Die Rolle von HR im Employee Lifecycle

Employee Journey

Manuela Hillen ist gewissermaßen eine Exotin. Seit knapp 20 Jahren hält sie ihrem Arbeitgeber bereits die Treue. Sie trat einst als Assistentin in die Nordwest Mediengruppe ein, orientierte sich viele Jahre später in Richtung HR. Sie beobachtete, wie Wechsel in der Geschäftsführung den Wandel im Haus vorantrieben. Vor zwei Jahren bot man Hillen dann eine neue Aufgabe an: als Verantwortliche für das Lifecycle Management und Human Resources Development – unterstützt von einer studentischen Hilfskraft und angedockt an die HR-Abteilung, die bei der Mediengruppe „Personal und Organisation“ heißt. „Ich bin quasi in diese neu geschaffene Stelle geschubst worden“, sagt sie und lächelt schulterzuckend. Heute kümmert sie sich zusammen mit ihrem Kollegen um die eigens aufgebaute interne Nordwest Akademie der Gruppe, in der sich rund 1.000 Beschäftigte weiterbilden. Und sie treibt Prozesse voran, baut Strukturen auf, mit deren Hilfe künftige, gegenwärtige und ehemalige Mitarbeitende vom ersten bis zum letzten Berührungspunkt mit dem Medienhaus möglichst ideal betreut werden können.

Kurz nach Beginn der Pandemie hat Hillen erstmals einen Onboarding-Leitfaden entwickelt. „Der Prozess hat dafür gesorgt, dass Menschen sich frühzeitiger angekommen fühlen“, sagt sie. Zuvor war es immer wieder vorgekommen, dass Neuankömmlinge noch in der Probezeit absprangen. „In manchen Abteilungen wurde zu früh zu viel erwartet“, vermutet Hillen. Nun werden von vornherein mögliche Karrierepfade ausgelotet, nach dem Prinzip: So arbeiten wir dich ein, so kannst du dich bei uns entwickeln, diese Weiterbildungsmöglichkeiten stehen dir an unserer Akademie offen. In Bewerbungsgesprächen wollen die Talente genau das auch wissen: Wie kann ich mich entwickeln, was gebt ihr für meine Weiterbildung aus?

Lifecycle Management – das klingt etwas technisch, wahlweise nach Lebenscoaching, nach Kreislaufwirtschaft oder – mit sehr viel gutem Willen und Elton John im Ohr – auch ein bisschen nach dem König der Löwen: „It’s the circle of life“. Der Employee Lifecycle – wir alle kennen das bunte Rad – bildet die gesamte Reise ab, die Angestellte bei einem Arbeitgeber durchleben. Diese Reise ist in einzelne Phasen unterteilt: Sie beginnt mit der Attraction, also dem ersten Kontakt mit der Organisation, dem Bild, das von der Arbeitgebermarke entsteht. Es folgen ein transparenter und gut strukturierter Recruiting-Prozess, dann das Onboarding, in dem die fachliche und kulturelle Integration stattfindet. In den Folgephasen Development und Retention werden Beschäftigte gezielt gefördert und dank passender Karriereoptionen an das Unternehmen gebunden. Bis es schließlich zur Trennung kommt, ob durch Renteneintritt oder Kündigung. Doch auch nach einem professionellen Offboarding ist der Lifecycle nicht unbedingt abgeschlossen. Als optionaler siebter Schritt wird in der Alumni-Phase der Draht zu Ehemaligen gepflegt.

Employee-Lifecycle-Gestaltung kostet Mühe

„Die Phasen des Lifecycles stärker zu begleiten, wird für HR immer wichtiger“, sagt Silke Eilers, Expertin am Institut für Beschäftigung und Employability IBE. Das hat vor allem zwei Gründe: der Personalmangel, der unter Arbeitgebern zu einem Wettbewerb führt, wer am attraktivsten ist. Und die veränderten Bedürfnisse der Menschen, was ihr Job ihnen bieten soll. Bewerbung schreiben, sich einarbeiten, bei Erfolg Stufe um Stufe aufsteigen und vor dem Ruhestand an die Nachfolge übergeben? Das ist gerade bei der jungen Generation kaum noch der Standard. Die durchschnittliche Dauer der Betriebszugehörigkeit liegt bei rund elf Jahren. Und die Bereitschaft zum Jobwechsel erreichte unter den deutschen Beschäftigten zuletzt ein Rekordhoch, wie der Gallup Engagement Index 2021 ergab. 42 Prozent der Befragten hegten der Umfrage zufolge in naher Zukunft Wechsel­absichten. Na gut, könnte man schließen: Wenn die Leute sowieso nach kurzer Zeit gehen, dann steckt man nicht so viel Mühe in ihr Onboarding, ihre Entwicklung, ihre Bindung. Das wäre doch schließlich vergebliche Liebesmühe, oder? Von wegen.

