Wie kann HR Menschen ans Unternehmen binden?

Mitarbeiterbindung

Kerstin Saathoff ist oft auf dem Businessnetzwerk Linkedin unterwegs und scrollt sich durch die Jobanzeigen. Sie schaut sich um, stöbert, überlegt, welche Jobs ihr vielleicht gefallen und welche Möglichkeiten einer beruflichen Veränderung sich auftun könnten. Manchmal führt sie auch ein weiterführendes Gespräch und hört sich die Angebote genauer an.

Man könnte meinen, die 36-Jährige sei akut auf der Suche nach einem neuen Job, also unzufrieden bei ihrem Arbeitgeber. Doch das Gegenteil ist der Fall. Saathoff ist glücklich mit ihrem Arbeitgeber und plant auch keinen Wechsel. Wichtig ist es dennoch für sie, sich mit den möglichen Alternativen zu beschäftigen. „Ich denke immer wieder darüber nach, welche Aufgaben mir auch Spaß machen könnten und ob ich richtig bin, da, wo ich mich gerade befinde“, sagt sie. Die innere Frage lautet also: Ist das, was ich hier tue, sinnvoll für mich und das Unternehmen? Saathoff ist es wichtig, beides immer wieder mit Ja beantworten zu können.

Heute arbeitet sie als Programm-Managerin bei Google in Kopenhagen für die Google News Initiative. Als solche kümmert sie sich darum, Verlage bei der digitalen Transformation zu unterstützen. Im vergangenen Jahrzehnt hat sie auch schon von Dublin und Hamburg aus für den Konzern gearbeitet und verschiedene inhaltliche Aufgaben gehabt, beispielsweise in der Werbevermarktung. „Meine persönliche Weiterentwicklung ist mir immer noch genauso wichtig wie an Tag eins“, sagt sie. Dass sie sich diesbezüglich so unterstützt fühlt, ist für sie ein wesentlicher Grund dafür, dass sie immer noch bei Google ist. „Sicherlich mag ich auch die Entlohnung und die Benefits, die es hier gibt. Aber vor allem mag ich die Menschen um mich herum und dass ich die Möglichkeit habe, Verschiedenes auszuprobieren.“ Die große Flexibilität, mit der sie arbeiten kann, kommt dazu – besonders seit sie ein Kind hat. Früher war Flexibilität für sie nicht so wichtig. Und damals, bei ihrer Entscheidung für Google, war für sie zum einen relevant, bei einem großen Arbeitgeber mit gutem Ruf zu arbeiten, inklusive des Gesamtpakets von Gehalt und Benefits. Zum anderen fühlte sich für sie die Atmosphäre anders an. Mit ihrem Bachelorabschluss habe sie sich von den deutschen Unternehmen nicht so angenommen gefühlt wie von Google. Dort sei es ihr direkt weniger hierarchisch erschienen und offener.

Individuelle Lösungen

Beim Blick in die zahlreichen Studien, die es zu den Themen „Fluktuation“, „innere Kündigung“ oder „Wechselwilligkeit“ gibt, drängt sich der Eindruck auf, dass sich ein relevanter Anteil der Arbeitnehmenden dem Arbeitgeber nicht mehr verbunden fühlt. Dazu kommt der anhaltende und ansteigende Fachkräftemangel und die öffentlichen Diskurse über Phänomene wie Great Resignation, Quiet Quitting oder Act your wage. Kein Wunder, dass die Arbeitgeber nervös über eine gelungenere Mitarbeiterbindung nachdenken. Zahlen kursieren, wie teuer Neubesetzungen sind, und die Vorteile internen Recruitings werden beschworen. Und sucht man im Netz nach Maßnahmen zur Mitarbeiterbindung, ist die Liste lang: Da kommt sogar der Obstkorb mal wieder vor, neben einer großen Aufzählung von Benefits, vom Jobfahrrad über Unterstützung bei Betreuungs- und Pflegeaufgaben bis zum Essenszuschuss. Die unterschiedlichen Modelle der Gestaltung von Arbeitszeit und -ort spielen eine Rolle, neben den diversen und weiten Feldern der Personalentwicklung, der Kultur und des Führungsverhaltens. All das ist schon ein Indiz dafür, dass es keine One-size-fits-all-Lösung gibt.

