Es ist Freitag, 11:00 Uhr, mitten am Tag. Doch in der Erzbergerstraße 113a in Karlsruhe klingelt kein einziges Telefon. Die Türen sind verschlossen, die Schreibtische leer. Alle Anrufe gehen an einen Dienstleister. Die Post wartet bis Montag im Briefkasten. Das Büro ist verwaist. Denn hier sitzt die Unternehmensberatung Aflexio. Sie arbeitet seit Januar nur noch vier statt fünf Tage die Woche. Das bedeutet: Am Freitag haben alle frei!
Weniger Arbeit, gleicher Lohn: Aflexio hat die Arbeitszeit auf 36 Stunden reduziert und auf Montag bis Donnerstag verteilt. Initiiert hat das Jana Koske, Geschäftsführerin und seit 22 Jahren Unternehmensberaterin. „Kein Tag ist wie der andere“, sagt sie. „Neue Kunden, wechselnde Projekte, andere Aufgaben.“ Das mache es spannend, aber auch herausfordernd. „Ich möchte diesen Beruf bis zur Rente machen. Aber ich kann meine Leistung nur steigern und langfristig garantieren, wenn ich mit meinen Kräften haushalte. Das ist im Job genauso wie im Sport.“
Steigende Burn-out-Raten zeigen, dass vielen Menschen die nötige Kraft fehlt. Psychische Erkrankungen gehören zu den häufigsten Ursachen für Arbeitsausfälle, schreibt die Deutsche Angestellten-Kasse (DAK). Und die Techniker Krankenkasse konstatiert in ihrer Stressstudie: „Der Stress in Deutschland nimmt zu.“ Nicht nur im Job, sondern beispielsweise auch in der Freizeit, im Straßenverkehr, bei der Pflege von Angehörigen und den Ansprüchen an sich selbst.
78 Prozent aller Menschen, die eine Viertagewoche haben, seien glücklicher und weniger gestresst, sagen die Verantwortlichen der Initiative 4 Day Week Global. Sie setzt sich weltweit für eine Verkürzung der Arbeitszeit ein. In den USA, Kanada, Australien, Neuseeland, dem Vereinigten Königreich und bald in anderen Teilen Europas hat die Initiative Pilotprojekte initiiert und begleitet. Island hatte fünf Jahre lang mit insgesamt 2.500 Teilnehmenden die Arbeitswoche von 40 auf 35 Stunden reduziert. Das Resultat: Die Menschen waren ausgeglichener, ihre Leistung blieb gleich oder steigerte sich. Inzwischen haben 86 Prozent der Erwerbstätigen des Inselstaats Anspruch auf eine Viertagewoche.
Fünf Tage in vier Tagen erledigen
Auch Belgien hat eine Viertagewoche eingeführt: Mitarbeitende dürfen in Zukunft ihre Arbeitszeit so verteilen, dass sie in vier Tage passt, und dafür die bisherige gesetzliche Grenze von acht Stunden pro Tag überschreiten. Sie haben an vier Tagen deutlich mehr zu tun, um einen Tag frei zu nehmen. Genau diese Flexibilität wünschen sich laut einer Umfrage des global tätigen Personaldienstleisters Manpower Group weltweit 64 Prozent der Erwerbstätigen. 18 Prozent würden für eine Viertagewoche ihre Arbeitszeit reduzieren und Einbußen beim Gehalt in Kauf nehmen.
„Die Gesellschaft hat sich verändert, Flexibilität und Freizeit haben einen viel höheren Stellenwert“, sagt Karen Hoyndorf, Managing Director People and Culture der Manpower Group Deutschland. Gerade jüngere Menschen würden gezielt danach fragen, ihre Stunden zu reduzieren und flexibel einzuteilen. „Die Coronapandemie hat gezeigt, was an Flexibilität möglich ist. Unternehmen müssen die Möglichkeit bieten, auf individuelle Bedürfnisse einzugehen. Ob jemand acht Stunden arbeiten möchte, weniger oder mehr, muss in Zukunft regelmäßig reflektiert werden. Der Arbeitsvertrag, den man zu Beginn einer Karriere abschließt, wird nicht mehr maßgeblich sein“, stellt sie klar.
