BAG: Überstunden müssen nicht automatisch vergütet werden

Arbeitsrecht

Mit viel Aufsehen urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Mai 2019 in seiner wegweisenden Entscheidung hinsichtlich der Arbeitszeiterfassung. Damals stellte der EuGH fest, dass die Mitgliedsstaaten der EU ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Arbeitszeiterfassung etablieren müssen. Eine bloße Dokumentation der Überstunden, wie sie derzeit auch im deutschen Recht vorgeschrieben ist, würde der Arbeitszeitrichtlinie nicht gerecht. Damit nahm das Urteil insbesondere den Gesetzgeber in die Pflicht, die Rechtsprechung des EuGH im nationalen Recht umzusetzen.

Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess: das Arbeitsgericht Emden

In drei Entscheidungen im Jahr 2020 entschied das Arbeitsgericht Emden jedoch, dass die Entscheidung des EuGH auch ohne Umsetzung durch den Gesetzgeber Wirkungen entfaltet und sorgte damit für einiges Aufsehen.

Denn nach Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) gilt im Prozess über die Vergütung von Überstunden grundsätzlich eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast. Zunächst muss die beschäftigte Person vortragen, an welchen Tagen sie Überstunden geleistet hat. Weiter muss er darlegen und gegebenenfalls beweisen, ob die geleisteten Überstunden angeordnet, gebilligt, geduldet oder wenigstens zur Erledigung der Arbeit erforderlich waren. Anschließend ist es Sache des Arbeitgebers, diesem Vortrag entgegenzutreten.

Nach den Entscheidungen des Arbeitsgericht Emden kann der Arbeitgeber dieser Darlegungs- und Beweislast nur dann nachkommen, wenn er den Vortrag des oder der Beschäftigten mit Daten aus einem Arbeitszeiterfassungssystem, das den Anforderungen der EuGH-Entscheidung von 2019 entspricht, widerlegt. Zusätzlich soll für die Duldung von Überstunden nicht mehr nur die positive Kenntnis des Arbeitgebers von den Überstunden erforderlich sein. Vielmehr reiche es aus, dass der Arbeitgeber die Überstunden im verpflichtenden Arbeitszeiterfassungssystem einsehen kann oder könnte, wenn er ein solches eingerichtet hätte.

Ergo: Richten Arbeitgeber ein solches System gar nicht ein, können sie den Vortrag des Arbeitnehmers laut dem Arbeitsgericht Emden nicht widerlegen. Damit wären die Arbeitgeber gezwungen, ein entsprechendes System umzusetzen.

BAG: Keine Auswirkungen der EuGH-Entscheidung auf Darlegungs- und Beweislast

Der letzten Entscheidung des Arbeitsgericht Emden trat das Landgericht Niedersachsen im Mai 2021 entgegen. Es stellte fest, dass die EuGH-Entscheidung keine Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess hat.

Diese Entscheidung war nun Gegenstand der am 4. Mai. 2022 vom BAG getroffenen Entscheidung, in der das BAG die Ansicht des Landgerichts Niedersachsen bestätigt.

Laut BAG ist es von entscheidender Bedeutung, zwischen Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen und im arbeitsschutzrechtlichen Sinne zu unterscheiden. Im Überstundenprozess wird die Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinne relevant. Die EuGH-Entscheidung und die Arbeitszeitrichtlinie nehmen jedoch auf Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne Bezug. Für den vergütungsrechtlichen Arbeitszeitbegriff hat die Europäische Union dagegen schon keine Gesetzgebungskompetenz. Daher können sich auch keine direkten Auswirkungen aus der EuGH-Entscheidung auf den vergütungsrechtlichen Arbeitszeitbegriff ergeben. Es gelten daher weiter die nationalen Grundsätze zur Darlegungs- und Beweislast für Überstundenvergütungsprozesse.

Weiter enthält das EuGH-Urteil explizit einen Gestaltungsspielraum für den Gesetzgeber. Damit stellt der EuGH nur Rahmenkriterien auf und möchte keine konkrete Vorgabe für Unternehmen etablieren. Hiervon unabhängig ist die Frage, ob der Arbeitgeber aus der EuGH-Entscheidung heraus arbeitsschutzrechtlich verpflichtet ist, ein entsprechendes Arbeitszeiterfassungssystem einzurichten. Dies war vorliegend jedoch nicht Gegenstand der Entscheidung. Das BAG äußert sich hierzu nicht.

Bedeutung und Auswirkungen auf die Praxis

Auch wenn das Urteil des EuGH, nun durch das BAG bestätigt, keinerlei Auswirkungen auf den Überstundenprozess entfaltet, so bleibt weiterhin fragwürdig, ob der Arbeitgeber nicht dennoch zur Errichtung eines Arbeitszeiterfassungssystem verpflichtet ist und ein Betriebsrat die Einführung eventuell verlangen kann.

Weiter ist in absehbarer Zeit zu erwarten, dass der Gesetzgeber in dieser Richtung tätig wird und die gesetzliche Grundlage entsprechend anpasst. Daher sollten Arbeitgeber schon jetzt eine Überprüfung ihrer Arbeitszeiterfassungssysteme vornehmen. Wie ein entsprechendes System ausgestaltet sein muss, lässt sich der Entscheidung leider nicht entnehmen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass mindestens Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, die Pausenzeiten, die wöchentliche Arbeitszeit und deren Verteilung auf die einzelnen Arbeitstage erfasst werden muss.

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Kira Falter, Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kira Falter

Kira Falter ist Partnerin und Rechtsanwältin bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS Deutschland. Sie berät nationale und internationale Unternehmen im Individual- und Kollektivarbeitsrecht.
Paula Wernecke, Rechtsanwältin bei CMS

Paula Wernecke

Paula Wernecke ist Rechtsanwältin bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS Deutschland. Ihr Tätigkeitsschwerpunkt liegt im Arbeitsrecht.

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