Der große Benefit-Katalog, der auch die verschiedenen Lebensphasen in den Blick nimmt, gehört für Claudia Grusemann-Schmidt einfach dazu. Sie leitet beim Spezialchemiekonzern Evonik die Abteilung Engage and Retain. Im Gespräch spielt der Katalog für sie aber eine Nebenrolle. Die Konstante, die sich durch ihre und die Arbeit ihrer Kollegen und Kolleginnen zieht, ist der Wunsch der Beschäftigten nach Wertschätzung. „Die Menschen wollen gebraucht werden, sie wollen nicht sinnfrei arbeiten.“ Und auch wenn es beispielsweise wichtig und richtig sei, seitens des Managements die Unternehmensstrategie gut zu erklären, so liegt für sie der größte Hebel bei den Menschen, die den eigenen Arbeitsalltag unmittelbar beeinflussen. „Das Gefühl von Zugehörigkeit zum Unternehmen und dass das, was ich mache, richtig und gut ist, kann fast nur vom direkten Team und der Führungskraft gegeben werden.“

Bleibegespräche führen

Einer der zahlreichen Ansätze, mit denen sie bei Evonik versuchen, jeder Person dieses berufliche Zuhause zu geben, sind Stay-Interviews mit der Führungskraft von Beginn der Arbeitsbeziehung an. Zwei bis drei Gespräche im Jahr sind das. Grusemann-Schmidt sieht sie als Teil des Hire-to-Retire-Zyklus. Der Anspruch, die Menschen möglichst lang an sich zu binden, bestmöglich von Ausbildung bis Rente, ist nach wie vor da. Man habe die Philosophie, dass jeder Mensch im Unternehmen die für sich passende Aufgabe findet. Dafür müsse man im Gespräch bleiben. Und selbst wenn sich jemand von Evonik im Guten trennt und woanders neue Erfahrungen sammeln möchte, wünscht sie sich, dass man im Gespräch bleibt.

Denn dass im Laufe der Zeit von einer Seite mal die Frage aufkommt, ob es noch passt mit der Zusammenarbeit, ist normal. Menschen entwickeln sich weiter, Organisationen entwickeln sich weiter. Hier hilft fast nur, möglichst früh gegenseitig offen zu sein und zu schauen, wie der gemeinsame Weg eventuell noch aussehen und was helfen könnte, um die imaginäre Pro-und-Kontra-Waage wieder in Einklang zu bringen.

Die Bedeutung des unmittelbaren sozialen Kontextes für die Lust der Menschen, ihrem Job treu zu bleiben, betont auch Armin Trost. Ebenso wie den Vorrang der intrinsischen vor der extrinsischen Motivation. Der Professor an der Hochschule Furtwangen hat im Sommer im Harvard Business Manager einen Artikel veröffentlicht mit dem Titel 7 Irrtümer über Mitarbeiterbindung. Hört auf, eure Mitarbeiter zu verhätscheln! Er schreibt unter anderem: „Mitarbeiter erleben sich und die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit dann, wenn sie die Konsequenzen ihres Handelns und ihrer Entscheidungen unmittelbar erleben.“ Und: Man solle die Menschen als aktive Gestalter ihrer Arbeitswelt begreifen und nicht als passive Konsumenten. Damit widerspricht er dem momentan sehr gängigen Ansatz, Beschäftigte als Kunden zu betrachten. Daraus entstehe eine Konsumhaltung, meint Trost. „Unternehmen können sich dazu entschließen, sich bedingungslos um ihre Mitarbeitenden zu kümmern und sie zu verwöhnen“, sagt er. Dann müsse man sich aber nicht wundern, wenn sie narzisstische Züge entwickeln und unselbstständig würden.