Die Manpower Group-Geschäftsführung diskutiere aktuell, wie sich eine Viertagewoche auch im eigenen Konzern umsetzen lasse, sagt Hoyndorf. Dies sei nur ein Aspekt, wenn es um die Zukunft der Arbeit gehe. Denn: „Für 60 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind solche flexiblen Arbeitszeitmodelle schwierig zu realisieren. Das Ziel muss sein, allen die nötige Flexibilität zu bieten. Dafür müssen von beiden Seiten Rahmenbedingungen erfüllt sein. Es ist die Aufgabe der Führungskraft, das auszuloten und zu kommunizieren“, sagt sie.
Doch nicht alle sind von dem Konzept überzeugt. Dass es nicht funktionieren kann, meint beispielsweise Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Wegen des Fachkräftemangels brachte er in einem Interview die Erhöhung auf 42 Stunden pro Woche ins Spiel. Aber auch Fachkräfte suchen Entlastung. Über elf Wochen lang haben zum Beispiel die Pflegekräfte in Nordrhein-Westfalen gestreikt und mehr Freizeit erkämpft. Weder Gewerkschaften noch Industrie wollen sich auf Anfrage zu einer Viertagewoche positionieren.
Prozesse neu strukturieren
Jana Koske sitzt mit ihrer Kaffeetasse am Küchentisch, stöbert auf Linkedin und vernetzt sich mit neuen Bekannten. Gleich wird sie mit ihrem Mentee telefonieren und zum Mittag mit einer Gruppe über die Frauenquote diskutieren. Sie hat einen Termin bei der Pediküre gemacht und wird in Ruhe ihre Sachen für den Urlaub rauslegen. „Der Freitag ist mein Freiraum, in dem ich bestimme, was ich machen will“, sagt Koske. Auch Berufliches sei am Freitag kein Problem, wenn ihr es helfe, sich zu entlasten, und sie keine Mitarbeitenden involviert. Denn freitags ist niemand erreichbar. Das ist die Regel bei Aflexio, die sichern soll, dass es mit der Viertagewoche wirklich funktioniert. „Ausnahmen gefährden das Gesamtgefüge“, erklärt Koske.
Damit in vier Tage passt, wofür branchenüblich nicht einmal fünf reichen, muss Arbeit neu organisiert werden: Laut Statistik des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg leisten Mitarbeitende einer Unternehmensberatung im Durchschnitt fünf Stunden extra pro Woche. Auch Aflexio will erfolgreich sein und wachsen, aber in weniger Zeit: „Eine Viertagewoche ist zu Beginn ziemlich anstrengend, weil man den Arbeitsalltag neu strukturieren und Prozesse in Frage stellen muss. Wir haben Routinen aufgebrochen, die selbstverständlich schienen, und so eine Effizienzsteigerung erreicht“, sagt Geschäftsführerin Koske.
Zu den Routinen gehörte, nicht auf „gedankliche Rüstzeit“ zu achten: Das sei die Zeit, die es koste, um von einem auf ein anderes Thema umzuschalten. Um sie einzusparen, plant Koske Projekte jetzt in Blöcken. Zwischen zwei Terminen macht sie 15 Minuten Pause. Sie geht dann zum Küchentresen hinter der Glaswand am Konferenzraum, holt sich eine Tasse Kaffee, trifft Kollegen, quatscht und schaltet ab. „Die Viertelstunde scheint auf den ersten Blick verlorene Zeit, aber sie gibt mir die Kraft, um in meinem nächsten Termin aufmerksam zu sein und meine Zeit effizienter zu nutzen“, hebt sie hervor.
Fünf Stunden Produktivität
450 Kilometer nördlich von Karlsruhe zählt ein Countdown an der Eingangswand die Zeit bis 13:00 Uhr. Um 8:00 Uhr hat er angefangen, bald sind die fünf Stunden abgelaufen. Dann startet der Feierabend bei Rheingans, einer Beratungsfirma für Digitales in Bielefeld. So zeigt es ein Fernsehbericht, der Countdown wurde nur dafür eingerichtet. Es gibt ihn nicht mehr, aber was dahintersteckt, stimmt: Rheingans hat einen Fünfstundentag. Lasse Rheingans hat ihn 2017 eingeführt. Er hatte die Firma übernommen und gleich den Vorschlag gemacht, die Arbeitszeit zu reduzieren, bei gleichem Lohn und gleichem Urlaubsanspruch. „Ich war es leid, jeden Abend völlig gestresst und überarbeitet nach Hause zu kommen und meine Familie nur noch am Wochenende zu sehen“, sagt er.
