unsere Newsletter

Abonnieren Sie die HR-Presseschau, die Personalszene oder den HRM Arbeitsmarkt und erfahren Sie als Erstes alles über die neusten HR-Themen und den HR-Arbeitsmarkt.
Newsletter abonnnieren
Jasmin Nimmrich, Volontärin Human Resources Manager

Jasmin Nimmrich

Volontärin
Quadriga Media GmbH
Jasmin Nimmrich war Volontärin beim Magazin Human Resources Manager. Zuvor hat sie einen Bachelor in Politik und Wirtschaft an der Universität Potsdam abgeschlossen.

Weitere Artikel