Massenentlassungen: Grenzen des individuellen Schutzes

Kündigungsschutzgesetz

Der beklagte Insolvenzverwalter legte den Betrieb der Insolvenzschuldnerin vollständig still. Nach Durchführung des Konsultationsverfahrens (§ 17 Absatz 2 Kündigungsschutzgesetz) und Erstattung einer Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit kündigte er allen Arbeitnehmenden. Seinen Pflichten zur schriftlichen Unterrichtung des Betriebsrates im Rahmen des Konsultationsverfahrens war der Beklagte nachgekommen, hatte aber der Agentur für Arbeit keine Abschrift dieses Unterrichtungsschreibens zugeleitet, wie dies vorgeschrieben ist – § 17 Absatz 3 Kündigungsschutzgesetz und in der Massenentlassungsrichtlinie (Richtlinie 98/59/EG). Deshalb meinte der gekündigte Kläger, die ihm ausgesprochene Kündigung sei unwirksam. Demgegenüber war der Beklagte der Ansicht, diese Unterrichtung der Agentur für Arbeit habe nicht den Zweck, die von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmenden zu schützen oder gar deren Entlassung zu vermeiden. Es gehe lediglich darum, die Agentur für Arbeit über die geplanten Entlassungen zu informieren. Ein Entlassungsschutz sei damit schon deshalb nicht verbunden, da die Agentur der Unterrichtung nicht entnehmen könne, welche Möglichkeiten zur Vermeidung geplanter Kündigungen aus Betriebsratssicht gegeben seien; auch habe die Unterrichtung der Agentur keinen Einfluss auf das Konsultationsverfahren zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat.

Die Klage war in erster und zweiter Instanz erfolglos. Das Bundesarbeitsgericht legte den Rechtsstreit dem Europäischen Gerichtshof vor und fragte an, ob dieser Verstoß gegen § 17 Absatz 3 Kündigungsschutzgesetz zur Nichtigkeit der Kündigung führen könne. Werde mit dieser Unterrichtungspflicht gegenüber der Agentur für Arbeit der Zweck verfolgt, jedem von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmenden auch individuellen Schutz zu gewähren, könne § 17 Absatz 3 Kündigungsschutzgesetz als Verbotsgesetz im Sinne von § 134 Bürgerliches Gesetzbuch angesehen werden und eine Kündigung unwirksam sein.

Der Europäische Gerichtshof hat diesen Individualschutz verneint (Urteil vom 13.07.2023 – C-134/22).

Begründung des Europäischen Gerichtshofs

Aus dem Wortlaut des § 17 Absatz 3 Kündigungsschutzgesetz zugrundeliegenden Artikels 2 der Massenentlassungsrichtlinie ergeben sich keine Anhaltspunkte, die den Zweck dieser Richtlinienvorschrift erkennen lassen. Daher untersuchte der Europäische Gerichtshof den Zusammenhang, den die Vorschrift innerhalb der Massenentlassungsrichtlinie hat. Sie stehe im Kapitel „Information und Konsultation“, das sich auf das Stadium bezieht, in dem ein Arbeitgeber eine Massenentlassung beabsichtigt. Damit begännen die mit den Vertretern der Arbeitnehmenden zu führenden Konsultationen erst. Die hierzu von Arbeitgebern zu erteilenden Informationen müssten nicht unbedingt bei Eröffnung der Konsultation erteilt werden, vielmehr handele es sich bei der Konsultation um ein flexibel zu handhabendes Verfahren, bis zu dessen Abschluss alle einschlägigen, auch sich zwischenzeitlich ergebenden neuen Informationen erteilt werden müssen. Hieraus zieht der Europäische Gerichtshof hinsichtlich der Pflicht zur Übermittlung der Unterrichtung auch an die zuständige Behörde [in Deutschland die Agentur für Arbeit] den Rückschluss, dass dies der zuständigen Behörde nur ermöglichen solle, sich einen Überblick zu verschaffen

  • über die Entlassungsgründe,
  • Zahl und Kategorien der zu Entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,
  • den Entlassungszeitraum
  • und die Kriterien für die Auswahl der zu Entlassenden.

Daher könne die Behörde nicht vollständig auf die übermittelten Informationen vertrauen, um die in ihre Zuständigkeiten fallenden Maßnahmen bei einer Massenentlassung vorzubereiten. Auch weise die Massenentlassungsrichtlinie der Behörde keine aktive Rolle im Konsultationsverfahren zu. Anders als die (spätere) Massenentlassungsanzeige selbst, die Fristen in Gang setze und die Behörde verpflichte, diene die (vorherige) Unterrichtung nur zur Information und Vorbereitung der Behörde. So könne diese mögliche negative Folgen beabsichtigter Massenentlassungen abschätzen und nach Anzeige der Entlassungen effizient nach Lösungen suchen. In diesem Verfahrensstadium von Massenentlassungen solle sich die Behörde nicht mit der individuellen Situation jedes Arbeitnehmenden befassen, sondern die beabsichtigten Massenentlassungen allgemein betrachten. Schließlich zeige auch die Entstehungsgeschichte von Artikel 2 Absatz 3 Unterabsatz 2 der Massenentlassungsrichtlinie, dass die Information der Behörde für sinnvoll erachtet worden war. Denn so erhält diese unverzüglich Kenntnis über möglicherweise entscheidende Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt und kann sich auf erforderliche Maßnahmen vorbereiten.

Praxisfolgen

Das Bundesarbeitsgericht hatte in den letzten Jahren immer häufiger entschieden, dass Verstöße von Arbeitgebern gegen sie treffende Pflichten bei Massenentlassungen zur Unwirksamkeit von Kündigungen führen. Massenentlassungen erscheinen daher vielfach als schwierig bis unberechenbar. Dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist aus Arbeitgebersicht insoweit erfreulich, als es zeigt, dass nicht jeder Formalismus zur Unwirksamkeit von Kündigungen bei Massenentlassungen führt. Man wird davon ausgehen dürfen, dass das Bundesarbeitsgericht sich dem Urteil anschließt. Ob das aber dazu führen wird, dass das Bundesarbeitsgericht seine immer strenger gewordene Rechtsprechung zu Massenentlassungen abmildert, bleibt bestenfalls abzuwarten. Einstweilen besteht das Minenfeld Massenentlassungen fort: Überall dort, wo eine Pflicht im Massenentlassungsverfahren auch dem individuellen Schutz betroffener Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dient, dürfte bei Verstößen gegen solche Pflichten das Risiko unwirksamer Kündigungen fortbestehen. Arbeitgeber sind daher gut beraten, die bisher ergangene Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu Massenentlassungen weiter zu beachten. Das gilt ganz besonders für das Konsultationsverfahren.

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Axel J Klasen, Foto: Privat

Axel J. Klasen

Axel J. Klasen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei GvW Graf von Westphalen.

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