Mit den Kindern spielen, den Rasen mähen, zum Sport gehen: Alltag und Freizeit soll auch in der Woche Platz finden. Darüber hat Rheingans ein Buch geschrieben: Die 5-Stunden-Revolution. Wer Erfolg will, muss Arbeit neu denken. Niemand könne acht Stunden am Tag produktiv sein, sagt er. Laut einer Studie aus Großbritannien sind es sogar nur zwei Stunden und 53 Minuten. Den Rest vertrödeln Büroangestellte im Netz, mit Pausen oder Gesprächen. Rund die Hälfte ihrer Zeit verbringen sie in Meetings, errechnet das Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Ein Drittel habe keinerlei Mehrwert. Das summiert sich auf sechs Stunden pro Woche.
„Wir brauchen im Arbeitstag Leerlauf und Pausen“, sagt Rheingans. Die Frage ist: Kann man es nicht anders organisieren? Indem die Firma nur die genutzte Zeit erfasst, schafft sie eine Art Nettobilanz des Arbeitstages und räumt unproduktive Zeit für Privates frei. Meetings werden mit 15 Minuten angesetzt. Wer mehr Zeit braucht, muss es erklären. Es sollen nur Personen teilnehmen, die auch etwas beitragen. Es gibt eine Agenda und mindestens einen Tag Vorlaufzeit. Das spare Zurufe wie: „Kannst du mal bitte kurz?“ „Jede Irritation führt dazu, dass Arbeit nicht mehr klar und gut funktionieren kann“, bemerkt Rheingans.
Interview
Gegen die Norm
Die Kampagne 4 Day Week startet weltweit Pilotprojekte zur Viertagewoche, demnächst auch in Deutschland. Der Chief Executive Officer Joe O’Connor erklärt, warum aus seiner Sicht die Fünftagewoche ausläuft.
Selbstorganisationskompetenz
Es ist Abend. Lasse Rheingans setzt sich noch einmal an seinen Laptop und geht die Termine für morgen durch. Er kalkuliert, wie viel Zeit er braucht: 15 Minuten für eine Besprechung, 30 Minuten für eine Projektarbeit, 45 Minuten für ein Interview. Früher gab es dafür einen Abreißblock: jeden Tag ein neues Blatt, eine To-do-Liste mit Logo, vier bis fünf Aufgaben pro Tag. Das hat nicht für alle funktioniert. „Wir wollen niemanden vorschreiben, wie er oder sie sich strukturiert“, sagt er. „Wir appellieren an die Selbstorganisationskompetenz.“
Dazu gehört, dass jede und jeder selbst entscheidet, wann und wo sie arbeiten. 8:00 Uhr bis 13:00 Uhr als feste Arbeitszeit hatte einige unter Druck gesetzt, auch ohne Countdown an der Wand. In der Coronapandemie war mehr Flexibilität gefragt, die sich hält. Damit muss man zurechtkommen. Theoretisch kann man auch länger arbeiten: Im Arbeitsvertrag stehen noch 40 Stunden die Woche. Eine Zusatzvereinbarung sichert den Fünfstundentag. Yoga- und Meditationstrainings sollen helfen, achtsam zu sein, um sich die Zeit ideal einzuteilen. „Wir haben Arbeit lange als ein Opfer gesehen, das wir bringen müssen, um uns zu ernähren. Wenn es uns gelingt, Arbeit an unserem Rhythmus sowie an unsere Stärken und Talente anzupassen, macht sie Spaß. Und dann ist es letztlich egal, wie viele Stunden ich arbeite“, sagt Rheingans.
Jana Koske geht von der Erzbergerstraße durch den Botanischen Garten, vorbei am Schloss bis zu ihrem Hotel. Da sie aus Schleswig-Holstein pendelt, ist sie nur alle vier Wochen vor Ort. Sie läuft die zwei Kilometer zwischen Büro und Unterkunft gerne, erzählt sie, genießt die Sonne und hört einen Podcast. Im Hotel setze sie sich oft noch einmal an den Schreibtisch und arbeite weiter. „Ich glaube nicht daran, dass man nur fünf Stunden am Tag produktiv sein kann, wenn man zwischendrin durchatmen und etwas anderes machen kann“, sagt sie. Für die bessere Work-Life-Balance vermischt sich die Arbeit mit dem Privatleben.