So wie sich Kerstin Saathoff ab und an umschaut, was andere Arbeitgeber eventuell für sie zu bieten haben, ist Evoniks Ansatz, dass sich die Beschäftigten jeden Tag bewusst für den Konzern entscheiden, nach dem Grundsatz „Ich bleibe, weil ich will“. Im Rahmen des internen Employer Branding wurden dafür Initiativen wie beispielsweise ein Markenbotschafterprogramm entwickelt. Kern dessen sind People Stories, in denen das Team rund um Daniela Obermeier, die das Thema global verantwortet, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihre Themen in Geschichten und Videos sichtbar machen. Auch hier geht es um die Wertschätzung des eigenen Beitrags zum großen Ganzen und um Rollenvorbilder. Und es geht um Motivation. „Wir wollen nicht nur die Geschichten der Menschen nutzen, um uns als Arbeitgeber erlebbar zu machen. Sondern wir ermöglichen ihnen, über ihren Job hinaus in Trainings Neues zu lernen, beispielsweise wie Storytelling und Social Media funktionieren.“ Es soll ein dreifacher Gewinn sein. Für Evonik, für den Markenbotschafter oder die Markenbotschafterin und für die restliche Belegschaft. Ein Beispiel dafür ist Christian Mani, der durch seine Rolle als Evonik-Influencer inzwischen Linkedin-Top-Voice ist und damit an öffentlicher Sichtbarkeit gewonnen hat. „Das macht was mit einem, darüber fühle ich mich dem Unternehmen verbunden“, sagt Obermeier.

Corporate Influencer

Welchen Anteil Kommunikation am Thema Mitarbeiterbindung habe? „Einen riesigen“, sagt Obermeier. Und welche Kanäle man nutze? Jene, auf denen die Zielgruppen am besten zu erreichen sind. Was sie und ihr Team unter anderem anhand der Reaktionen auf die Veröffentlichungen messen. Die Unterscheidung zwischen internen und externen Kanälen werde dabei zunehmend obsolet, was nicht zuletzt durch das Beispiel von Christian Mani deutlich wird. Insofern haben die Retention-Maßnahmen zumindest mittelfristig auch eine Wirkung auf das Recruiting. Mit dem großen Benefit-Katalog ist es ähnlich. Eigentlich zahlt auch dieser aufs Recruiting ein. Denn wechselwillige Angestellte können vorab kaum wissen, ob ein neuer Arbeitgeber in Sachen Kultur, Führung und Weiterentwicklung hält, was er verspricht. Das Jobfahrrad ist da um einiges konkreter. Und zugleich wird dieses nicht der Grund sein, zu bleiben, wenn manches andere nicht mehr stimmt.

Armin Trost sieht schon den Begriff „Bindung“ in dem Zusammenhang kritisch. Und schlägt den Bogen zur Beziehungsmetapher, wie es auch Kerstin Saathoff im Gespräch öfter tut, wenn sie beispielsweise von einer vergangenen temporären Beziehungskrise spricht, aus der man ja auch hoffe, am Ende gestärkt hervorzugehen. Trost meint: „Wenn sich ein Ehemann fragt, wie er seine Ehefrau binden kann, muss er sich nicht wundern, wenn sie ihn irgendwann verlässt.“ Es geht mehr um die Haltung zueinander, und darum, die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Sich immer wieder gegenseitig Gründe geben, beieinanderbleiben zu wollen. Welche Gründe am Ende die überzeugenden sind, das ist höchst subjektiv und ändert sich – wie auch Saathoff schilderte – mit den jeweiligen Lebensphasen. Vielleicht reicht es dann manchmal auch nicht für eine berufslebenslange Beziehung. Aber ein gemeinsamer Abschnitt, auf den beide positiv zurückblicken, ist ja auch schon viel wert.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Employee Lifecycle. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Kathrin Justen

Kathrin Justen ist Verantwortliche für People and Culture bei der Digitalberatung Digital Dna und arbeitet nebenberuflich als freie Journalistin.

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