Genesen, aber nicht gesund

Coronapandemie

Timo Strotmann gehört zu den topausgebildeten jungen Talenten, die viele Unternehmen händeringend suchen. Er hat Informatik studiert, sich im Bereich künstliche Intelligenz weitergebildet und ist Softwareingenieur in einem Großunternehmen. Diesen Beruf kann er allerdings seit fast einem Jahr nicht mehr ausüben. Denn nach einer Coronainfektion Ende 2021 ist er an Long Covid erkrankt. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Coronaimpfungen erhalten, die Akutphase der Infektion verlief mild. Etwa zwei Wochen später ging es jedoch los: Der junge Mann bekam Herzrasen, Kreislaufprobleme, litt unter extremer Erschöpfung. Nachdem gängige Untersuchungen keine Ergebnisse brachten, kam die Diagnose: Es musste Long Covid sein. Vor seiner Coronainfektion war er kerngesund gewesen und hatte viel Sport getrieben.

Auf seinem Twitter-Account berichtet der heute 30-Jährige offen über seine Krankheit. Zunächst wollte er Fragen für diesen Beitrag ausschließlich schriftlich beantworten, weil Telefongespräche für ihn sehr anstrengend sind. Schließlich kam es doch zu einem Telefonat, weil es ihm an diesem Tag etwas besser ging. Besser, das bedeutet für Strotmann im Moment, dass er in der Lage ist, ein Telefongespräch zu führen oder sich einen Snack aus dem Kühlschrank zu holen. Den Großteil seiner Zeit verbringt er liegend, auch kognitive Tätigkeiten ermüden ihn schnell. „Es ist mehr ein Aushalten als ein Leben“, berichtet Strotmann.

Auch die Autorin und Journalistin Margarete Stokowski twittert seit Monaten über solche Zustände, die sie durch ihre Long-Covid-Erkrankung ertragen muss. Sie sprach im Herbst dazu auch auf einer Pressekonferenz im Rahmen der Aufklärungskampagne Ich schütze mich, mit der die Bundesregierung zeigen will, warum Infektionsschutz nach wie vor wichtig ist.

Entwickelt sich die Covid-19-Pandemie allmählich zu einer Long-Covid-Pandemie? Und was bedeutet das für Unternehmen, wenn immer mehr Beschäftigte als Folge einer Coronainfektion ihrem Job nicht mehr oder nur noch eingeschränkt nachgehen können?

Auch junge Menschen sind betroffen

Die World Health Organization geht in einer Modellrechnung derzeit von 17 Millionen Long-Covid-Betroffenen in Europa aus. Laut dem diesjährigen Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse waren knapp ein Prozent der erwerbstätigen Versicherten im Jahr 2021 wegen Long Covid krankgeschrieben, im Schnitt ganze 105 Tage. Da die Symptome von Long Covid allerdings in unterschiedlichen Schweregraden auftreten und nicht immer zur Krankschreibung führen, leiden vermutlich sehr viel mehr Menschen unter den Spätfolgen einer Coronainfektion. Jördis Frommhold, Chefärztin an der Median Klinik in Heiligendamm, war am Anfang der Pandemie davon ausgegangen, dass ungefähr zehn Prozent der ungeimpft Infizierten Symptome von Long Covid entwickelt haben. Durch die Impfung sei das etwas zurückgegangen, denn sie senke das Risiko, an Long Covid zu erkranken. Doch auch bei Durchbruchsinfektionen erkranken mindestens fünf bis acht Prozent an Long Covid, schätzt Frommhold. „Das sind immer noch extrem hohe Zahlen.“

Laut der Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften spricht man von Long Covid, wenn Symptome länger als vier Wochen nach der Akutphase einer Infektion auftreten oder fortbestehen. Post Covid beschreibt das Krankheitsbild ab der zwölften Woche. In der Praxis werden allerdings oft beide Krankheitsstadien unter dem Begriff „Long Covid“ zusammengefasst. Typische Symptome sind, laut Jördis Frommhold, Konzentrationsstörungen, Atemnot bei körperlicher Anstrengung, Schmerzen beim Atmen, Hustenreiz sowie Gelenkschmerzen, Muskelschmerzen, Herzrasen und vor allem eine ausgeprägte Fatigue, also Erschöpfung (Chronic-Fatique-Syndrom). „Dann muss ich zunächst andere mögliche Diagnosen für die Symptome ausschließen. Wenn alle Untersuchungen unauffällig sind und eine Covid-Infektion im Abstand von einem bis maximal drei Monaten vorliegt, kann ich davon ausgehen, dass die Symptomatik auf Long Covid zurückzuführen ist.“ Psychosomatische Symptome wie Depressionen können dabei durchaus dazukommen. Long Covid sei aber keineswegs eine rein psychosomatische Erkrankung, auch wenn das manche Ärzte und Medizinerinnen behaupten. „Damit tut man den Betroffenen in meinen Augen unrecht,“ findet Frommhold. Die Krankheit treffe keineswegs nur psychisch vorbelastete Personen, sondern häufig auch junge Menschen ohne nennenswerte Vorerkrankungen.