Im Grunde seien die Arbeitszeitregelungen in seinem Unternehmen schon so flexibel, dass man auch mal zwei Stunden auf den Markt gehen könne, sagt Thomas Lammel, Chief Human Resources Officer Europa bei Panasonic. Das sei, was sich die meisten im Konzern wünschten. Allerdings werfe es neue Fragen wie die nach der Erreichbarkeit auf. „Mit zunehmender Flexibilisierung wird es schwieriger als Kollektiv zu wirken,“ sagt er. Und: „Ständige Erreichbarkeit führt dazu, dass Freizeit keine Erholung mehr ist.“
Panasonic hat als einer der wenigen Konzerne eine Viertagewoche eingeführt und weltweit Schlagzeilen gemacht – genauso wie Microsoft. Aber die Regelung gilt nur in Japan und nur in einigen Bereichen. Sie bedeutet, dass Mitarbeitende ihre Arbeitszeit auf vier Tage verteilen oder Arbeitszeit und Lohn reduzieren, also in Teilzeit gehen. Denn eine gesetzliche Teilzeitregelung wie in Deutschland gibt es in Japan noch nicht. Laut einer Statistik der Regierung aus dem Jahr 2020 bieten nur acht Prozent der Unternehmen ihren Angestellten an, Arbeitszeit zu reduzieren. Die Überstundenquote ist hoch. Es gibt in Japan sogar ein eigenes Wort für Tod durch Überarbeitung: „Karoshi“.
Ein Glücksindex für den Erfolg
„Spannungsspeicher“ heißt der Ort, an dem Rheingans Ideen für eine bessere Arbeitskultur sammelt. Früher klebte ein QR-Code am Eingang zum Fahrstuhl. Wer die sechs Stockwerke vom Büro bis ins Erdgeschoss fuhr, konnte über den Link auf dem Code drei Fragen beantworten: Hat es mit den fünf Stunden geklappt? Wenn nein, warum nicht? Was sollen wir ändern? Heute gibt es dafür einen digitalen Ordner, der auch den Namen Spannungsspeicher trägt. Er basiert auf der Holokratie, nach der sich Organisationen aus Konflikten und Spannungen weiterentwickeln und Hierarchien abbauen. Jeden Montag gehen ihn die Mitarbeitenden durch und besprechen, was ihre Produktivität hemmt. „Wir müssen die Werkzeuge anpassen, um Fortschritt zu messen“, meint Rheingans. Die Wirtschaft brauche einen Glücksindex: Er erfasse wie ein Seismograf, wenn etwas nicht funktioniert.
Debatten über mehr Wellbeing würden Unternehmen voranbringen, sagt Panasonic-Personaler Lammel. Früher hätte niemand in Bewerbungsgesprächen nach Programmen für Wohlbefinden gefragt, heute sei es Usus. Gerade in Bereichen, in denen Arbeitskräftemangel herrsche, müssten Unternehmen sich anstrengen, um für Arbeitnehmende attraktiv zu sein. Eine Viertagewoche könnte dazugehören. Aber: „Wenn jemand weniger arbeiten und das gleiche Gehalt verdienen will, ist das eine andere Diskussion. Dann geht es um eine Gehaltserhöhung. Das sollten wir nicht mit der Freiheit der Arbeitszeitregelung vermischen“, bemerkt er.
Vier Tage als Teilzeit statt als Vollzeit: Das muss sich rentieren. In Japan arbeiten die Menschen auch deswegen so viel, weil die Kosten so hoch sind. In den USA hatte Kellogg‘s in den dreißiger Jahren eine 30-Stunden-Woche eingeführt und später wieder eingestellt, weil die Angestellten am Ende mehr arbeiten wollten, um mehr Geld zu verdienen. Und in Deutschland wird über die Rente mit 70 Jahren diskutiert, weil die Beiträge nicht reichen, um den Ruhestand zu finanzieren. Arbeit muss lange funktionieren. In dem Sinne ist weniger am Ende vielleicht mehr.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Grenzen. Das Heft können Sie hier bestellen.