Lohnfortzahlung nur bei Offenlegung aller Erkrankungen

Arbeitsunfähigkeit

Der gesetzliche Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist grundsätzlich auf sechs Wochen begrenzt. Wird der Mitarbeitende nach Ausschöpfung des Sechs-Wochen-Zeitraums infolge derselben Krankheit erneut arbeitsunfähig, muss das Unternehmen nur dann Entgeltfortzahlung leisten, wenn der Mitarbeitende vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war (§ 3 Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 Entgeltfortzahlungsgesetz) oder seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit mehr als zwölf Monate verstrichen sind (Nummer 2).

Vor Ablauf dieser Fristen entsteht ein neuer Entgeltfortzahlungsanspruch somit lediglich dann, wenn eine neue „Ersterkrankung“ vorliegt. Dabei ist es eine weit verbreitete Annahme, dass eine ärztliche Erstbescheinigung als Nachweis hierfür genügt. Ein Irrtum, wie ein aktuelles Urteil des Bundesarbeitsgerichts zeigt.

Sachverhalt

Ein Angestellter wies im Jahr 2020 erhebliche krankheitsbedingte Fehlzeiten auf. Wie gesetzlich vorgeschrieben, leistete die Arbeitgeberin für die ersten sechs Wochen Entgeltfortzahlung (bis einschließlich 13. August). Nach vorübergehender Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit fehlte der Angestellte in der Zeit vom 18. August 2020 bis zum 23. September 2020 an weiteren zehn Arbeitstagen erneut krankheitsbedingt. Für seine weiteren Fehltage legte der Angestellte mehrere ärztliche „Erstbescheinigungen“ vor und teilte der Arbeitgeberin mit, welche Diagnoseschlüssel (sogenannte ICD-10-Codes) mit welchen korrespondierenden Diagnosen oder Symptomen in den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen jeweils aufgeführt gewesen seien. Dennoch lehnte die Arbeitgeberin eine weitere Entgeltfortzahlung ab. Sie stellte sich auf den Standpunkt, dass der Arbeitnehmer die einzelnen zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankungen der vorherigen zwölf Monate ihr gegenüber vollständig offenlegen müsse, damit sie klären könne, ob tatsächlich neue Ersterkrankungen vorgelegen hätten. Der Kläger lehnte dies ab und erhob Klage auf Entgeltfortzahlung, der vom Arbeitsgericht noch stattgegeben wurde. Das Landesarbeitsgericht hingegen wies die Klage auf die Berufung hin ab.

Entscheidung

Mit Urteil vom 18. Januar 2023 (Aktenzeichen: 5 AZR 93/22) hat auch das Bundesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung führte das Bundesarbeitsgericht aus, dass eine abgestufte Darlegungslast gelte, wenn der Mitarbeitende innerhalb der Zeiträume des § 3 Absatz 1 Satz 2 Entgeltfortzahlungsgesetz länger als sechs Wochen arbeitsunfähig ist. Mit der Vorlage der neuen ärztlichen Erstbescheinigungen und der Mitteilung der Diagnosecodes habe der Kläger seine Darlegungslast nicht erfüllt.

Bestreitet das Unternehmen das Vorliegen einer neuen Ersterkrankung, müsse der Mitarbeitende vielmehr (zusätzliche) Tatsachen darlegen, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden. Hierfür sei eine ärztliche Erstbescheinigung über eine Arbeitsunfähigkeit nicht mehr ausreichend. Auch die Mitteilung der Diagnoseschlüssel genüge nicht. Denn eine sogenannte Fortsetzungserkrankung könne nicht nur bei einem identischen Krankheitsbild vorliegen, sondern ebenso, wenn die Krankheitssymptome auf demselben Grundleiden beruhen. Ohne einen konkreten Vortrag des Mitarbeitenden dazu, welche gesundheitlichen Einschränkungen und Beschwerden bestanden, lasse sich deshalb nicht beurteilen, ob eine Fortsetzungserkrankung in Betracht kommt.

Konkret hätte der Kläger daher, bezogen auf den gesamten relevanten Zeitraum von zwölf Monaten, schildern müssen, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beschwerden mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben, und er hätte die behandelnden Ärzte zudem von der Schweigepflicht entbinden müssen.

Dass der hiernach erforderliche Vortrag des Mitarbeitenden im Regelfall mit der Offenlegung der einzelnen zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankungen verbunden ist, sah das Bundesarbeitsgericht als zumutbar an. Auch die verfassungs- und datenschutzrechtlichen Einwände des Klägers ließ das Gericht nicht durchgreifen.

Praxisfolgen

In der betrieblichen Praxis kommt es nicht selten vor, dass sich Beschäftigte immer wieder arbeitsunfähig melden und ständig neue ärztliche Erstbescheinigungen einreichen. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) hilft in einer solchen Situation meist nicht weiter. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zeigt, dass Arbeitgebende dennoch nicht machtlos sind und die Angabe „Erstbescheinigung“ auf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durchaus hinterfragen dürfen. Hat das Unternehmen bereits sechs Wochen Entgeltfortzahlung geleistet und bestehen Zweifel an einer neuen Ersterkrankung, kann und sollte der Mitarbeitende dazu aufgefordert werden, die einzelnen zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankungen in dem relevanten Zeitraum offenzulegen. Ist der Mitarbeitende dazu nicht oder nicht vollständig bereit, wird das Unternehmen die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall künftig einstellen können.

 

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Marius Bodenstedt, Revhtsanwalt

Marius Bodenstedt

Wirtschaftskanzlei GvW Graf von Westphalen
Marius Bodenstedt ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht in der Wirtschaftskanzlei GvW Graf von Westphalen. Er begleitet Unternehmen sowie Körperschaften des öffentlichen Rechts in allen Fragen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts.

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