„Personalmanagement und Führung müssen heute und künftig sehr viel mehr investieren“, sagt Eilers. „Denn wenn sie es nicht tun, dann wandern begehrte Arbeitskräfte ab oder gehen von vornherein zur Konkurrenz.“ Das heißt: Was in den einzelnen Phasen geboten wird, gehört ständig optimiert. Um für Attraction zu sorgen, braucht es etwa authentisch gelebte Werte, einen Sinnantrieb. Die zentrale, weil besonders langwierige Development-Phase muss zu jedem Zeitpunkt auf die einzelne Person und ihre Lebensumstände abgestimmt sein. Von Arbeitgebern wird Flexibilität erwartet: Nach drei Jahren ein Sabbatical zum Durchschnaufen? Wir machen das möglich. Ein Quereinstieg in eine andere Abteilung? Dafür machen wir dich fit. „Früher waren Brüche im Lebenslauf oft negativ konnotiert“, sagt Eilers. Heute entscheiden sich Angestellte oft sehr bewusst dafür. Einst wurde das Angebot, die nächste Karrierestufe zu erklimmen, fast selbstverständlich begrüßt. Nun heißt es zuweilen: „Gerade habe ich privat zu viel um die Ohren, fragt mich in ein paar Jahren noch einmal“. Und darauf, sagt die Expertin, sollten Unternehmen sich einlassen. Das bedeutet auch: Es braucht mehr Dialog, mehr Berührungspunkte von HR und Führung mit den einzelnen Beschäftigten. Lösungen von der Stange passen oft schlichtweg nicht mehr. „Es gibt kaum noch Selbstläufer-Lifecycles“, sagt Eilers. „Gerade wenn die Babyboomer jetzt nach und nach ausscheiden.“ HR und Führungsriege sollten sich grundlegende Fragen stellen, etwa, ob Positionen in derselben Form nachbesetzt werden müssen. Oder ob sich die Aufgaben nicht vielleicht anders bündeln und delegieren lassen, ob ein Ummodeln und Aufsplitten sie attraktiver machen könnte – etwa mittels Führung in Teilzeit oder Jobsharing.

Christine Krieger, die sich beim Versicherungskonzern Axa in der Schweiz mit der Entwicklung von Employee Journeys befasst, schaut noch etwas weiter in die Zukunft. „Bald“, glaubt sie, „versuchen wir überhaupt nicht mehr, Funktionen zu besetzen, sondern suchen stattdessen nach spezifischen Skills. Die Fähigkeiten, die Personen einbringen können, werden zur neuen Währung – mitunter auch parallel bei mehreren Arbeitgebern zeitgleich.“ Doch das ist Zukunftsmusik. Was Menschen in Unternehmen zunehmend fordern, ist interne Mobilität. „Mitarbeitende wünschen sich Flexibilität, individuell abgestimmte Weiterbildungen und sehr regelmäßiges Feedback“, sagt sie. „Vor allem aber achten sie darauf, dass ihr Potenzial gesehen wird, nicht nur der Katalog ihrer fachlichen Fähigkeiten.“ Mithilfe flexibler und individueller Lernangebote, erklärt die HRlerin, können sich Menschen heute schneller weiterentwickeln und Aufgaben übernehmen, die das Unternehmen voranbringen und als erfüllend empfunden werden.