Mehr Symptombehandlung als Heilung

Jördis Frommhold und ihr Team haben seit Beginn der Pandemie Menschen mit Long Covid und Post Covid behandelt. Mit dem Institut Long Covid in Rostock hat die Chefärztin inzwischen die deutschlandweit erste Institution gegründet, die auf die Behandlung der Spätfolgen einer Coronainfektion spezialisiert ist. Ein erwiesenermaßen wirksames Medikament gibt es allerdings bisher nicht. Ziel des Instituts ist es vielmehr, Betroffene frühzeitig darüber aufzuklären, mit welchen Maßnahmen sie ihre Symptome lindern können. „Viele wissen gar nicht, dass sie selbst mit Änderungen des Lebensstils, die nicht viel kosten, Symptome verbessern können. Sie haben diese noch gar nicht versucht und wenden gleich sehr teure experimentelle Möglichkeiten wie Druckkammer oder Blutwäsche an, die meist noch nicht wirklich effektiv und auch noch viel zu wenig auf Nebenwirkungen erforscht sind.“ Bei Atemwegsbeschwerden empfiehlt Frommhold Übungen zur Dehnung und Kräftigung der Atemhilfsmuskulatur oder Ergotherapie. Bei Fatigue bieten sich verhaltenstherapeutische Ansätze an. Betroffene lernen dabei, sich ihre Energie richtig einzuteilen, um Überforderung zu verhindern. „Das ist für viele schwierig, weil Long Covid oft besonders ehrgeizige Menschen trifft, die ihren herausfordernden Alltag gemocht haben.“

Timo Strotmann hat schon unterschiedliche Therapieansätze versucht, auch wenn er sie teilweise aus eigener Tasche zahlen musste, darunter Antihistaminika, Cortison und Betablocker. „Alles, was sich Betroffene leisten können und versuchen können, versuchen sie eigentlich auch. Man hat einfach eine extrem schlechte Lebensqualität und ist verzweifelt.“ Leider habe bei ihm bislang nichts davon eine Wirkung gezeigt. Die Forschung nach einem wirksamen Medikament wird seiner Ansicht nach nicht schnell genug vorangetrieben. „Wir leben jetzt seit bald drei Jahren in der Pandemie, immer mehr Menschen bekommen Long Covid und trotzdem gibt es in Deutschland noch kaum Therapiestudien. Es wird Zeit, dass da etwas passiert.“

Auch Jördis Frommhold sieht das Problem: „Long Covid ist tatsächlich noch gar nicht so lang im Fokus der Aufmerksamkeit.“ Man sei in der Akutpandemie zu beschäftigt damit gewesen, die Infizierten in den überlaufenen Krankenhäusern zu versorgen und Impfstoffe zu entwickeln. Die bereits laufenden Therapiestudien bräuchten zudem Zeit, bis sie verwertbare Ergebnisse liefern. „Verständlicherweise sind die von Long Covid betroffenen Menschen frustriert.“ Bei manchen Personen helfe auch die Zeit, aber einfach abzuwarten, sei natürlich sehr unbefriedigend. „Doch wir haben Therapiemöglichkeiten zur Symptomlinderung, auch wenn sie noch nicht unbedingt Heilung bedeuten.“

Was Arbeitgeber tun können

Das Institut Long Covid berät auch Unternehmen zum Umgang mit an Long Covid erkrankten Mitarbeitenden. „Es ist wichtig, ein Verständnis für die Krankheit zu vermitteln“, erklärt Frommhold. „Führungskräfte wissen manchmal gar nicht, was Long-Covid-Betroffene eigentlich plagt.“ Gerade für die jungen und eigentlich sehr leistungsbereiten Menschen sei es wichtig, sie auf flexiblen Wegen wiedereinzugliedern. Das Institut Long Covid unterstützt derzeit ein Unternehmen bei der Umsetzung einer Kampagne zur Long-Covid-Prävention. Im Betrieblichen Gesundheitsmanagement wird auf das Thema aufmerksam gemacht, es werden Atemtherapien und Fatigue-Schulungen angeboten und eine Anlaufstelle für Betroffene eingerichtet: „Es ist wichtig, dass Mitarbeitende sich überhaupt trauen, mit dem Arbeitgeber über ihre Beschwerden zu sprechen.“

Um präventiv gegen Long Covid vorzugehen, ist zudem eine gesunde Unternehmenskultur gefragt: „Wer eine akute Coronainfektion hat, sollte sie nicht bagatellisieren. Mitarbeitende sollten sie auskurieren dürfen, statt im Homeoffice weiterzuarbeiten.“ Auch das könne das Risiko von Langzeitfolgen senken.