Die Employee-Lifecycle-Phasen diffundieren

Gemeinsam mit einem People-Analytics-Start-up hat der Versicherer eine Skill-Plattform eingeführt, mit deren Hilfe Mitarbeitende ihre Fähigkeiten erfassen und weiterentwickeln können. Passend dazu gibt es immer neue Jobprofile – und Workshops, in denen Kompetenzen dafür angeeignet werden können. „Die Welt dreht sich schneller“, sagt Krieger. „Ohne dynamische Strukturen kommen wir nicht weiter.“ Zwar haben die klassischen Phasen weiterhin ihre Gültigkeit. Aber sie sind in Zeiten von lebenslangem Lernen, der Rückgewinnung von ehemaligen Beschäftigten, Brüchen und neuen Rollen durchlässiger geworden. Das sollte sich laut Krieger auch auf das Personalmanagement niederschlagen: „Die traditionelle Betrachtung des Phasen-Modells geht von einzelnen Departments aus: Die einen sind fürs Onboarding zuständig, andere für die Weiterbildung. Es gibt dafür einzelne Boxen. Das Ganze muss heute aber viel stärker diffundieren, als eine Einheit gesehen werden“, sagt sie. Bei der Axa Schweiz steht HR heute für Human Responsibility, seit einiger Zeit arbeitet der Bereich auch agil. Statt gelegentlicher Gespräche mit Mitarbeitenden und Führungskräften gibt es permanente Berührungspunkte. Dadurch lassen sich neue Bedürfnisse schneller aufspüren und in Konsequenz können Aufgaben umverteilt und Rollen angepasst werden. Neu ist zudem, dass die Lifecycle-Phasen vor allem aus der Sicht der Belegschaft und derer, die sich bewerben, betrachtet werden: Was wünschen sie sich?

Dem Führungspersonal verlangen enger betreute Life­cycle-Phasen indessen einiges ab. Es kostet viel Zeit und Engagement, immer wieder Dialoge zu führen, Leitfäden zu berücksichtigen – kurzum: Rollen und Entwicklungsoptionen maßzuschneidern. Manuela Hillen, ihr Kollege sowie die Personalleiterin der Nordwest Mediengruppe haben sich im Sommer ein paar Tage gemeinsam zurückgezogen und einen Führungskompass entwickelt, der entsprechende Erwartungen an Vorgesetzte, Geschäftsleitung und Beschäftigte zusammenfasst. Um dem Kompass Leben einzuhauchen, gibt es nun Workshops und Coachings. „Unsere neue Geschäftsführung lebt diesen Wandel vor, sonst würde es nicht funktionieren“, sagt Hillen. Bevor die Führungsriege das Lifecycle-Maßschneidern übernimmt, muss sie schließlich erst einmal lernen, wie sie passgenau ausmessen und Schnittmuster anfertigen kann.

Allzu akribisch sollte HR solche Anleitungen allerdings nicht vorbereiten. Diese Erfahrung hat Hillen gemacht, als sie sich kürzlich in das Thema „Offboarding“ vertiefte. Wie der Abschied vonstattengeht, war bei der Mediengruppe früher den Fachbereichen überlassen. Hillen entwickelte einen Prozess, setzte sich dann mit der Vertragsexpertin aus dem HR-Team zusammen. „Wir haben erst alle Arten von Austritten und Unterbrechungen gesammelt: Elternzeit, Langzeitkrank, Altersteilzeit – und dann einen weitverzweigten Prozess mit einzelnen Leitfäden für jede Eventualität entwickelt.“ Doch der erwies sich in der Praxis als zu kleinteilig. Also entschied sich Hillen dafür, zum grob strukturierten Prozess zurückzukehren, der den Führungskräften und Abteilungen Raum für individuelle Abwandlungen gibt. Ihre Lehre: Ein Grundgerüst für die verschiedenen Phasen hilft – aber Prozesse bleiben lebendig. Sie selbst geht übrigens trotz mancher Hindernisse in ihrer Rolle auf. Nur ein größeres Team fürs Life­cycle-Management steht auf dem Wunschzettel: „Drei Leute hätten wir gern. Denn da rollt noch einiges auf uns zu.“ So viel ist sicher.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Employee Lifecycle. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Anne Hünninghaus, Foto: Jana Legler

Anne Hünninghaus

Anne Hünninghaus ist Journalistin und Redakteurin bei Wortwert. Sie war von Januar bis Oktober 2019 Chefredakteurin i. V. des Magazins Human Resources Manager. Zuvor arbeitete die Kultur- und Politikwissenschaftlerin als Redakteurin für die Magazine politik&kommunikation und pressesprecher (heute KOM).

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