Volker Nürnberg ist Professor für Gesundheitsmanagement an der Allensbach Hochschule und Partner bei der Unternehmensberatung Bearing Point, wo er den Gesundheitsbereich leitet. Er sieht bei Long Covid vor allem die fehlende Planbarkeit als Herausforderung für Unternehmen. „Die Krankheitsverläufe sind sehr individuell und wechselnd. Es kann sein, dass ein Mitarbeiter eine Woche lang vierzig Stunden performt, aber in der Woche danach gar nicht arbeiten kann.“ Der übliche Prozess des betrieblichen Eingliederungsmanagements müsse demnach sehr viel engmaschiger sein und sich immer genau daran orientieren, wie es der Person gerade geht. Wenn sich der Zustand wieder verschlechtert oder jemand spontan einen Platz für eine Kur bekommt, müsse die Person das einschieben können, auch wenn gerade alles auf die Rückkehr zum Arbeitsplatz ausgerichtet war.

Zudem hält Nürnberg Teilkrankschreibungen für sinnvoll, für die in Deutschland bislang leider der rechtliche Rahmen fehlt. Manche Menschen schafften es zum Beispiel wegen Kurzatmigkeit nicht ins Büro, könnten aber sehr gut von zu Hause aus arbeiten. Andere können nicht mehr Auto fahren und deshalb nicht in den Außendienst, aber durchaus ins Büro kommen. „Mit einer Teilkrankschreibung könnte man einige aus der Arbeitsunfähigkeit zurückholen und damit den finanziellen Schaden reduzieren, der für die Wirtschaft entsteht. Das gilt nicht nur für Long Covid, sondern für viele Erkrankungen.“ Nürnberg wünscht sich vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Möglichkeit zu längeren Lohnfortzahlungen oder Krankengeldzahlungen, weil Long Covid oft eine sehr langwierige Krankheit ist. Auch ein besonderer Kündigungsschutz für Betroffene, wie ihn auch schwerbehinderte Menschen haben, sei eine Option.

Flexible Lösungen sind gefragt

Auch Jördis Frommhold plädiert für Flexibilität seitens der Unternehmen. „Wir haben überall Fachkräftemangel und können es uns nicht leisten, die Menschen in einer Arbeitsunfähigkeit versauern zu lassen. Auch wenn sie vielleicht nicht mehr die volle Arbeitsfähigkeit haben, sie wollen ja trotzdem arbeiten.“ Hier sei auch mal Kreativität gefragt. Manche Betroffenen müssten sich zwar zwischendrin hinlegen, könnten aber auch im Liegen noch E-Mails checken und sollten diese Möglichkeit auch haben. Auf Baustellen könnten außerdem Wohnwagen aufgestellt werden, in denen sich von Fatigue betroffene Mitarbeitende zwischendrin ausruhen könnten. „Besser, wir können Beschäftigte beschränkt einsetzen als gar nicht.“ Volker Nürnberg hält es zudem für wichtig, dass Führungskräfte den Kontakt zu den Betroffenen halten. „Es gibt nicht wenige, die den Weg zurück in den Arbeitsprozess gar nicht mehr gefunden haben.“

Timo Strotmann erfährt von seinem Arbeitgeber sehr viel Unterstützung, was er unter anderem der Tatsache verdankt, dass er vor seiner Erkrankung sehr leistungsfähig war. „Ich weiß, dass mein Arbeitgeber hinter mir steht und ich so gut ausgebildet bin, dass ich trotz der Vorerkrankung immer eine Stelle bekommen werde. Aber ich muss gesund werden.“ Ohne Aufklärung und ohne Forschung passiere das nicht, deshalb spricht er offen über seine Krankheit. Er findet, dass auch Arbeitgeber aktiv auf die Politik zugehen und mehr Geld für Forschung fordern sollten, denn sie brauchen gesunde Mitarbeitende, um die aktuelle Wirtschaftsleistung zu halten. Sein Arbeitgeber rechnet damit, dass schon allein die Neubesetzung seiner Stelle über 100.000 Euro kostet. „Wir können es uns gar nicht leisten, keine Lösung für die Krankheit zu finden. Vom menschlichen Leid mal abgesehen.“ Bis dahin bleibt Strotmann, wie vielen anderen Betroffenen auch, nichts anderes übrig, als durchzuhalten. Seine Frau und seine Familie geben ihm die dafür nötige Kraft. „Ich bin zuversichtlich und ich kämpfe darum, dass ich wieder auf die Beine komme.“ Unternehmen stehen währenddessen vor der Aufgabe, Long-Covid-Betroffene so zu unterstützen, dass sie auch nach der langen Zeit, die ihre Genesung brauchen kann, in ihren Beruf zurückkehren können – auch wenn ihr Arbeitsalltag vielleicht erst einmal nicht so aussehen kann wie vorher.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Employee Lifecycle. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Senta Gekeler, Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager

Senta Gekeler

Senta Gekeler ist freie Journalistin. Sie war von 2018 bis 2023 Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager.

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